E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Wiens Bühne
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95749-505-1
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95749-505-1
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Birgit Wiens ist Theater- und Kunstwissenschaftlerin, z. Zt. Privatdozentin an der LMU München und lehrt an Universitäten und Kunsthochschulen im In- und Ausland (Norwegen, Schweiz). Tätigkeit als Kuratorin und Dramaturgin (u. a. für Labore für Digitale Szenografie, Szenografie-Bund 2022, realisiert mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien). 2015-2020 Leitung des interdisziplinären Forschungsprojekts 'Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart' (im DFG Heisenberg-Programm). Zahlreiche Veröffentlichungen, Buchpublikation zuletzt (Ed.): Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design. London, New York (2019) 2021.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Szenografie, Performance Design und Theaterforschung / Seite 25
II. Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater / Seite 77
III. Episteme, Ästhetiken und das Gedächtnis der Szenografie / Seite 174
Perspektiven der Theaterszenografie: Résumé und Ausblick / Seite 256
Keine Bühne ohne Szenografie – Einleitung
Dieses Buch beginnt mit der Erinnerung an eine eindrückliche, heute bereits merkwürdig fern erscheinende Situation im Frühjahr 2020, von der auch das Foto auf dem Einband erzählt: Als die Theater, Museen und überhaupt alle Veranstaltungsorte damals pandemiebedingt plötzlich schließen mussten, war eines morgens auf dem Asphalt einer Straße in Berlin-Mitte das Wort „Bühne“ zu lesen. Wer immer es in großen weißen Lettern auf den Boden gesprüht hatte: Es mutete unter den Umständen an wie eine Behauptung und ein trotziges Insistieren auf etwas, das auf unabsehbare Zeit verloren schien, und – wenn man es so lesen wollte – wie eine Frage nach der gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung von Bühnen, nach ihrer Verortung, Funktion sowie nach ihrer kulturellen und sozialen Relevanz. Im Vorübergehen trat einem die Schrift gleichsam entgegen und machte aus dem Straßenabschnitt ein szenografiertes Setting, eine Bühne (jedenfalls als Behauptung) und das ‚Hier und Jetzt‘ einer Situation, die – sofern man sich als Zufallspublikum darauf einließ – ein Nachdenken über die Frage provozierte: Was eigentlich ist eine Bühne?
„Umgangssprachlich ist ‚Bühne‘ eine der wohl am häufigsten verwendeten Theatermetaphern“, heißt es in einer Publikation aus dem Jahr 2014, die sich theater-, kunst- und medienwissenschaftlich der Frage nach Bühnen, Raumpraktiken und -wahrnehmungen widmet (Eke/Haß/Kaldrack 2014, 9); gleichwohl bleibt der Begriff, der „sich in seiner metaphorischen Qualität ebenso auflöst wie zeigt“ (Schellmann 2018, 51), erst einmal unscharf. Wir kennen und erleben Bühnen als Auftrittsorte aller aufführenden Künste und als Orte sozialer Begegnung – und auch jenseits von Theatern, Konzertsälen und ausgewiesenen Veranstaltungsräumen kommt heute ein breiter Kultur- und Kreativsektor ohne Bühnen nicht aus. Gemäß ihrer Funktion sind Bühnen, allgemein gesprochen, temporär oder dauerhaft etablierte Spielorte aller aufführenden Künste sowie unterschiedlichster Veranstaltungsformate. Gebaute Bühnen bilden, gemeinsam mit dem Zuschauerraum, das ‚Kernstück‘ von Theaterarchitektur (europäischer Prägung) – sei es in Form eines Guckkastens oder etwa als offenvariable Raumbühne. Der Blick in die Gegenwartskünste, in die Historie und in unterschiedliche Theaterkulturen zeigt zudem, dass es nicht notwendig gebaute Bühnen braucht, damit Aufführungsereignisse stattfinden. Um einen Ort in eine Bühne zu verwandeln, bedarf es – wie der
1 Red Crossing, partizipative Performance, Beitrag der Künstlergruppe Assocreation / Everyday Places zur Sektion Formations (Kurator:innen: D. Chase Angier, Serge von Arx), Quadrennial of Performance Design and Space, Prag 2019. Foto: Assocreation (Wien, A/Ann Arbor, USA)
Performance design/scenography today is often presented through live and immersive experiences, where all senses can be involved and the audience members take on an active role. Thus, it can be seen as an art form that goes beyond the visual, into an experiential and sensorial realm with a focus on interdisciplinary collaboration, giving creative expression to new ideas and experiments. (…) As such, it can occur in an unbounded range of environments: from the traditional theatre stages, through experimental performance venues, to any type of found sites and spaces – from urban to rural, industrial to landscape, interior or exterior, physical, virtual, or mixed. A growing amount of creative work comprises a variety of new media and involves various other professions and disciplines – in applied settings, as well as in innovative experimental formats. (…) The present-day practice of scenography is one of the most exciting art forms and creative domains – in the innovative and holistic ways of engaging their audiences, participants, and the public.
Markéta Fantová/Barbora Príhodová/Pavel Drábek: „How do we see performance design/scenography?“ (2023)1 amerikanische Regisseur und Performancetheoretiker Richard Schechner postuliert hat – jedoch mindestens einer Markierung: „(…) this transformation is accomplished by ‚writing on the space', as the cave art of the Palaeolithic period demonstrates so well. This writing need not be visual, it can be oral as with the Aborigines“ (ders. 1988, 148f.). Bemerkenswert ist, wie Schechner die Bühne bereits in ihren frühesten Formen mit dem Schreiben (oder jedenfalls einem sehr weit gefassten Verständnis dieser Kulturtechnik) verbindet, mit anderen Worten: mit der Szenografie.
Begriffsgeschichtlich hat ‚Szenografie‘ (s??????af?a, Kompositum aus skene, Bühnenhintergrund, und graphein, schreiben) ihre Anfänge nachweislich im Theater der griechischen Antike und bezeichnete dort in erster, ursprünglicher Bedeutung eine Praxis des Bemalens, Gestaltens der Bühnenhausfront im Gesamtensemble des antiken theatron.2 Im aktuellen Sprachgebrauch wird der Begriff verwendet als Name einer „Disziplin, die sich explizit dem Raum und seiner Inszenierung widmet“ (Barthelmes 2011, 18). Obschon sie eng mit der europäischen Theatergeschichte liiert ist und etymologisch aus dieser hervorging, bestimmen heute kulturhistoriografisch, transkulturell und performancetheoretisch deutlich weiter gefasste Perspektiven die Diskussion über Szenografie. Das Spektrum der Inszenierung und kulturellen Produktion von Raum, die der Begriff demnach beschreibt, ist groß und gegenwärtig fast unüberschaubar geworden. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies regelmäßig auf der Prager Quadriennale (PQ), dem weltweit bedeutendsten Präsentations- und Diskussionsforum für Szenografie und Performance Design. Initiiert wurde die Quadriennale in den 1960er Jahren von dem UNESCO-geförderten Theaternetzwerk ITI (International Theatre Institute / Institut international du théâtre / Internationales Theaterinstitut). Für den Standort Prag hatte man sich entschieden, nachdem auf der Kunstbiennale São Paulo (Bienal de São Paulo), einer Ausstellung für Malerei, Skulptur, Grafik und auch Bühnenbild, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Beiträge tschechischer Künstler (František Tröster, Josef Svoboda, Jirí Trnka und Ladislav Vychodil) besonders auffielen und wiederholt erste Preise gewonnen hatten.3 Die erste PQ fand 1967 unter Beteiligung von insgesamt 20 Ländern aller Kontinente statt, darunter beide Teile des damals geteilten Deutschlands. Auch bis Ende des Kalten Kriegs wurde sie regelmäßig alle vier Jahre durchgeführt und gewann seit den 1990er Jahren – mit zuletzt pro Edition etwa 60–70 beitragenden Ländern – noch an Umfang und Sichtbarkeit. Anfänglich als Länderwettbewerb angelegt (mit dem Hauptpreis „Goldene Triga“), versteht sie sich heute als Festival. Ihr Hauptprogramm, die „Exhibition of Countries and Regions“, wird nunmehr begleitet von Performances, Hochschulforen, Workshops, Lectures sowie Symposien und Buchpräsentationen, mit denen man sich zudem auch die theoretische Reflexion und wissenschaftliche Beforschung der Szenografie zur Aufgabe macht. Doch nicht nur das Programm, sondern auch ihr Name hat sich seither verändert: Nachdem sie zunächst als „International Exhibition for Stage Design and Theatre Architecture“ firmierte, präsentierte man sich ab 2003 als „International Exhibition for Scenography and Theatre Architecture“, und seit 2011 heißt sie offiziell: Prague Quadrennial of Performance Design and Space. Diese Namensänderungen – mit dem Verzicht auf die Termini ‚Bühnenbild‘ und ‚Theaterarchitektur‘ – signalisieren mehrmalige Perspektivwechsel, begriffliche Neujustierungen und ein offenbar ständig in Bewegung befindliches Denken über die Bühne und ihre Gestaltungen (vgl. Lotker/Gough 2013, Lotker 2015, Fantová/Príhodová/Drábek 2023). Besonders signifikant sind dabei zweierlei Aspekte: zum einen, dass Szenografie, nach heutigem Verständnis, eine holistische und ‚kompositorische‘ Praxis ist, die sowohl Bühnenraum-, Objektgestaltung, Kostüm- und Maskenbild wie auch Licht-, Video- und Sounddesign einschließt (dafür steht, synonym, auch der Begriff ‚Performance Design‘). Die zweite Annahme ist, dass sie eine Kunst bzw. Gestaltungsdisziplin ist, die Konstellationen des Zusammenkommens, des Zeigens und Wahrnehmens sowie der Interaktion und teilnehmenden Reflexion entwirft und als solche in verschiedenen Kunst- oder auch Alltagskontexten (Theater, Ausstellung/Museen, Eventkultur,...