E-Book, Deutsch, 488 Seiten
Wermuth / Kowarsch Ein Beamtenleben
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-9560-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Geburtshelfer von Groß-Berlin erinnert sich
E-Book, Deutsch, 488 Seiten
ISBN: 978-3-7526-9560-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Mann, der Groß-Berlin machte, kam aus Hannover. 1855 ging es mit seiner Geburt los. Natürlich war er ein richtiger Junge mit Ecken und Kanten. Parteilos, Prinzipientreue, Strebsamkeit und Ausdauer lernte er im Elternhaus. Das Studium in Leipzig, Heidelberg, Göttingen schloß er mit dem Dr. jur. ab. Auf dem Wege zum Bürgermeister von Berlin wurde er Regierungsassessor, wechselte zum Reichsamt des Innern, war beteiligt am Aufbau des Reichswetterdienstes, beim Abschluß des Helgoland-Sansibar-Vertrages, dann Interimsverwalter von Helgoland, Reichskommissar für die Weltausstellungen in Melbourne und Chicago. Er hatte Umgang mit dem Kaiser, Bismarck, Bethmann Hollweg, Delbrück und Mark Twain bis er schließlich zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt wurde.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KAPITEL 2 DAS REICHSAMT DES INNERN BIS ZUM RÜCKTRITT BISMARCKS
Das Reichsamt, dem ich nun angehörte, war die Mutter der obersten Reichsbehörden und darum auch das Mädchen für alles. Bei Einrichtung der Geschäfte für den Norddeutschen Bund hatte man zunächst mit der denkbar geringsten Zahl von Beamten sich beholfen. Das Bundeskanzleramt, später Reichskanzleramt, führte unter dem Reichskanzler die gesamte Verwaltung, mit Ausnahme der auswärtigen Politik. Sachgemäß und trocken, gelegentlich allzu trocken, hatte es Delbrück ein Jahrzehnt geleitet. Mit seinem Abgang begann die Zerlegung des Reichskanzleramtes. In schneller Folge wurde eine oberste Reichsbehörde nach der anderen abgetrennt, als wichtigste das Reichsjustizamt und das Reichsschatzamt. Es blieb zurück das nunmehrige Reichsamt des Innern. Die abgezweigten Zentralämter nahmen einen fest umgrenzten Aufgabenkreis mit sich. Die Restbehörde behielt alles, worüber nicht anders bestimmt war. Sie behielt auch die Tradition. Ein leiser Hauch der ersten klassischen Bundes- und Reichszeit lag noch über dem Reichsamt des Innern. Dahin weitergetragen von denen, die aus dem ersten Bestande des Bundeskanzleramtes erhalten geblieben, wie der Untersekretär Eck, der Bürovorsteher Geheimrat Radtke, der mit Bismarck kam und mit ihm in Pension ging, nebst dem Stamm der anderen Bürobeamten. Bewahrt auch in den wenigen und umso wertvolleren Akten, an denen ich mich emporlernte. Die sauerstoffreiche Luft jener schönen Zeit weht noch heute, jedem zugänglich, in den stenographischen Protokollen des Norddeutschen und des Deutschen Reichstages. Mir gewährte es großen, ich hätte fast gesagt dichterischen, auf jeden Fall auch literarischen Genuß, wenn ich von Amts wegen in einem dieser nach jetzigem Begriff unerhört dünnleibigen Bände nachzuschlagen hatte. Zuweilen las ich sie nur um des Genusses willen. Erbaute mich daran, wie die wichtigsten Fragen der Verfassung, der auswärtigen Politik, obwohl sie das Schicksal und Gedeihen des Vaterlandes bargen, in knappster, beherrschtester Form behandelt wurden, mit einer gewissen ruhigen Eleganz und ohne den Aufwand von Nervenkraft und Pathos, ohne den der heutige Redner kaum auskommt. Wie neben den Großen der Politik, Bennigsen, Miquel, Twesten, Lasker, Mallinckrodt, auch Männer des Schwertes, des Handels und der Wissenschaft, Moltke, Steinmetz, Vogel, von Falckenstein, dann der durch meine Frau mir wohlbekannte Konsul H.H. Meier aus Bremen, Gneist, Sybel und Planck mit Achtung gehört wurden. Wie der Herzoglich Gothaische Hofrat Dr. Gustav Freytag am 21. März 1867 tief gekränkt von der Rednertribüne abtreten mußte, weil er inmitten der Lebensfragen deutscher Wehrverfassung durchaus eine Petition von Studenten zu Gehör bringen wollte, die in Leipzig ihr Jahr abzudienen wünschten; soviel ich weiß, ist er hernach nie wieder hervorgetreten. Wie Windthorst sich durch allen Widerstand zur überragenden Stellung durchbiß, Bebel die ersten Funken seiner Redeglut in das deutsche Volk schleuderte. Mündliche Überlieferungen gaben dem gedruckten Wort Leben und Farbe. Sie berichteten, wie im alten Reichstagsgebäude an der Leipziger Straße, das auch wir noch jahrelang besuchten, sich die Verhandlungen einspielten. Von dem ersten Präsidenten sprachen sie, von Simsons majestätischer Ruhe und breitem Brustton. Ein Geschichtchen ist mir hängengeblieben. Der nationalliberale Abgeordnete Grumbrecht aus dem hannoverschen Wahlkreise Harburg besaß die Gabe reichlicher Rede und liebte, sie zu zeigen. Und seine Gattin liebte es, ihm zuzuhören. Wann immer Grumbrecht sprach, sie saß im Zuhörerraum. Mein Gewährsmann behauptete, nie ohne einen Strickstrumpf. Ihre Anwesenheit gab das untrügliche Zeichen, daß „Er“ heute reden werde. Eines Tages hatte sich – seine moralische Stütze fehlte nicht – Grumbrecht zum Wort gemeldet. Ein Redner nach dem andern spricht und schließt, Grumbrecht wird noch immer nicht aufgerufen. Da eilt er zum Präsidentensitz empor: „Herr Präsident, ich hatte mich schon vor einer Stunde zum Wort gemeldet!“ – „Jawohl, Herr Abgeordneter,“ erwiderte Simson mit einem olympischen Seitenblick nach der Zuschauertribüne, „ich habe ´Sie` gesehen.“ Sie in beiden Anwendungen groß geschrieben. Auch Delbrücks persönliche Spuren waren, als ich sieben Jahre nach seinem Abgange eintrat, im Reichsamt nicht verwischt. Mir selbst sind sie noch viel später in eigentümlicher Weise frisch erschienen. Als Unterstaatssekretär hatte ich das frühere Delbrücksche Arbeitszimmer inne. Einen schönen großen Raum im ersten Stock, mit den Fenstern nach der Wilhelmstraße. Die Wände entlang stand ein großer Bücherschrank mit dem landläufigen Arbeitsgerät, Reichsgesetzblatt, Zentralblatt, Handelsarchiv und was sonst dem Beamten nützlich. Eines Tages entdecke ich innerhalb dieses Schrankes einen unscheinbaren verschlossenen Stahlbehälter. Nach längerem Suchen fand sich auch der Schlüssel dazu in meinem Schreibtisch. Ich öffnete das Kästchen und sah in ihm zu meiner Überraschung die Delbrückschen Geheimakten aus der Zeit des Krieges und der Reichsgründung. Er hatte sie dort offenbar sorgsam verborgen gehalten. Sonderbar, daß er unterließ, bei seinem Abgange über sie zu verfügen. Sie enthalten manches, was im Laufe der Jahre an Geheimwert verloren hatte. Aber das meiste bot hohes, geschichtliches Interesse so die ganz vertraulichen Vorarbeiten zu den 1870er Novemberverträgen mit Süddeutschland. Daneben buntscheckige Korrespondenzen im Auftrage des Kanzlers. Eine Reibung Bismarcks mit dem Generalpostmeister. Stephan oder richtiger einen Zornerguß über diesen, weil er seine Leistungen und seine Berühmtheit doch etwas überschätzte und gegen den Kanzler ausspielte. Eine gereizte Auseinandersetzung darüber, daß die Kronprinzessin unter die deutschen Soldaten im Felde liberale Zeitungen hatte verteilen lassen. Ich hatte damals wenig Zeit zu geschichtlichen Studien. Aber wenn ich einmal Erholungspause machte, habe ich wohl das eine oder andere der kleinen Aktenheftchen in die Hand genommen und mich an den menschlichen Regungen unserer großen Vorgänger erbaut. Delbrücks Zeit gehörte dem Freihandel. Dessen wichtigsten Bestandteil, die Meistbegünstigung, hatte er durch den Frankfurter Frieden für immer zu verankern geglaubt. Mit Delbrücks Beseitigung im Jahre 1876 tat Bismarck den ersten Schritt zurück zum Schutzzoll. Die Gründung des Reichsschatzamts verfolgte denselben Zweck. Die neue Behörde ward im neuen Bismarckschen Sinne mit zuverlässigen Männern ausgestattet und hat bis zu Bismarcks Abgang die Führung in der Handels- und Zollpolitik besessen. Aus dem Reichsamt des Innern konnte man die Reste Delbrückschen Freihändlertums nicht ganz loswerden. Waren sie vorderhand unschädlich, so widmete ihnen Bismarck dennoch ein wachsames Mißtrauen. Sie wurden zu einflußreicher Tätigkeit auch anderer Art nur mit Vorsicht zugelassen. Vor allem der Geheimrat Huber. Er galt bei uns Jüngeren als überlebt; es schien, als ob er seine Kraft in kleinen Nebendingen, wie der Redaktion des „Deutschen Handelsarchivs“, aushauchte. Daß diese Kraft im Anschlag stand, gegebenen Augenblicks über Bismarcks Handelspolitik herzufallen, ahnte niemand. Fast noch schattenhafter trat der Geheimrat Rösing in Erscheinung, der in den technischen Seesachen zurückgezogen hauste. Rösing wurde in die Zentralbehörde gerufen, weil vom Konsulat in New York, als er diese Stelle leitete, Berichte von ausgezeichnetem wirtschaftlichem Verständnis eingegangen waren. Die Berliner Luft zeitigte nicht so treffliche Leistungen Rösings, dagegen blieben, wie die Amtsrede böslich behauptete, die New Yorker Berichte in demselben Glanze wie zuvor. Als des Freihandels hinreichend verdächtig galt auch der Geheimrat Nieberding, der peinlich pünktliche Sohn eines Gymnasialdirektors. Ein Arbeiter feinsten Scharfsinns und blendender Feder. Schöpfer der bahnbrechenden Gesetze zum Schutz des gewerblichen Eigentums. Kein Stürmer, sondern sorgsamer, kenntnisreicher Bildner. Daß er einer wirtschaftlichen Schule grundsätzlich anhing, wage ich zu bezweifeln. Bei uns erwies er sich als Beamter mit klarem Blick für das Gebot der Stunde. Das ganze Reichsamt des Innern sah ihn mit aufrichtigem Schmerz scheiden, als er 1893 in das Reichsjustizamt übersiedelte, höchstes Verdienst um das Bürgerliche Gesetzbuch sich zu erwerben. Die bedeutende Zeit Delbrücks wurde abgelöst durch einen kurzen farblosen Übergang unter dem Staatsminister Hofmann. Als hessischer Staatsmann und Bundesratsbevollmächtigter hatte er für eine Leuchte gegolten. An der Spitze des Reichsamts muß er Bismarck arg enttäuscht haben. Wenigstens wimmelten unsere Akten von den steilen, spitzigen Buchstaben fürstlicher Randbemerkungen, und was diese ausdrückten, entfernte sich von Zustimmung und ermutigender Anerkennung so weit, wie es die Regeln amtlicher Höflichkeit irgend zuließen. Am schlimmsten...