E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Weinert-Wilton Der betende Baum
Ungekürzte Ausgabe nach der Erstausgabe von 1932
ISBN: 978-3-946554-05-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Reihe: Crime Classics: Weinert-Wilton
ISBN: 978-3-946554-05-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Louis Weinert-Wilton ist ein Pseudonym von Alois Weinert (* 11. Mai 1875 in Weseritz/Bedruzice oder Tepl/Teplá; ? 5. September 1945 in Prag). Er war Redakteur, Dramatiker und kaufmännischer Leiter eines Prager Theaters. Zwischen 1929 und 1939 schrieb er elf Kriminalromane, mit denen er seinen Ruf als deutscher Edgar Wallace und Klassiker dieses Genres begründet hat. Seine spannungsreichen Whodunnit-Krimis haben hohe Auflagen erzielt und wurden in den sechziger Jahren verfilmt. Weinert-Wilton starb 1945 in einem tschechischen Konzentrationslager.
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2
Mike war kein Mann der Furcht, aber als er im ersten Morgenlichte durch die nassen Wiesen eilig gegen Morleys Drift schlürfte, hatte er doch das Bedürfnis, das kalte Gefühl im Rücken durch eine kernige Zwiesprache mit dem gewissen Etwas loszuwerden.
„Wenn du nicht schon krepiert bist und wenn du noch ein bißchen Grütze in deinem platten Schädel hast“, sagte er drohend und schielte dabei nach dem löchrigen Weidenkorb, den er mit der Linken vorsichtig auf dem dicken Ende seiner krummen Angelrute balancierte, „so machst du keine dummen Geschichten. Da ich dich einmal habe, nützt es dir ja doch nichts. Ich weiß, wie man mit deiner Sippe umzugehen hat. So ein kleiner Hieb“ – er ließ die schmiegsame Gerte, mit der seine Rechte bewehrt war, kräftig durch die Luft pfeifen – „und dein verdammter Rachen liegt eine Meile von deinem Schwanz.“
Der lange Mike tat ungemein tapfer, aber als die Häuser von Morleys Drift aus dem Morgennebel tauchten, fühlte er sich doch sehr erleichtert.
Es waren vier alte einstöckige Bauten, die einander wie ein Ei dem andern glichen und, nur durch mannshohe Hecken abgetrennt, im Halbkreis um den Wiesengrund standen. Als die Morleys noch zahlreicher waren und zur angesehensten Gentry der Grafschaft zählten, hatten sie sich hier in patriarchalischem Zusammenhalte um das düstere Stammhaus angesiedelt, das etwas größer und massiger von dem sanft ansteigenden Hang herunterblickte; aber außer den verwitterten Mauern war von dieser Blütezeit des Geschlechtes wenig übriggeblieben.
Heute war Derrick Morley mit seinen vierunddreißig Jahren der Letzte seines Namens, und es sah nicht so aus, als ob er diesen noch einmal zu Glanz und Ehren bringen würde. Er hatte vielmehr einen ziemlich üblen Ruf, und die rundliche Mrs. Barbara Morley wußte von ihm Schauergeschichten zu berichten. Sie war zwar eigentlich seine Tante, aber erstens paßte ihr dieser Verwandtschaftsgrad nicht, und zweitens hatte sie bloß in die Familie hineingeheiratet und durfte daher wohl entrüstet sein, daß es da neuerlich ein so schwarzes Schaf gab.
Schon an dem alten James, den man vor einer Woche eingesargt hatte, war nichts Gutes gewesen, aber sein Neffe hatte offenbar ein noch tückischeres Gemüt. Seitdem Mrs. Bab einmal mit eigenen Ohren gehört hatte, wie er seinem ebenso nichtsnutzigen Faktotum Mike grinsend erzählte, daß man bei irgendwelchen Wilden schwatzhaften Weibern dicke Holzpflöcke durch die Lippen treibe, was man in England leider nicht dürfe, traute sie ihm jede Schandtat zu.
Schließlich war es ja gewiß auffallend, daß in Morleys Drift plötzlich so geheimnisvolle Dinge vorgingen, seitdem er vor einigen Monaten wieder hier aufgetaucht war. Bis man dann eines Morgens den alten James kalt und starr unter dem betenden Baum aufgefunden hatte.
„Zweiundachtzig Jahre …“, hatten der Arzt und die andern einfältigen Leute mit einem abtuenden Achselzucken gemeint, aber Mrs. Barbaras rege Phantasie gab sich mit dieser harmlosen Erklärung nicht zufrieden. Sie hatte schon längst das Gefühl, daß etwas in der Luft lag und paßte mit ihren großen braunen Augen und ihren scharfen Ohren auf; bei Tag und sogar auch bei Nacht.
Als Mike aufgeregt über die Wiesen gestolpert kam, wirtschaftete die lebhafte Waliserin bereits eifrig im Nebenhause herum. Miß Tallmadge mußte zeitlich ihr Frühstück haben, da sie immer schon kurz nach acht Uhr nach London fuhr, und dann pflegte auch der nette Mr. Macgregor, mit dem es sich so verständig plaudern ließ, am Morgen in seinem Gärtchen zu sitzen.
Mrs. Bab beeilte sich, um von diesem gemütlichen Stündchen nichts zu versäumen, aber was Mike heute wieder mitgebracht hatte, mußte sie doch wissen. Er ging immer bei Morgengrauen angeln, und Fische aß sie für ihr Leben gern, besonders wenn sie nichts kosteten, aber noch nie war es diesem Vagabunden eingefallen, ihr einen anzubieten.
Sie machte sich rasch bei einem Fenster des Oberstockes zu schaffen, von wo man haargenau alles sehen konnte, was nebenan hinter der Hecke vorging, aber Mike trieb es heute ganz sonderbar, bevor er seine Beute sehen ließ. Er setzte den am Stockende baumelnden Korb vorsichtig auf die Bank, schnellte mit seinen langen Beinen rasch einige Schritte zurück und begann sofort wieder kriegerisch mit der Weidengerte herum zu fuchteln.
Derrick Morley, der eben unter die Tür trat, musterte ihn mißtrauisch.
„Mir scheint, du hast bereits am frühen Morgen etwas zuviel hinter die Binde gegossen“, sagte er scharf. „Wenn du mir damit anfängst …“
In dem dunklen Gesicht stand nichts Gutes, aber zum ersten Male kümmerte sich Mike wenig darum. Wenn sein Herr sehen würde, was er mitgebracht hatte, würde es ihm gewiß auch gehörig in die Glieder fahren …
Als es so weit war, stieß Derrick Morley wirklich mit einem jähen Ruck den Kopf vor und starrte aus halbgeschlossenen Lidern auf den Boden des Korbes.
Die Viper, die da mit bösartigem Züngeln angriffsbereit aufgereckt lag, hatte die helle Farbe frischen Grüns, aber alles an ihr war von so unnatürlicher Starre, daß man eine kunstvolle Nachbildung vor sich zu haben glaubte.
Morley wußte auf den ersten Blick, was er von dieser Sache zu halten hatte, und er brauchte eine geraume Weile, um damit fertig zu werden. Sein scharf geschnittenes Abenteurergesicht war um einen Ton fahler als sonst, und seine starken Zähne nagten krampfhaft an der Unterlippe.
Endlich zog er die geballten Hände aus den Taschen seiner breiten leinenen Beinkleider und zündete sich eine Zigarette an.
„Wo hast du das aufgestöbert?“ fragte er, und der schlottrige Mike deutete mit seiner Gerte wichtig nach dem Hange von Morleys Hall.
Dort hob sich ein mächtiger Baumstamm gegen den Himmel ab, die breit verästelte, wetterzerzauste Krone aber neigte sich über das Stammhaus der Morleys und Morleys Drift hinweg gegen den Turm der alten Gotenkirche jenseits der Wiesen.
„Beim betenden Baum, Sir. Das Biest hing am untersten Ast gerade über dem Wege zum Haus, und ich wäre beinahe mit der Nase daran gestoßen.“ Er spuckte unbehaglich aus und beäugte dann die völlig reglose Spirale nochmals mit lebhaftem Mißtrauen.
„Glauben Sie, daß das Vieh noch lebt, Sir? Jedenfalls möchte ich ihm der Sicherheit halber noch eine Flintenladung in den Schädel geben. Dann wird man ja sehen.“
Sein Herr schien den Vorschlag überhört zu haben. Er stand mit abgewandtern Gesicht, und seine Augen hingen mit einem seltsamen Ausdrucke an dem wuchtigen Baum auf der Höhe.
Mrs. Bab auf ihrem Beobachtungsposten war zwar bisher aus dem, was unten vorging, nicht klug geworden, aber nun bemerkte sie diesen Blick und fühlte mit großer Genugtuung, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief.
Plötzlich fuhr Derrick herum, und Mike vernahm jenen Tonfall, bei dem selbst jedes Zucken mit der Wimper gefährlich werden konnte.
„Du wirst das Zeug sofort einscharren“, befahl sein Herr kurz. „So, wie es ist, mitsamt dem Korbe. Und wenn du auch nur ein Wort von der Geschichte herumplauderst, so drehe ich dir die Zunge aus dem Halse.“
Mike machte sich schleunigst davon, und eine Viertelstunde später stampfte er den Boden über dem drei Fuß tiefen Loche wieder fest, in das er den verdammten grünen Wurm befördert hatte.
Mrs. Barbara pflegte sonst an dieser Hecke nie zu einem Plausch zu erscheinen, aber heute hielt es sie nicht. Sie hob ihre etwas üppige Gestalt in dem prall sitzenden Kleid auf die Zehenspitzen, und die runden Kinderaugen in ihrem noch immer recht hübschen Gesicht strahlten vor Freundlichkeit.
„Guten Morgen, Mr. Mike“, sagte sie, und steuerte geradeswegs auf ihr Ziel los. „Was ist denn das heute mit Ihren Fischen? Warum haben Sie sie eingegraben? Jetzt am Morgen und bei dem kurzen Wege können sie doch nicht schon gerochen haben?“
Bevor Mike auf diese Gewissensfrage Rede und Antwort stand, wälzte er vorsichtshalber rasch noch einen schweren Holzklotz auf den kahlen Fleck, der sich von dem üppigen Rasen abhob. Er war sich der Auszeichnung bewußt, die diese Ansprache für ihn bedeutete, und sie kam ihm gar nicht so ungelegen. Mrs. Barbara plätscherte ihm zuviel in seinem Fischwasser herum und vergrämte ihm die Prachtstücke, die dort standen. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, und seinem Herrn durfte er damit nicht kommen.
„Nein“, erklärte er höflich, „gerochen haben sie noch nicht. Überhaupt waren es nicht mehrere, sondern nur ein einziger. Aber der war gut seine zwei Yard lang; kaum daß er in den Korb hineingegangen ist. Nur war leider nicht viel daran. Dreiviertel von dem komischen Luder ging auf den Schädel mit solchen Zähnen“ – der gründliche Mann deutete die Größe an seinem ausgiebigen Zeigefinger an – „und das andere war grätiger Schwanz. So etwas ist nichts für die Pfanne.“
Er wischte sich bedauernd den breiten Mund, der tief zwischen der vorspringenden Hakennase und dem aufwärtsstrebenden kleinen Kinn lag, und Mrs. Barbara wußte sich vor Staunen und einer gewissen Unruhe nicht zu fassen.
„Was war das für ein Fisch?" fragte sie hastig.
Mike zog die zwölf strohgelben Borsten hoch, die aus der kupfrig glänzenden Haut oberhalb seiner Augen starrten.
„Wahrscheinlich ein Bastard von einem Haifisch und einem Seehecht", mutmaßte er sachkundig. „So etwas kommt vor, und dann gibt es einen leibhaftigen Teufel. Der Bursche, den ich heute gefangen habe, war noch das reinste Wickelkind, aber wenn er mich bei der Wade zu fassen bekommen hätte, wäre sie mit einem kleinen Schnapper weggewesen. Das will ja bei mir nicht viel heißen“, fügte er bescheiden hinzu, „aber auch...




