E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Inka Luhmann ermittelt
Welter/Gantenberg / Welter / Gantenberg Kalt geht der Wind
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402239-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inka Luhmann ermittelt im Sauerland
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Inka Luhmann ermittelt
ISBN: 978-3-10-402239-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Gantenberg (geboren 1961) war WDR-Radiomoderator, Gastgeber des Satiremagazins ?Extra 3? und schrieb u.a. für DIE ZEIT und die FAZ. Für die RTL-Komödie ?Ritas Welt? erhielt er den Grimme-Preis und den Deutschen Fernsehpreis. Er entwickelte ?Alles Atze? und ?Nikola? und schrieb als TV-Autor für den ?Großen Deutschtest? (mit Hape Kerkeling) und die Krimireihe ?Unter Verdacht?. Im Jahr 2009 erschien sein Romandebüt ?Neuerscheinung?, 2010 ?Zwischen allen Wolken?. Michael Gantenberg lebt mit seiner Familie in der Nähe des Sauerlandes.
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Samstag, 10:30 Uhr
»Fast wie Schweden, nur halb so teuer.«
Inka sah über die leicht windgekräuselte Oberfläche des Hennesees auf die dichtbewaldeten Hügel der anderen Uferseite. Da war es wieder. Hennes einzigartiges Lockargument, mit dem er sie aus dem Ruhrgebiet in »sein« Sauerland gelockt hatte. Jede Menge Wald, Wasser und Berge. Ein Paradies. Nicht nur für Bullen. Auch für Familien und Kinder. Und nach anfänglicher Skepsis musste Inka ihm recht geben, auch wenn ihr noch kein Elch über den Weg gelaufen war.
Grün war die Farbe, die hier fast alles dominierte. Auf den Dächern der Kiefernwälder, den üppigen Wiesen und Weiden, sogar auf der Wasseroberfläche. Wenn auch nur als Spiegelung der Umgebung. Schon nach den ersten Wochen Brilon hatte Inka sich nicht nur daran gewöhnt, sie vermisste es sogar, wenn sie länger als ein, zwei Tage ihre Eltern in Dortmund besuchte. Und heute hätte es sie vermutlich nicht einmal überrascht, wenn ein Stück grünen Himmels zwischen den tiefhängenden Wolken die Orgie in Chlorophyll perfekt gemacht hätte.
Umso greller leuchteten die Farbtupfer um Inka herum. Das Rotweiß der Flatterbänder, das Signalgelb der Spurennummerierung, das Weiß der Overalls der Techniker. Willkommen in der romantischen Welt der Tatortermittlungen.
Ein Streifenwagen hatte am Präsidium auf Inka gewartet und sie in halsbrecherischer Fahrt über verstopfte Landstraßen und eine fast leere Autobahn hierhergebracht, auf das stattliche Anwesen von Wolfgang Hesterkamp, dem »Holzbaron vom Hennesee«. Inka war mit etwas wackeligen Beinen ausgestiegen, denn die rustikalen Fahrkünste des Streifenpolizisten hatten ihre Spuren hinterlassen. In einer Gegend, in der schon jeder zivile Verkehrsteilnehmer mit »HSK«-Kennzeichen Verkehrsregeln eher als Empfehlung denn als Vorschrift auslegte, kam Inka die Fahrt unter Blaulicht vor wie ein Hubschrauberflug durch den Raiffeisenmarkt. Immer nur Zentimeter vorbei an Kiefernholz oder Metall. Aber noch mehr als die Fahrt machte sich in Inka etwas anderes bemerkbar. Lampenfieber. Ihr erster »eigener« Fall seit langer Zeit wartete auf sie. Inka betrat die Arena. Und konnte sich über eine mangelnde Dramatik nicht beklagen.
Als sie die Villa des Holzbarons auf einem Kiesweg umrundet hatte, sah sie auf eine sanft in Richtung Seeufer abfallende, parkähnliche Grünfläche. Gesäumt und immer wieder unterbrochen von unzähligen gepflegten Sträuchern und Bäumen. Darauf verteilt standen zu Inkas Überraschung mehrere weiße Pavillons, verschieden große Zelte, ein Bierwagen, Stromaggregate und Dutzende Klappboxen mit technischem Material. Alles aus dem Bestand eines örtlichen Cateringservices und eingerahmt von feierlicher Beleuchtung. Die Vorbereitungen für eine imposante Gartenparty, kurz vor ihrer Vollendung jäh unterbrochen. Was immer würdig genug war, hier so groß gefeiert zu werden, die Szenerie am Seeufer hatte es zu einer unwichtigen Fußnote der Geschichte werden lassen.
Inka ging den Rasenhang hinunter, hockte sich an das schlammige Seeufer am Fuße des Gartens. Sie gratulierte sich zum Einhalten der Sauerland-Regel Nummer eins: Gummistiefel sollten nie weiter als einen kurzen Sprint entfernt sein. Im grellen Licht von vier Scheinwerfern und unter den kritischen Blicken der umstehenden Kollegen studierte sie die Leiche, die blass und leicht aufgedunsen rücklings vor ihr lag.
»Weiblich, etwa eins fünfundsechzig groß, mittelbraunes, langes Haar. Bis auf den fehlenden linken Schuh vollständig bekleidet. Außer den …« Die Stimme stockte angesichts des verstörenden Anblicks. »Außer den Nähten im Gesicht und zwei Löchern in der Schulter keine äußerlichen Spuren von Gewalteinwirkung.«
Die Beschreibung war ebenso lustlos wie überflüssig. Inka sah auf ein Paar gedrungene Beine in zu engen Cordhosen und Gummistiefeln neben sich. Kriminalkommissar Georg Pfeil klappte seinen Notizblock zu, zog seinen Gürtel über den stattlichen Bauch und musterte Inka von oben herab mit dem Gesichtsausdruck eines chronisch Magenleidenden. Er gab sich keine Mühe, die Aversion gegen die neue Kollegin zu verbergen. Warum auch? Er war Sauerländer, sie Zugereiste. Sein Heimspiel.
An der Leiche fiel Inka eher das auf, was Pfeil bei seiner Beschreibung – außer »tot« – ausgelassen hatte. Entweder weil er es nicht bemerkt hatte, oder weil er es für unwichtig hielt. Für Inka beides keine Bewerbung zum »Ermittler des Monats«.
Es war eine attraktive Frau Anfang dreißig, die da vor ihr lag. Zumindest ließ das die wasserdurchtränkte, enganliegende Kleidung vermuten. Reste einer offenbar frisch geschnittenen Frisur, gepflegte, manikürte Fingernägel, modische Schminke, inklusive – ironischerweise – wasserfestem Mascara. Doch alles an ihr wirkte ein wenig zu dick aufgetragen, um unter echten Stadtpflanzen noch als chic durchzugehen. Inka tippte auf eine wie sich. Auch eine Zugezogene. Bereit, sich den ländlichen Gesetzmäßigkeiten anzupassen, aber ohne sich dabei völlig selbst aufzugeben. Jemand, der mit Sicherheit andere Träume gehabt hatte, als am Ufer des Hennesees zu enden. Noch dazu als ein in der Tat verstörender Anblick. Augen, Ohren und Mund der Frau waren angelegt, beziehungsweise geschlossen und anschließend mit groben Stichen und dickem, dunklem Garn zugenäht worden.
»Wir haben keine persönlichen Gegenstände bei ihr gefunden. Also keine Handtasche, kein Portemonnaie, kein Schminkzeug oder so. Nur einen Schlüsselbund in ihrer rechten vorderen Hosentasche.«
Ohne Inka anzusehen, hielt Pfeil einen transparenten Plastikbeutel an seinem ausgestreckten Arm. Inka nahm ihn und betrachtete den Inhalt. Ein etwa zehn Zentimeter großes, metallenes »N« mit unbehandelten Außenseiten. In der Mitte waren die Balken des Buchstabens pink beschichtet, an den seitlichen Rändern der Oberfläche glitzerten Dutzende winziger Strasssteinchen. Modeschmuck. Der ziemlich schwer zu tragen hatte. Denn an einem ebenfalls metallenen Ring an der Unterseite des Buchstabens zählte Inka nicht weniger als dreizehn Schlüssel. Einen Autoschlüssel konnte sie dank der Marke identifizieren, den Zweck von sechs größeren und weiteren sechs kleineren Schlüsseln zumindest vage erahnen. Inka hatte genug eigene Fahrradschlösser, Geldkassetten und Vorhängeschlösser für Kellerräume besessen, um zu wissen, womit man sie klassischerweise sicherte. Die fünf verbliebenen Schlüssel machten allerdings den Eindruck, als gehörten sie mindestens in die Kategorie Wohnungsschlüssel. Inka wog den Beutel in der Hand. Ganz schön schwer. Andererseits hatte Inka genug Freundinnen, die ebenfalls zum Horten von Schlüsseln neigten. Ungewöhnlich fand Inka daher eher den Fundort des Bundes. Welche Frau bewahrte schon ein Kilo klobiges Metall in der Hosentasche auf?
»Ist das alles?« Inka gab Pfeil die Tüte zurück und erntete ein Nicken.
»Wenn sie eine Handtasche hatte, kann die überall sein.« Er deutete vage auf den See. »Nur im Kirchturm wird sie wohl nicht hängen«, grinste er.
Inka fragte sich einen Moment, was Pfeil mit der Anspielung meinte. Dann erinnerte sie sich undeutlich an grobkörnige Schwarzweißfotos aus einer Tageszeitung, die Inkas Mutter ihr in ihrer Kindheit einmal gezeigt hatte. Bilder, die sie als sehr verstörend empfunden hatte. Der Hennesee war genau genommen eine Talsperre. Wo heute zig Millionen Kubikmeter Wasser zum Baden oder Segeln einluden und sogar Strom erzeugten, standen vor dem Bau der Staumauer vier Dörfer ganz oder teilweise in einer Talsenke. Weil den Behörden der Ausbau des Sees aber wichtiger war als die Interessen der Bewohner von Hellern, Mielinghausen, Enkhausen und Immenhausen, wurden sie, soweit betroffen, umgesiedelt und entschädigt. Die Gebäude ließ man stehen und wartete, bis die Henne, ihre Nebenflüsse und der sauerländische Regen sie nach und nach in der Tiefe des neu entstehenden Sees verschwinden ließen. Nur in Zeiten extremer Trockenperioden und entsprechendem Niedrigwasser, wie damals 1976, kam es vor, dass der See in seinen Randbereichen eine alte Brücke des Dorfes Hellern und Teile der alten Bundesstraße 55 freigab. Kirchtürme gab es dort unten nicht, aber für die kleine Inka waren schon die Bilder der Straße und der Brücke genug, um Horrorvisionen von Untoten aufsteigen zu lassen, die stumme Anklage für ihren qualvollen Tod erhoben, bevor sie sich wieder in ihr feuchtes Grab zurückzogen.
»Und bevor Sie fragen, keine Ahnung, wie lange sie da schon liegt.« Pfeil holte Inka in eine ebenso unangenehme Gegenwart zurück. Er musterte sie von oben.
Inka stand auf. Und genoss besonders die letzten Momente vor Erreichen ihrer vollen Eins achtundsiebzig. Denn diese Momente waren die Zentimeter, die sie ihren neuen Kollegen an Größe überragte. Immerhin gute sechs Zentimeter. Und für Pfeil offenbar ausreichend für einen überraschten Schritt nach hinten. Inka unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Daran musste Pfeil sich wohl erst noch gewöhnen. Genau wie an Inkas entschlossenen Ton.
»Die Liegezeit am Ufer interessiert mich weniger. Ich will wissen, wer sie ist, wie lange sie tot ist, wie lange sie im Wasser war und wie sie da reingekommen ist.«
Pfeil machte sich zwar Notizen, seine hochgezogenen Augenbrauen zeugten jedoch nicht gerade von übertriebenem Arbeitseifer.
»Sonst noch was?«
»Ja, zum Beispiel, warum sie so heftig nach Alkohol riecht und nach welchem. Wann hat sie den zu sich genommen und wie?« Sie setzte ein aufmunternd gemeintes Lächeln auf und rieb sich die auskühlenden Hände. »Also, fangen...




