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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Limbus Ebook

Weingartner Geisterroman

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-99039-086-3
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Limbus Ebook

ISBN: 978-3-99039-086-3
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Klara reist mit dem Zug nach Prag, wo sie ihre verstorbene Schwester abholen soll, und hätte mit ihrer Familiengeschichte und ihrer gescheiterten Ehe genug nachzudenken, ihr Sitznachbar ist zudem Kafka-Forscher. Da bleibt der Zug im Schneesturm stecken und vermischt sich sonderbarerweise mit jenem Zug, in dem sich Franz Kafka und Otto Gross - Freud-Schüler und skandalumwobener Psychoanalytiker - am 18. Juli 1917 zufällig begegneten. Nun vermengen sich Sommer und Winter, Gestern und Heute, Mögliches und Unmögliches - Kafka gerät in eine Schneeballschlacht und plant mit Gross die Gründung der Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens, Klara trifft ihren Exmann, Rekruten fahren nach Galizien - und warum ist Solveig ausgerechnet in Prag gestorben? Ein Geisterroman, und viel mehr als ein Familienroman - Macht und Erziehung, Gewalt und Liebe, Literatur und Rezeption und nicht zuletzt Franz Kafka durchdringen die Jahrhunderte!

Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, war u. a. unter den Finalisten für den Alfred-Döblin-Preis 2013, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Bleiweiß (2000), Die Leute aus Brody (2005). Bei Limbus: Tanzstraße (2010), Villa Klestiel (2011), Die Hunde im Souterrain (2014), Geisterroman (2016) und Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe (2019).
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I.

Lesen und nachdenken würde sie auf der Reise, nahm sich Klara beim Kofferpacken vor, wenn sie schon ihrer Flugangst nachgab und mit dem Eurocity nach Prag fuhr. Es eilte ja nicht. Solveig war schon drei Tage tot, als sich gestern Nachmittag ihr Ehemann meldete und seine Schwägerin bat, die sterbliche Hülle ihrer Schwester nach Hause zu holen. Die dazu nötigen Papiere seien schon ausgefertigt, sie müsse sich nur bei der Klinik-Verwaltung melden, alles Weitere laufe wie von selbst.

Der Sarg könne zwar auch allein zurückkommen, hatte Konrad zugegeben. Letztlich aber sei es wohl eine Frage der Würde, dass man Verstorbene nicht ohne Begleitung auf ihre letzte Reise schicke – solange sie noch Verwandte besäßen. Und sie, Klara, habe doch Zeit, während er selbst morgen nach New York aufbrechen müsse, zur Neuverhandlung der Verwertungsrechte einiger Bücher, darunter die zwei letzten seiner arbeitssüchtigen Frau.

„Solveigs amerikanischer Agent ist ein harter Hund, bekannt dafür, dass er deutsche Juristen gerne aufs Kreuz legt. Den Rückflug habe ich übrigens schon gebucht, für dich und deine Schwester. Ich möchte es dir so leicht wie möglich machen. In längstens drei Tagen bist du wieder zu Haus. Nein, um die Begräbnisfeierlichkeiten musst du dich nicht kümmern.“

Auf dem zugigen Bahnsteig im Untergeschoß des Berliner Hauptbahnhofs warteten höchstens zehn Reisende. Keine Rucksacktouristen, die sich durch die Prager Gassen drängeln wollten, keine Schulklassen mit nervösen Lehrern. Und im Erste-Klasse-Abteil, wo sich Klara einen Platz reserviert hatte, saß gleichfalls nur ein Passagier. Sie zögerte ein paar Sekunden, vielleicht war das nächste ja leer. Da hatte sich der Mann, der am Fenster saß, jedoch schon halb erhoben und ihr höflich erklärt, dass er ihr wegen seines vermaledeiten Rückens den Koffer leider nicht ins Gepäcknetz hieven könne. Wenn das Ding am Boden bleibe, sei dies freilich auch nicht weiter schlimm, mit großer Wahrscheinlichkeit werde sie bis Prag kein Mensch mehr stören.

„Selbst die Goldene Stadt ist im Januar trüb und leer, wissen Sie. Selten Schnee, keine Sonne, keine Weihnachtsbeleuchtung mehr. Den jüdischen Friedhof haben Sie ganz für sich alleine, das Café Slavia ist verwaist, in den Straßenbahnen wird nur noch Tschechisch gesprochen. Entschuldigen Sie, dass ich mich so breitgemacht habe. Wenn man Zeitung liest, wird man automatisch expansiv.“

Er sprach, wie einst am Burgtheater gesprochen wurde, in ihrer Vorstellung wenigstens: kultiviert und sonor, mit einem eingebauten, sich dezent äußernden Vibrato, als schicke er seine Stimme über eine imaginäre Bühne, obwohl er nur in einem Eisenbahnabteil saß. Ohne Eile pflückte er die aufgeschlagenen Seiten einiger internationaler Journale von der gegenüberliegenden Bank, lächelte Klara an und zog seine Beine unter den Sitz. Vermutlich ist er ein baumlanger Kerl, dachte sie, die sich vor Riesen fürchtete. Die Nickelbrille auf seiner Nase war eindeutig zu klein für seine ausladende Gestalt, seine tiefschwarze Kleidung ließ ihn massig wie ein Felsblock erscheinen. Weil sie sich aber zu Smalltalk nicht verpflichtet fühlte und über die Nähe zu Wildfremden, die einem stundenlanges Bahnfahren aufzwang, gar nicht erst nachdenken wollte, lächelte sie zurück, freundlich und flüchtig zugleich. Flugzeuge und Fahrstühle waren viel bedrohlicher. Und selbst wenn sie das nächste oder übernächste Abteil wirklich für sich allein gehabt hätte – wer sagte, dass nicht in Dresden oder sonstwo auf der Strecke noch jemand zustiege?

Weitergehen war für sie immer schon schwierig gewesen, wenn sie erst einmal angehalten hatte, kompliziert genug jedenfalls, um darüber nachzudenken, warum sie es wieder nicht geschafft hatte. Also schickte sie sich in ihre Entschlusslosigkeit, die letztlich ja doch einen Entschluss bedeutete, und begann sich einzurichten. Öffnete ihren Koffer, holte Buch, Notizblock, Stift und iPad heraus. Behielt Mantel und Handschuhe jedoch an, weil die Anspannung, mit der sie sich auf dem Bahnsteig gegen die Minusgrade gewappnet hatte, in ein unangenehmes Zittern übergegangen war. Später würde sie im Speisewagen eine Tasse Tee oder ein Glas Rotwein trinken – falls es in diesem Zug so etwas wie einen Speisewagen gab. Die melancholischen Fahrten am Rhein entlang fielen ihr ein, als sie Veit alle drei Monate nach Rotterdam zur Fähre begleitete und sie die ganze Reise vor einem oder höchstens zwei Kännchen Kaffee zubrachten, wie gelähmt vom bevorstehenden Abschiedsschmerz, neben sich das schwache Licht des gelben Schirmlämpchens, das sich irgendwann – zusammen mit ihren blassen Gesichtern – in der Scheibe spiegelte.

Die langen Trennungen, als Veit sich als Archäologe in einem Londoner Auktionshaus in die tiefere Bewandtnis von Original und Fälschung einführen ließ, sorgten dafür, dass sich ihre Gefühle immer wieder neu entzündeten. Es war die schönste Zeit ihrer kurzen Ehe. In der gemeinsamen Berliner Wohnung schrumpfte ihre Liebe allerdings dann so schnell, dass sie nur noch dem Fliegenschiss auf einer Fensterscheibe glich – wie Veit es ausdrückte. Was ein Schock für sie war, der auch vor dem Scheidungsrichter noch nachwirkte, wenngleich dieser die schwindende Zuneigung eher technisch begriff und als Gleichgültigkeit charakterisierte. Was gegen Gleichgültigkeit einzuwenden sei, herrschte er Klara und Veit an, obwohl sie das Wort gar nicht in den Mund genommen hatten. Gleichgültigkeit sei die schönste, die beständigste Empfindung, die er kenne, so gefährlich nah an der Grenze zum Hass sie auch verlaufe; sie verlange Disziplin und Selbstbeherrschung, die sie beide offenbar nicht aufbringen wollten. Erst kürzlich habe er mit seiner Frau silberne Hochzeit feiern dürfen, nie habe er das Bedürfnis verspürt, sie zu würgen. Und jetzt freue er sich schon auf die goldene. Dass kein Fremdgehen im Spiel gewesen sei, wie die beiden jungen Leute beteuerten, nehme er ihnen nicht ab. Warum sie unbedingt heiraten hatten wollen, das sei doch die Frage. Und warum sie sich jetzt so überstürzt voneinander verabschiedeten.

Ja, warum? Trotz heftigen Rotierens gab Klaras Erinnerungsmaschine nichts Genaueres preis. Nur ihre Empörung fiel ihr ein, ihr Ekel geradezu vor dem zynischen Juristen, der in seinem früheren Leben gewiss ein Nazi und an Todesurteilen beteiligt gewesen war, sowie der dünne Kommentar ihres Ex-Ehemanns, der in derlei Sprüchen nicht einmal die innere Wüste eines praktizierenden Machos erkennen wollte. Immerhin, als Veit ihr zwei Tage später mitteilte, er habe hinter ihrem Rücken den Vertrag mit seiner Firma erneuert und werde bald nach London zurückkehren, fühlte sie sich erstaunlich wenig getroffen. Wie es der Zufall gewollt habe, sei er im Völkerkundemuseum seinem ehemaligen Chef begegnet, murmelte er, mit den Zähnen ein Stück Klebeband von der Rolle abreißend, da er beim Packen für den Umzug und gedanklich bereits abwesend war. „Vor ein paar Wochen schon. Wegen des Scheidungstrubels habe ich glatt vergessen, dir davon zu erzählen. Er hat große Pläne und Großes mit mir vor. Da konnte ich einfach nicht Nein sagen.“

Ob sich die Pläne dann wirklich zu etwas Großem auswuchsen und wie das Große aussah, erfuhr Klara nie. Sie wusste auch nicht, ob Veit in London hängengeblieben oder anderswo gelandet war. Die schöne Angewohnheit, ihr von allen seinen Forschungsreisen Postkarten zu schicken, stellte er nach der Scheidung bald ein. Half er beim Bücherretten in Timbuktu? Beim Papyrusrollen-Röntgen in Herculaneum? Ach, sie konnte sich Veit überall vorstellen. Da, wo es ihn hintrieb, wollte er schnellstmöglich sein, ging aber wieder weg, sobald sich ein Anlass dafür bot. So blieb Wie es der Zufall will oder Wie es der Zufall wollte nicht zufällig Veits liebste Redewendung, sein Passepartout zur Relativierung kopfloser Entscheidungen, die Begründung für seine womöglich nur vorgetäuschte Schicksalsergebenheit. Es war also nur folgerichtig, dass er die Formulierung Wie das Leben so spielt ebenso gern in seine Reden flocht. Sie war der tändelnde Nebensatz, mit dem er – in knappen Hauptsätzen meist – seine nächsten, oftmals schon halb oder ganz in die Tat umgesetzten Pläne anzukündigen pflegte. Dass ihm etwa ein gut informierter Kollege von der Existenz einer enorm kostbaren, gleichwohl immens preisgünstigen Erstausgabe erzählt habe, weswegen er sich demnächst auf den Weg nach Alexandria machen müsse. Oder auch nach Venedig, wo in einem kleinen, häufig mit Überraschungen aufwartenden Antiquariat eine Seite aus John Ruskins Briefwechsel mit seiner Frau Effie aufgetaucht sei, die nicht nur beweise, dass sie doch miteinander geschlafen, sondern auch noch Spaß dabei gehabt hätten. „Natürlich habe ich telefoniert und mir den Wisch schon einmal reservieren lassen“, sagte Veit, mit dem Interrail-Ticket wedelnd, denn Billigflüge gab es noch nicht, „Ruskin ist schließlich ein Pionier der Kunstgeschichte gewesen. Und es hat mich schon immer genervt, wie hämisch man den armen Kerl als asexuelles Wesen brandmarkt.“

Worin sich die beiden Floskeln unterschieden, fand Klara nie heraus, vermutlich nur in ihren jeweils anders gearteten bösen Folgen. Die Venedigreise zum Beispiel hatte ihre Finanzplanung völlig durcheinandergebracht, und selbst die Tatsache, dass man ihr in jenen Tagen die zweite Tranche ihres Dissertationsstipendiums überwies, konnte nichts daran ändern, dass sie sich eine Woche lang – während Veit hinter dem ominösen Brief her war und ihn dann doch nicht ergatterte – von Senfbroten ernähren musste. (Dass sie ihre Forschungen über...


Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen
St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, war u. a. unter den Finalisten für den Alfred-Döblin-Preis 2013, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Bleiweiß (2000), Die Leute aus Brody (2005). Bei Limbus: Tanzstraße (2010, als Limbus TB 2014), Villa Klestiel (2011, als Limbus TB 2014), Die Hunde im Souterrain (2014).



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