E-Book, Deutsch, 193 Seiten
Wetz Rebellion der Selbstachtung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86569-712-7
Verlag: Alibri Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gegen Demütigung
E-Book, Deutsch, 193 Seiten
ISBN: 978-3-86569-712-7
Verlag: Alibri Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alle kennen das Gefühl: Irgendetwas stimmt gerade nicht. Irgendwie werde ich soeben unkorrekt behandelt und spüre einen Widerstand in mir, den Drang aufzubegehren. Aber wie lässt sich dieses Bauchgefühl genauer fassen? Ausgehend vom fragwürdigen Begriff Menschenwürde beleuchtet Wetz unser Selbstwertgefühl anhand zahlreicher Alltagsbeispiele - ohne auf althergebrachte Vorstellungen wie 'Gottebenbildlichkeit des Menschen' zurückgreifen zu müssen. Sein alternatives Konzept knüpft am biologisch erklärbaren Selbsterhaltungsstreben an. Wetz zeigt, wie Selbstachtung definiert, begründet und gelebt werden kann - auch in extremen Lebenssituationen. Welche gesellschaftlichen und persönlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich Selbstachtung entwickelt? Wodurch wird sie bedroht? Wann ist es gerechtfertigt, sich gedemütigt zu fühlen und dagegen anzugehen? Wann schlägt Selbstachtung in Überheblichkeit um? Fazit: Selbstachtung ist eine 'orthopädische Herausforderung': Sie ist die Kunst, aufrecht zu gehen!
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Kampf um Respekt
„Sollte man mir sagen: Krieche! Und ich müsste kriechen? Der Wurm kriecht wohl, ich auch, und wir wandern beide so fort, wenn man uns gehen lässt; aber wir bäumen uns auf, wenn man uns auf den Schwanz tritt. Man hat mir auf den Schwanz getreten, und ich werde mich aufbäumen“,1 schreibt der französische Aufklärungsphilosoph Denis Diderot, überzeugt davon, dass willkürliche Gängeleien – weil sie den menschlichen Stolz verletzen – zwangsläufig Wut und Widerstand provozieren. Dann wird aus einem erniedrigten Wurm ein aufsässiger Rebell. Doch wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Nur wer sich mit der Demütigung nicht abfindet, kann seinen Frieden finden. Seit jeher besteht die größte Herausforderung des Menschen darin, sich mit seinem Dasein auszusöhnen und auf der Erde heimisch zu werden.
Terror und Protest
Wie sich die Bilder gleichen: Mitte des Jahres 2013 gingen Tausende Bürger in Brasilien und der Türkei auf die Straße. Massive Protestwellen brachen in beiden Ländern los. Kurioserweise erhob sich der zivilgesellschaftliche Widerstand ausgerechnet in solchen Staaten, die in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Wirtschaftsboom hinter sich gebracht hatten. Allerdings leiteten die Personen, die an den Hebeln der Macht sitzen, nicht genug erwirtschaftete Erträge in die Taschen der ärmeren Bevölkerungsschichten. Jedoch selbst wenn die Produktionszuwächse bislang nicht bei allen Teilen der Bevölkerung ankamen, profitiert doch eine wachsende Mittelschicht vom enormen ökonomischen Aufschwung.
Darum hat das Ausmaß der Proteste im Ausland viele überrascht. Aufruhr in der Hölle ist normal, aber „Ärger im Paradies“,2 wie Slavoj Žižek die Proteste nannte, nur schwer verständlich. Hatte man vielleicht von der süßen Verführungsdroge Wohlstand und Komfort schon so viel gekostet, dass man süchtig danach geworden war und höhere Dosen brauchte? Wohlstand gleicht doch salzigem Wasser: Je mehr man davon trinkt, umso durstiger wird man – und das heißt: Je besser es den Menschen geht, desto mehr benötigen sie, damit sie sich auch besser fühlen. An erreichte Entlastungen gewöhnt man sich schnell. Darum führt die Verbesserung der Lebensverhältnisse, des objektiven Wohlergehens, nicht automatisch zu einer Verbesserung des Lebensgefühls, des subjektiven Wohlbefindens. Dieses Problem kennt man hierzulande nur zu gut. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob dieser Aspekt bei den sozialen Unruhen eine große Rolle spielte.
Die aufgebrachte Menge kämpfte weder gegen alles noch gegen nichts. In zahlreichen Aktionen und Demonstrationen forderte sie selbstbewusst von den Machthabern, die Sümpfe grassierender Korruption trocken zu legen, mehr politische Partizipation und Bürgerrechte zuzulassen, bessere staatliche Schulen einzurichten und eine umfassende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, um nur einige Punkte zu nennen. Es waren also handfeste Gründe, welche die Menschen zu Massenprotesten zusammenführten.
Zugleich jedoch wurde hinter den verschiedenartigen Forderungen auch ein ideeller Anspruch im Schattenriss sichtbar. Auslöser und Motor der Massenkundgebungen war weniger persönlich erlittenes Elend, obwohl es in Brasilien wie andernorts auf der Welt an materieller Not und sozialer Ungerechtigkeit keineswegs mangelt, als vielmehr die Erfahrung, von den Repräsentanten der Staatsmacht nicht für voll angesehen zu werden. Deshalb kann man sagen: Weltweit begehrten gedemütigte Bürger gegen hochmütige Machtapparate auf. Viele hatten den Eindruck, von oben herab behandelt zu werden. Sie fühlten sich nicht als mündige Bürger ernst genommen. In kollektiven Aktionen, häufig über soziale Netzwerke im Internet organisiert, protestierten sie vor allem gegen Geringschätzung, Unterdrückung und Bevormundung. Die Aufständischen wiesen in verschlüsselter Form auf ihr verletztes Selbstwertgefühl hin. Wir wurden Augenzeugen einer Rebellion der Selbstachtung.
„Ich empöre mich, also sind wir“, heißt es in Albert Camus’ Der Mensch in der Revolte.3 Denn von Entrüstung geht eine Ansteckungsgefahr aus. Das gilt besonders im digitalen Zeitalter. Social Media können solche Revolten wie in Brasilien oder der Türkei schnell entfachen und die Selbstachtung in den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit rücken.
Mal richten sich derlei Aufstände gegen autoritäre Staatsführer, mal gegen machtbesessene Diktatoren, mal gegen transnationale Konzerne. Sie sind keineswegs bloße Spaßunternehmungen, weder politische Freizeitgestaltung noch übermütiger Zivilisationsgenuss. Die Demonstranten sind keine dekadenten Dandys, die, von romantischem Heimweh gepackt, ihren Orientierungsschwund mit buntfarbigen Feuerwerken zu betäuben suchen. Viele Menschen sind einfach empört, wenn sie ihr Leben nicht mal halbwegs nach eigenen Vorstellungen führen können. Die mangelnde Aussicht auf ein freies und gutes Leben möchten sie nicht weiter widerspruchs- und widerstandslos hinnehmen. Irgendwann lässt man sich nicht mehr alles gefallen. Die Idee der Selbstachtung hilft, sich einen Reim auf diese sozialen Unruhen zu machen.
Wie sich die Bilder unterscheiden: Weltweit kämpfen junge Muslime gegen die westlichen Glücksversprechen im Namen eines Gottes, der ihnen Tapferkeit, Gehorsam und Opfermut bis zum Tode abverlangt. Die Hingabe an eine übergeordnete Idee zieht kampfbereite Muslime in einen heiligen Krieg. Für ihren Glauben, der dem eigenen Dasein einen tieferen Sinn und eine höhere Bedeutung gibt, sind sie bereit zu sterben. Wie schon unsere Dichterfürsten Goethe und Schiller wussten, fühlt man das Leben nie intensiver als in der Nähe des Todes. „Und so du das nicht hast, dieses: Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde“, schreibt Goethe in Selige Sehnsucht,4 und Schiller fügt im Wallenstein hinzu: „Setzt ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“5 In diesem Sinne dienen arabische Gotteskrieger einer überindividuellen Aufgabe, einer Wahrheit, für die es sich lohne, sein Leben einzusetzen. Sie möchten ihr Dasein nicht bloß in sinnlichem Wohlbehagen und gottlosen Vergnügungen zubringen.
In einer ansonsten unerträglichen Abhandlung unterscheidet Werner Sombart 1915 auf überzeugende Weise zwischen Händlern und Helden, Krämern und Kriegern. Charakteristisch für erstere ist es zu fragen: Was kannst du Leben mir an Annehmlichkeiten, Komfort und Glück bieten? Händler möchten für möglichst wenig Gegenleistung viel nehmen dürfen. Dagegen tritt ein Held ans Leben mit der Frage heran: „Was kann ich dir Leben geben? Er will schenken, will sich verschwenden, will sich opfern.“6 Die ebenso stolzen wie kampfbereiten Gotteskrieger von heute gleichen Sombarts Helden.
Aufruhr ohne Hunger
So verschiedenartig, ja gegensätzlich die protestierenden Aktivisten gegen Korruption, Entmündigung und Staatswillkür auf der einen Seite und die muslimischen Gotteskrieger auf der anderen Seite sind: Beide Gruppierungen verbindet, dass sie nicht aus purer materieller Not handeln. Die Tatsache, dass viele Demonstranten arm sind, bedeutet nicht automatisch, dass ihr Protest materieller Not entspringt. Es sind nicht die dürftigen Lebensverhältnisse, die Hunger, Armut und Obdachlosigkeit über sie gebracht hätten, welche sie auf die Straße und in den Kampf treiben. Fast alle Aufrührer sind gut ernährt. In vielen Ländern mit sozialen Unruhen geht es sogar, wie dargelegt, seit Jahren wirtschaftlich aufwärts. Dennoch sind die verheerenden Folgen einer ungebremsten Wettbewerbswirtschaft unübersehbar: Verelendung und Ausbeutung der strukturschwachen Regionen, Verbreiterung der Gräben zwischen den sozialen Schichten, Zerstörung von Umweltressourcen. Trotzdem kommen die meisten Rebellen und Terroristen nachweislich nicht aus Milieus, wo es an Nahrungsmitteln fehlt.7 Es ist also kein Aufstand der Hungernden und Analphabeten. Im Gegenteil sind auffällig viele Störenfriede und Hasskrieger sogar verhältnismäßig gut gebildet. Dies trifft auf eine Reihe islamistischer Prediger und Attentäter in besonderem Maße zu.
Wären sie entkräftet, könnten sie vielleicht auch gar nicht die Kraft aufbringen, die zur Rebellion erforderlich ist. Da liegt der Schluss nahe: Je mehr sich die soziale Lage in einem Land verschlechtert, umso weniger menschliche Ressourcen stehen zur Verfügung, um noch gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Große Demonstrationen und Aktionen müssten dann ausbleiben. Denn der Überlebenskampf würde die verbliebene Vitalität fast gänzlich verbrauchen. In diesem Falle wären nur kleine, spontane Aufstände vorstellbar.
Jedoch sprechen bereits zahlreiche geschichtliche Erfahrungen gegen eine solche Vermutung. Im 19. Jahrhundert, als die sogenannte soziale Frage die politischen Debatten in Europa beherrschte, kämpfte die ausgebeutete Arbeiterschaft wie etwa die schlesischen Weber und die Lohnempfänger der Lyoner Textilfabriken für die Behebung ihrer materiellen Not. Sie forderte sowohl ausreichend materielle Versorgung als auch geistige Bildung, weil beides unabdingbare Voraussetzungen für ein „wahrhaft menschenwürdiges Dasein“ sind, wie Ferdinand Lassalle in seinem Arbeiterprogramm schreibt.8
Armut und Ausbeutung sind durchaus Zündstoffe, die soziale Unruhen zum Brennen bringen können. Nicht selten aber werden die Flammen des Protests mit Schlagstöcken fortgeknüppelt oder mit aggressiven Tränengasgeschossen und willkürlichen Verhaftungen erstickt. Gewalttätiges Vorgehen gegen Demonstranten, Räumungen...




