E-Book, Deutsch, 253 Seiten
White Der Peststein
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95824-872-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 253 Seiten
ISBN: 978-3-95824-872-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt. Bei dotbooks veröffentlichte Gillian White ihre Spannungsromane »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge«, »Der Nachmieter«, »Das Ginsterhaus«, »Das Familiengrab« und »Das Hotel bei den Klippen«. Die letzten drei Romane sind auch im Sammelband erhältlich.
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Kapitel 1
Nicht dass ich abergläubisch wäre. Das könnte ich mir gar nicht leisten. Schließlich habe ich von Berufs wegen ständig mit Statuen, Masken und Totems zu tun … Relikten, denen die Magie vergangener Zeiten anhaftet, Zeiten, in denen der Aberglaube noch das tägliche Leben der Menschen bestimmte. Glaubte ich an diese nicht erklärbaren Dinge, müsste ich mir ernsthaft Sorgen um meinen Verstand machen.
Doch Aberglaube hin oder her, als ich meine Nachforschungen abgeschlossen hatte, begriff ich, warum die Leute von Meadcombe ohne Ausnahme verlangten, den Peststein zu entfernen. Er sollte verschwinden, sollte aus ihrem Gedächtnis und der Mitte ihres Dorfplatzes getilgt werden.
Sie glaubten tatsächlich, Wünschen allein reichte aus. Ohne Papierkrieg, ohne die Mühlen der Bürokratie! Man müsse einfach einen Bulldozer holen, brauche behelmte Männer, um den Megalithen auszugraben und auf den Lastwagen zu hieven … ihn irgendwo abzuladen, möglichst weit genug weg von Meadcombe und außerhalb des Blickfelds der Dorfbewohner.
Aber natürlich funktioniert das so nicht. Da müssen Formulare ausgefüllt und Nachforschungen angestellt werden. Man kann nicht in ein paar Minuten etwas auslöschen, das über Millionen von Jahren das Gesicht einer Gegend geprägt hat. Der Peststein ist wohldokumentiert, steht sogar auf einer Naturdenkmalliste. Er ist nationales Eigentum und ruht auf geschichtsträchtigem Grund und Boden.
Scharenweise pilgerten die Touristen wegen ihm nach Meadcombe. Von Flechten überzogen und voller Schrammen wie ein alter Wal gehörte er zu den Sehenswürdigkeiten, derentwegen die Menschen eine Reise auf sich nahmen, um sich dann, sobald man davor stand, verwundert zu fragen, ob sich der Aufwand gelohnt hatte. Ihn nur anzusehen, wurde ihm nicht gerecht. Anfassen musste man ihn. Dann spürte man ihn, so wie ihn Tausende von Fingern vor einem gespürt hatten, und man konnte versuchen, sich darauf einzulassen, wie alt er tatsächlich war. Was nicht gelingen kann. Unser Gehirn ist nämlich nicht in der Lage, diese Zeitlosigkeit zu ertragen. Es ist ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen, wie sich auf die Heide zu stellen und die Arme auszubreiten, um die Zeit einzufangen. Dabei lag es nicht an der Größe des Steins, die beeindruckend genug war, es war seine Aura.
Bis zu dem Zeitpunkt, als diese Petition im Ministerium eintraf, hatte ich noch nie von Meadcombe gehört. Nach Beendigung meiner Nachforschungen kannte ich es gut – einige der Überlebenden hatte ich sogar persönlich kennen gelernt. Die Polizei stellte natürlich ihre eigenen Ermittlungen an und gewährte mir Einsicht in die Akten. Meine Berichte waren kurz und knapp, wobei ich mich auf die Fakten stützte. Dennoch gibt es mehr als die nackten Tatsachen, Überlegungen, die den Kern des Ganzen zwar eher treffen, die Behörden jedoch nicht interessieren. Die Natur des Menschen … die gegenseitige Überwachung, die so typisch ist für das englische Dorfleben, das Verhalten der Frauen, die gesellschaftlichen Zwänge und nicht zuletzt das Böse … das brachte bereits vor Hunderten von Jahren das teuflische Gebräu zum Brodeln.
Atmosphäre. Die Atmosphäre muss ich unbedingt erwähnen. Die monotonen Straßenzüge von Neubausiedlungen wären als Bühne für dieses Szenario sicher ungeeignet.
Ein englisches Dorf also … und kein Anzeichen des aufziehenden Sturms. Kein Windhauch, nichts. In früheren Zeiten saßen die alten Frauen in Nächten wie diesen, wenn der Herbst dem Winter Platz machte, am Herdfeuer und erzählten ihren Enkelkindern Geschichten.
Es ist Nacht, und das Dorf Meadcombe liegt unter dem lavendelfarbenen Wolltuch der umliegenden Hügel begraben. Es lugt unter seiner Bettdecke hervor wie ein in tiefem Schlummer liegendes weißes Einhorn, das sich um eine Kirchturmspitze schmiegt. Weiß gekalkte Mauern, glänzend lackierte Tore und – tagsüber – strahlend weiße Wäsche an den Wäschespinnen.
Der Peststein hatte schon immer gestört, hatte nie richtig auf den Dorfplatz gepasst. Meadcombe war ein solch normales Dorf, und dieser Stein so düster, ja unheimlich, wie er aus pockennarbigen, steinernen Augen hinunterstarrte auf seinen spindeldürren Bruder, das Kriegerdenkmal, als wäre dieses von Menschenhand errichtete Bauwerk vulgär, als reiche ein Windhauch, um es umzustoßen. Denn der Peststein ist viel, viel älter und verdankt sein Dasein nicht einer bloßen Laune des Menschen. Er wurde bei der Geburt der Erde geformt, aus ihrem brodelnden Leib hinausgeschleudert und Millionen Jahre später von einer sich langsam vorwärts schiebenden eiszeitlichen Gletscherzunge in seine gegenwärtige Position gebohrt. Und niemand weiß, wie viele Millionen Jahre er hier noch bleiben wird.
Am 19. September erreichen den Peststein nach Einbruch der Dunkelheit gleichzeitig drei Wünsche. Einer kommt von der anderen Seite der Straße, aus einem Cottageschlafzimmer, von dem aus man den Dorfplatz überblicken kann. Aus einem Cottage, an dem die Rosen die Köpfe leblos vom Spalier hängen lassen, deren Blütenblätter so gefleckt und trocken sind wie die Wangen der schlafenden Greisin im Obergeschoss.
Der zweite Wunsch kommt von dem Mädchen, das neben dem Stein sitzt und ohne irgendwelche religiösen Skrupel eine Zigarette am breiten Granitsockel ausdrückt. Und der dritte Wunsch weht zusammen mit dem Duft angebratener Zwiebeln durch die geöffneten Sprossenfenster des Dorfpubs herüber.
Jeder Wunsch ist auf seine Weise böse, auch wenn die Wünschenden anderer Meinung sein mögen. Jeder Wunsch richtet sich in der Form eines Gebets an Gott, doch der Peststein steht im Wege, lenkt die Worte ab vom Kirchturm, ihrem eigentlichen Ziel.
Der erste Wunsch kommt von Marian Law, und sie betet, ihre Schwiegermutter möge heute Nacht sterben … oder wenn schon nicht heute Nacht, dann wenigstens möglichst bald.
Den zweiten äußert Melanie Tandy – sie wünscht sich, endlich der Enge des Dorfes zu entrinnen und nichts mehr mit ihrer Familie und der Schule zu tun zu haben müssen.
Sonia Hanaford schließlich, die Dritte, die sich etwas wünscht, möchte, dass Paul und ihr die Erniedrigung eines Bankrotts erspart bleiben. Ich sprach mit Marian Laws Freunden.
Nicht dass sie gläubig war oder je gläubig gewesen wäre, aber ihre Angewohnheit, Wünsche als Gebet zu äußern, war ein Ritual aus der Zeit, als sie an ihrem Pult in der einklassigen Dorfschule lernte. Müde blickt sie aus dem Fenster, ihre Augen suchen nach dem Kirchturm, doch der Peststein versperrt ihr die Sicht.
»Lieber Gott, ich halte es nicht mehr aus«, klagt sie, nachdem sie Constance die orthopädischen Schuhe ausgezogen und ihre breiten, weißen Füße unter die Bettdecke geschoben hatte. »Die Last ist zu schwer. Lass sie sterben, lieber Gott. Es wäre eine Erlösung, eine Gnade für sie! Hilf mir, hilf mir, lass mich nicht im Stich.«
Wie lange, fragt sie sich, kann sie noch so weitermachen? Mit schweren Schritten geht sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo die Stille sie empfängt, die Einsamkeit.
Wenigstens hast du die Kinder, hatte man sie vor sieben Monaten und drei Tagen, nach Rogers Tod, zu trösten versucht. Ja, die Kinder bleiben ihr, aber wann sind die schon einmal zu Hause.
Im Krankenhaus sprach ich mit Janey Tandy, ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich redete mit ihren Bekannten … zumindest mit denen, die sich dazu bereit erklärten.
Mit ihrem Freiheitswunsch wäre Melanie bei ihrer Mutter auf offene Ohren gestoßen. Wenn Melanie nach Hause in das kleine Reihenhaus der Tandys kommt, eines von sechs Landarbeitercottages, im übernächsten wohnen die Laws, bekommt sie beinahe Erstickungsanfälle.
»Jesus im Himmel, hilf mir, dass ich von hier wegkomm«, murmelt sie. Ihr gerade geschnittener Pony erinnert an eine russische Puppe. Schon immer hatte sie das Leben hier als eine Lüge empfunden. Doch was für eine Wahl hatte man schon als Kind? Mit den Menschen verbindet sie nichts. Obwohl sie hier geboren wurde, gehört sie nicht dazu, so wie ihr Vater dazugehört. So wie der Stein keine Wahl hatte … er war Teil des Dorfes und doch wieder nicht. Für einen kurzen Augenblick flammt ein Zündholz auf und wirft ihren Schatten über den Stein. Der Schatten gleitet schmal, zart wie eine Spinnwebe darüber und schrumpft, als die Flamme erlischt.
Ich bemerkte, dass die Leute im Dorf ganz begierig darauf waren, über die Hanafords zu reden.
Niemand außer Sonias Mann Paul vielleicht wünschte sich so sehr ein finanzielles Wunder wie Sonia Hanaford, denn das ganze Dorf und ganz besonders ihre Freunde hätten sich diebisch darüber gefreut, den Niedergang der arroganten Bewohner des Herrenhauses mit ansehen zu können … Wie gern hätten sie von dem Drama erfahren, das sich anbahnte, schließlich glaubten sie, im Gegensatz zu ihnen sei Sonia auf Rosen gebettet. Sie erweckte nie den Eindruck, als ginge es ihr schlecht, erzählte nie von irgendwelchen Schwierigkeiten. Und es ist nicht einfach mit einer solchen Freundin. Nein, Sonia war nie wirklich eine von ihnen gewesen. Verglichen mit ihnen, die jeden Pfennig umdrehen mussten und nachts wegen ihrer Geldsorgen kein Auge zutaten, führte Sonia ein sorgloses, leichtes Leben. Das dachten die Leute jedenfalls. Und Sonia und Paul Hanaford sind typische Neureiche, auch wenn Paul in Meadcombe geboren wurde. Sie sind Yuppies und wissen – anders als die alteingesessenen Bloggs, die seit Generationen ihre Besitzungen hier bewirtschaften – nicht, wie man reich ist und sich richtig benimmt.
»Stan, wir bitten dich doch nur um ein Darlehen«, fleht Sonia Hanaford ihn an, ein Teller mit Hühnchen à la Kiew vor sich. Dabei bemüht sie sich, nicht den üblichen verächtlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
Stanley Hanaford starrt sie...