E-Book, Deutsch, 228 Seiten
Werthmann Geburt Nicht Nachgewiesen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-7541-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-7578-7541-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die vorliegende Autobiographie einer heute über achtzigjährigen Autorin lässt aus den Erinnerungen eines Kleinkinds die Welt des ländlichen Nordostpreußens (heute russischer Oblast Kaliningrad) zu Beginn des 2. Weltkriegs erstehen. Die weiteren Schilderungen reflektieren, wie die Fluchterlebnisse als Kleinkind in die kulturelle Ausgestaltung der persönlichen Entwicklung bis zum Abitur hineinwirkten. Eine Besonderheit ist, dass in das Buch das fünfzigseitige Originalmanuskript eines Fluchtberichts der Mutter der Autorin eingefügt wurde, die diese dreißig Jahre nach Kriegsende niedergeschrieben hatte. Obwohl die Abfassung der Berichte von Mutter und Tochter fünfzig Jahre auseinander liegen, lassen sich die Beschreibungen als sinnvolle Erlebnis-Verschränkungen verstehen. Prägende Stationen des Lebenswegs der Autorin nach dem Ende des 2.Weltkriegs waren die frühe Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ) noch vor der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), das Aufwachsen in einer Diasporagemeinde im katholischen Münsterland sowie eine fördernde Gymnasialschulzeit.
Dr. phil. Annelore Werthmann (geb. Paris), wurde 1941 in Georgental, Ostpreußen geboren. Sie war vierzig Jahre lang als Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in Wiesbaden tätig. Darüber hinaus hat sie sich im Aufbau psychoanalytischer Ausbildungsinstitute in Deutschland und Osteuropa engagiert.
Autoren/Hrsg.
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1. Hof und Heirat
Die Ehe meiner Eltern Otto und Johanna Paris fußte auf einer vermittelten Heirat. Mein Vater – schon dreiundvierzig Jahre alt – so behütet wie dominiert von zwei unverheirateten älteren Schwestern und seiner hochbetagten, verwitweten Mutter, hatte wenig Lust, dem Frauenregiment zu Hause noch eine weitere Figur hinzuzufügen. Meine Mutter Johanna, geborene Abernetty, eine Bauerntochter von neunundzwanzig Jahren, litt unter dem Handicap einer Kinderlähmung, die sie als Zweijährige durchgemacht hatte und rechnete sich als dritte von vier Bauerntöchtern keine besonderen Heiratschancen aus. Hof Paris in Georgental, 1934 Mein Vater hat als alter Mann gerne – halbernst – gespottet, dass Hitlers „Erbhofgesetz“ für seinen Entschluss, doch noch eine eigene Familie zu gründen, ausschlaggebend gewesen sei; denn die weitere Verwandtschaft begann sich bereits begehrlich auszumalen, wie sie die drei unverheirateten Geschwister Paris in Georgental beerben könnte. Ein Cousin meines Vaters veröffentlichte in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einer westfälischen Zeitschrift sogar ein selbstgemaltes Aquarell, das – etwas prahlerisch – „Erbhof Paris“ übertitelt war. Er hatte wohl kaum im Sinn, im tausend Kilometer weit entfernten Ostpreußen etwas zu erben, sondern wollte sich wahrscheinlich mit dem ideologisch angesagten Nazi-Vokabular „Erbhof“ nur etwas schmücken. In dem sieben Kilometer entfernten Insterburg gab es ein Kolonialwarengeschäft mit dem schönen hugenottischen Namen Fornaçon, und Madame Fornaçon hatte sich seit einiger Zeit Gedanken gemacht, wie sie eine der drei unverheirateten Töchter Abernetty mit dem Junggesellen Otto Paris bekanntmachen könnte. In der Familie Abernetty wurde daraufhin aufgeregt diskutiert, welche der drei Schwestern in Frage käme: die jüngste, Dorothea, nicht – die war erst zwanzig Jahre alt – die zweitälteste, Erna, damals einunddreißig Jahre alt, besser auch nicht; denn sie würde mit ihrer etwas überdrehten Art vielleicht keinen guten Eindruck machen. Blieb Johanna, neunundzwanzig Jahre, die als begabt und sympathisch galt. Meine Eltern trafen sich bei Madame Fornaçon und prüften, ob sie zueinander passen würden. Meine Mutter sagte später, sie hätte sofort Zuneigung gespürt, weil sie sah, dass mein Vater ein guter Mensch war, und meinem Vater sieht man auf den Verlobungsfotos zu Pfingsten 1939 an, dass er sich verliebt hatte. In der Verlobungszeit machte das Paar Antrittsbesuche bei der Verwandtschaft, Sonntagsausflüge mit der Kutsche, aber meine Mutter ärgerte sich, weil meistens zu viele Neugierige um sie herum waren – „und wir wären doch so gerne mehr allein gewesen!“ Den Ärger sieht man ihr auf den Fotos gelegentlich an, wenn sie entweder gekünstelt lächelt, sich unvermittelt zur Seite wendet oder ihr sonst wie anzumerken ist, dass sie nur der Fotoaufnahme zuliebe posiert, es ihr aber unangenehm ist, sich so ausstellen zu sollen. Die für den Sommer 1939 geplante Hochzeit musste aufgeschoben werden, weil mein Vater im September 1939 zum Polenfeldzug eingezogen wurde – als einziger Bauer aus seinem Dorf, wie er sagte, obwohl er auf dem Hof als einziger Mann unentbehrlich war. Es gibt ein Foto von ihm in Uniform hoch zu Pferd. Mein Vater vermutete nachträglich, es könnte Schikane im Spiel gewesen sein, ausgerechnet ihn, den dreiundvierzigjährigen Veteran des ersten Weltkriegs in den Polenfeldzug zu schicken, möglicherweise weil er nicht in der Partei war? Wie im ersten Weltkrieg diente mein Vater als einfacher Infanterist. Bei der standesamtlichen Trauung im November 1939 bekam das Paar Hitlers „Mein Kampf“ überreicht. Meine Mutter wehrte schnell ab „das haben wir schon“! Darauf der Beamte salbungsvoll: „Dann hat eben jeder seine Bibel“. Bei der kirchlichen Trauung im November 1939 war schlechtes Wetter, und deshalb gibt es keine Fotos. Aber ein Foto vom Traualtar in Trempen wurde gerahmt aufbewahrt. Kolportiert wurde ein etwas doppelbödiges Kompliment einer Verwandten, die in einer der letzten Kirchenbänke Platz gefunden hatte und darüber beleidigt war: „Ihr wart ein schönes Paar – von hinten!“ In den eineinhalb Jahren bis zu meiner Geburt im Jahre 1941 spielte sich das Zusammenleben zwischen meinen Eltern auf dem Hof in Georgental gut ein, und mein Vater erlebte mit Befriedigung, dass seine junge Frau den Bevormundungsversuchen der beiden Schwägerinnen standhalten konnte, obwohl es den beiden siebzehn und zwanzig Jahre älteren Frauen schwerfiel, angestammte Bestimmungsrechte abzutreten. Die Macht der 1856 geborenen Schwiegermutter hatte ohnehin begonnen nachzulassen, weil sie allmählich geistig abbaute und von ihren Töchtern mehr und mehr abgeschirmt wurde. Der klein gehaltene Bruder Otto, dem nicht viel zugetraut wurde („Hannchen, Hannchen, du musst mitfahren, wenn Otto Holz verkaufen will“ – „das muss ich nicht,“ reagierte meine Mutter) entfaltete sich selbstbestimmter und machte Umbaupläne für den Hof. Als meine Mutter nach Georgental kam, erfasste sie sofort, dass die ganze „Wirtschaft“ etwas stehen geblieben war. Nach dem Tode des Vaters meines Vaters gleich zu Beginn des ersten Weltkriegs 1914 hatte es keinen richtigen Aufschwung mehr gegeben, weil mein Vater mit achtzehn Jahren zum Kriegsdienst eingezogen worden war und erst 1918 mit zweiundzwanzig Jahren wieder nach Ostpreußen zurückkehrte. Die drei Frauen hatten ihre Aufgabe darin gesehen, „alles zusammenzuhalten“, versiert in allen bäuerlichen und häuslichen Verrichtungen, jedoch ohne Zukunftsperspektive. Der Verlust des Vaters wie auch, dass bereits ausersehene Heiratskandidaten der beiden Töchter Anna und Emma „im Feld“ geblieben waren, wird zu einem gedämpften Lebensgefühl beigetragen haben. Als mein Vater nach Ende des ersten Weltkriegs wieder nach Hause kam, geriet er in eine festgefahrene Situation, in der es wenig Entfaltungsspielraum für ihn gab. Er rettete sich in romantische Ideen wegzugehen, Ingenieur zu werden und Erfindungen zu machen. Er zog sich in seine handwerkliche Geschicklichkeit zurück, baute sich eine Feldschmiede, auf die er sehr stolz war. Meiner Mutter fehlte auf dem Hof, auf den sie geheiratet hatte, etwas von dem Bauernethos, das sie von zu Hause mitbekommen hatte. Von ihrem eigenen Vater wurden die vier Töchter, wenn sie lachten und Unsinn machten, streng angehalten: „Kinder, wir sind zum Arbeiten geboren und nicht zum Spielen“ – auf Platt: „Kinderkes, wii sön tom Oarbide jeboare – on nich tom Späle!“ Das entstammte einer protestantisch-calvinistischen Haltung, die noch über preußisches Pflichtgefühl hinausging, wonach nur das schwere Leben eine Verheißung hatte. Als ich als kleines Mädchen die Standesfolge „Kaiser – König – Edelmann – Bürger – Bauer – Bettelmann“ auswendig lernte, sagte ich sie immer falsch auf „BAUER – Bürger – Bettelmann…“, denn der Bauer stand für mich höher als der Bürger, der nichts besaß und auch nicht schwer arbeiten musste. Unser Hof war ein klassischer Vierseitenhof. Dem Wohnhaus stand die Scheune gegenüber, links davon die Viehställe und rechts davon die Pferdeställe. Hinter dem Wohnhaus lag der eingezäunte Garten. Hof und Garten machten zusammen ein Hektar aus (= 10 000 qm). Die Hofstelle war ein sogenannter „Abbau“. Ursprünglich hatte das Gehöft im dem dreieinhalb km entfernten Straßendorf Georgental gelegen. Aber um die entfernt liegenden Äcker und Wiesen besser erreichen zu können, siedelten sich immer mehr Bauern mitten in ihren Feldern an. Unser Hof muss zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Nähe der Padrojer Forst gebaut worden sein. Auch alle unsere Nachbarn waren Einzelgehöfte: Puddig, Wallat, Kuprat, Feuersänger, Gutzeit, Thoms. Manche Namen gingen auf Salzburger Protestanten zurück, die ab Anfang des 18. Jahrhunderts in Ostpreußen „nach der großen Pest“ (1709/1710) zur „Repeuplisierung“ des Landes von dem noch jungen Königreich Preußen angeworben worden waren. Doch schon im 17. Jahrhundert hatten Tatareneinfälle (1656) und schwedische Überfälle (1679) die Bevölkerung sehr ausgedünnt. Neben den protestantischen Salzburgern wurden nach der großen Pest Siedler aus Litauen wie aus Deutschland angeworben. Es gab auch alteingesessene Bauern. Mein Vater hat amüsiert erzählt, wie der alte Puddig – sein Nachbar – nicht einsehen mochte, dass es nach preußischem Wahlrecht nur noch eine Stimme pro Person gab und nicht drei. Im Gemeinderat habe der alte Puddig immer dazwischengerufen: „Ek sii Kölmsch“ und wollte sich auf altes Kulm-Magdeburger Recht berufen. In der Tat waren die Puddigs als erbfreie Bauern aus pruzzischer Zeit nach Kulm-Magdeburger Recht seit dem 16. Jahrhundert im Kirchspiel Georgenburg ansässig gewesen. Mein Vater hat auch erzählt, dass seine Mutter, die 1856 geboren war, noch etwas Litauisch verstehen...