E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Weiler Drachensaat
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-31357-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
            ISBN: 978-3-641-31357-9 
            Verlag: Heyne
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fünf Menschen, in deren Leben irgendwann mal was richtig schiefgegangen ist. Fünf ganz normale Verrückte und ihr ehrgeiziger Arzt. Dem die Behandlung langsam aus dem Ruder läuft. Bis die fünf eines Tages ausbrechen und sich an der Gesellschaft rächen ...
Autoren/Hrsg.
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1. Mein triumphaler Einzug ins Haus Unruh
Die meisten Menschen würden sagen, man hört es nicht. Sie glauben, es ginge einfach zu schnell. Man setzt die Mündung an seine Schläfe, drückt ab, und dann dauert es nicht einmal eine tausendstel Sekunde, bis das Projektil im Schädel ankommt. Der Schall dringt langsamer ins Ohr als die Kugel in den Kopf. Und danach ist ja sowieso Ruhe. Mag sein, dass das Trommelfell platzt, aber gleichzeitig fliegt das Hirn durchs Zimmer. Du wirst ganz sicher nicht mehr zum Ohrenarzt gehen. Jedenfalls sind die meisten Leute der Ansicht, man könne den Knall nicht hören. Das stimmt aber nicht. Ich habe ihn gehört.
Nun können Sie natürlich mit einigem Recht behaupten, dass ich, wenn ich den Schuss gehört habe und sogar noch davon erzählen kann, auch nicht tot bin. Das ist richtig. Zwar drang die Kugel in meinen Kopf ein, aber eben nicht so, wie sie hätte eindringen sollen. Sie flog haarscharf am Hirn vorbei. Eigentlich hat sie bloß das Stirnbein gestreift und den Knochen zertrümmert. Bleibende Schäden sind nicht entstanden, wenn man einmal davon absieht, dass ich wegen eines von dem Schuss verursachten Knalltraumas auf dem rechten Ohr nichts mehr höre außer einem Tinnitus. In meinem Kopf rauscht es, ich bin so eine Art Mensch gewordener Niagarafall. Die Ärzte waren der Meinung, dass mein Gemüt gelitten habe, doch die kannten mich vorher nicht, die können das nicht beurteilen. Aber sagen Sie so etwas mal einem Arzt. Er wird gleich beleidigt sein, und Ihre Beurteilung fällt schlechter aus. Solange man bloß in der Sprechstunde eines Urologen sitzt, ist das nicht so schlimm, aber wenn Sie darum kämpfen, aus einer Landesklinik entlassen zu werden, würde ich Ihnen empfehlen, nicht zu widersprechen, wenn Ihr Therapeut Vermutungen über Sie anstellt.
Ich hätte mir die Geschichte, die nach dem Knall passiert ist, erspart, wäre ich beim Abdrücken aufmerksamer gewesen. Im Grunde genommen hätte ich mir schon diesen blamablen Kopfschuss ersparen können, wenn ich vorher mein Leben nicht versaut hätte. Dann wäre es gar nicht zu dieser peinlichen Vorstellung gekommen, und ich würde vielleicht wie Sie gemütlich auf der Couch sitzen und ein Buch lesen.
Nichts hat auf eine derart vermurkste Biographie hingedeutet, als ich zwanzig Jahre alt war. Ich stand damals, vor über dreißig Jahren, noch ziemlich am Anfang eines soliden Lebenslaufes. Stellen Sie sich einen unauffälligen Zwanzigjährigen vor, der gerade seinen Wehrdienst beendet hat. Ich trug Ende der siebziger Jahre die Haare nicht mehr lang und auch keine Parkas oder Latzhosen, sondern eine pflegeleichte Kurzhaarfrisur, Cordhosen und in der Regel ein gebügeltes Hemd. Das betone ich bloß deswegen, weil ich nicht will, dass Sie mich für einen Ausgeflippten oder so etwas halten. Das kam alles erst viel später.
1979 war das Bemerkenswerteste an mir ein Schnurrbartversuch, den ich mangels Fülle nach drei Monaten abbrach, sowie die Tatsache, dass ich noch Jungfrau war. Mir machte das nichts aus, ich war auch nicht schüchtern oder hässlich. Es hatte sich bloß bis dahin nichts ergeben. Ich dachte damals nicht darüber nach und erwähne es jetzt auch nur, weil Doktor Zens mich danach fragte. Für Psychologen sind das wichtige Fragen – oder sie sind einfach nur genauso neugierig wie jeder andere Mensch. Ich war jedenfalls nicht gerade ein Don Juan. Wenn ich heute noch Fotos von damals hätte – ich habe keine, es ist alles weg –, würde ich mich wohl über den jungen Bernhard amüsieren. Kleiner, dürrer Bernhard Schade mit Schnurrbärtchen und Pullunder.
Immerhin: Mein Leben lang bekam ich Komplimente für meine langen schmalen Finger. Damals wusste ich nicht, wohin damit. Außer wenn ich zeichnete. Schon als kleiner Junge malte ich vor allem Häuser, das beruhigte mich. Häuser ließen mich an sich heran, meine Zeichnungen von ihnen sahen immer genau so aus, wie ich sie mir vorstellte. Menschen oder Tiere konnte ich nicht. Da geht es mir wie allen Untalentierten. Wir zeichnen Tiere gerne in Seitenansicht, weil wir uns einbilden, dass man sie dann besser erkennt. Doch ein Pferd sieht bei uns nicht viel anders aus als eine Katze oder ein Hund. Wir sehen vor unserem geistigen Auge eine wundervolle Blume, doch wenn wir sie malen, kommt niemals das Bild dabei heraus, das wir im Kopf haben. So tief unsere Empfindung für die Blume auch sein mag, wir bekommen sie nicht aufs Papier. Als Kind brachte mich das zur Verzweiflung.
Ich zerriss Dutzende von misslungenen Rosen, bis ich einmal, gelangweilt von meinen Wutausbrüchen, begann, kleine Fenster in einen Stängel zu zeichnen, dann aus den Blättern ein Dach machte und auf die Blüte einen Schornstein und eine Antenne setzte. Ganz unten fügte ich eine Haustür hinzu und einen Briefkasten. Auf den schrieb ich: «Bernhard Schade». Mein erstes Haus. Ich bewahrte diese Zeichnung sehr lange auf, zuletzt hing sie gerahmt in meinem Büro. Meine Frau hat das Bild zerstört.
Für mich stand jedenfalls früh fest, dass ich mein Leben lang Häuser zeichnen würde. Also wurde ich Architekt. Mit zwanzig Jahren begann ich zu studieren, mit dreißig hatte ich ein eigenes Büro, fünf Jahre später 18 Mitarbeiter. Ich hatte großen Erfolg, den ich aber nicht meinem kreativen Talent oder einer Ader zur Geschäftstüchtigkeit verdankte, sondern allein meinem Sohn, denn der kam mit einer Behinderung zur Welt. Ohne Udos Handicap wäre ich nicht zu einem von Deutschlands führenden Architekten in meinem Bereich geworden.
Bis hierhin klingt das womöglich ganz alltäglich, und im Rückblick habe ich eher positive Erinnerungen an die erste Hälfte meines Lebens, aber genau dort fing im Grunde genommen das ganze Elend an. Mit 22 Jahren lernte ich Ariane kennen. Sie studierte ebenfalls Architektur und war die erste Frau, mit der ich schlief. Das habe ich vor ihr nie zugegeben, weil es mir peinlich war. Jedenfalls war sie meine einzige echte Liebe und nach unserer ersten Nacht prompt schwanger. Wir heirateten drei Monate später.
Udo kam im Dezember 1981 auf die Welt, am 12., einem Samstag. Er und ich hatten von Anfang an eine nicht ganz unproblematische Beziehung. Man könnte es auch anders ausdrücken: Ich war nicht der Vater, den er verdient gehabt hätte, und er war nicht der Sohn, den ich mir gewünscht habe.
Es war gar nicht so, dass ich meinen Sohn nicht mochte, ich konnte nur überhaupt nichts mit ihm anfangen. Das lag daran, dass Udo mit Trisomie 21, dem Downsyndrom, geboren wurde. Ich ahne, dass Sie beim Lesen nun einen schlechten Eindruck von mir bekommen, das ist bedauerlich, und ich entschuldige mich jetzt schon dafür. Aber ich habe nun einmal vor, ganz ehrlich zu sein, gerade weil es das erste Mal in meinem Leben sein könnte. Ich nehme diese Gelegenheit zur Ehrlichkeit auch deshalb wahr, weil ich damit etliche Falschmeldungen korrigieren kann. Es hat so viel Blödsinn über mich in der Zeitung gestanden.
Ich belog Ariane jedenfalls nicht nur in puncto meiner erotischen Erfahrung, sondern auch, was mein Verhältnis zu Udo anging. Natürlich wollte ich unseren Sohn vorbehaltlos und genau so lieben, wie er war, aber das konnte ich nicht. Vielleicht war ich einfach von mir selber enttäuscht. Mein Samen hatte nur ein einziges Kind gezeugt, und das war behindert. Ich hatte und habe nichts gegen Behinderte. Aber vor die Wahl gestellt, hätte ich lieber einen gesunden Jungen gehabt, so einfach ist das. Alle Träume, die ich in das Ungeborene projiziert hatte, erschienen angesichts dieses Jungen als hoffnungslose Spinnereien. Meine Wünsche und Sehnsüchte kamen mir so vermessen vor und das Ergebnis meiner ersten Liebesnacht wie eine Strafe. Entschuldigung, ich finde mich ja selber zum Kotzen. Aber ich war damals noch jung.
Bald nach Udos Geburt begann ich Ariane zu betrügen. Vielleicht musste ich etwas nachholen, möglich, dass ich mich an ihr rächen wollte oder dachte, irgendwas an der Menschheit wiedergutmachen zu müssen. Kann auch sein, dass ich einfach nicht zu Hause sein wollte bei ihr und unserem Sohn. Es wird von allem etwas gewesen sein.
Der Therapeut im Haus Unruh hat an solchen Stellen immer genickt. Ich habe ihn gefragt, was er mit dem Nicken meinte, denn es ist ja interpretierbar, so ein Nicken. Er hat dann gesagt: «Das Nicken dient der positiven Verstärkung. Damit möchte ich Sie ermuntern weiterzuerzählen, weil es gut für Sie ist.» Er hat gelogen. Heute denke ich, er nickte, weil er genau wusste, was ich meine. Es gibt diesen postnatalen Verpisserdrang bei vielen Männern. Auch wenn man nicht von sich auf andere schließen sollte, so glaube ich doch, dass der Doktor das verstanden hat.
Die Jahre von Udos Kindheit verliefen einigermaßen normal, wenn man davon absieht, dass wir ständig bedauert oder gemieden wurden. Oder beides gleichzeitig. So ist das nun einmal mit einem behinderten Kind, da braucht man sich nichts vorzumachen. Natürlich fragen die Nachbarn teilnahmsvoll. Aber sie glotzen auch. Und sie laden einen nicht ein, weil sie fürchten, man könnte sein Kind mitbringen.
Immerhin genoss einer von uns sein Leben, und das war Udo. Ich war sicher kein Mustervater, aber manchmal unternahmen wir was. Es ging dann auf den Spielplatz oder in den Park, auf jeden Fall blieben wir an der frischen Luft, weil es in Kinos oder Restaurants jedes Mal zu Zwischenfällen kam. Udo konnte nicht stillsitzen und flippte in Zeichentrickfilmen vor Freude derart aus, dass wir einmal bereits nach einer Viertelstunde gebeten wurden, den Saal zu verlassen. Das ist ungerecht und gemein, aber ich hatte Verständnis dafür. Ich habe mich oft geschämt, wenn ich die anderen Leute besser verstand als meinen Sohn, und war eigentlich nie loyal ihm gegenüber. Manchmal habe ich ihn sogar verleugnet. Das...




