Wihstutz / Vecchiato / Kreuser | #CoronaTheater | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

Wihstutz / Vecchiato / Kreuser #CoronaTheater

Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95749-446-7
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

ISBN: 978-3-95749-446-7
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Pandemie hat die performativen Künste grundlegend verändert: Theatersäle wurden umgebaut, digitale und hybride Performance-Formate erfunden, Konzerte gestreamt, Quarantäne-Videos produziert und neue Möglichkeiten der Zuschauerpartizipation entwickelt. Der Band geht diesem dramaturgischen, räumlichen und institutionellen Wandel der letzten Jahre nach und fragt nach der postpandemischen Zukunft von Theater und Performance. Die Beiträge aus Theater-, Literatur- und Medienwissenschaft sowie drei abgedruckte Gesprächsrunden mit Theaterschaffenden skizzieren ein umfassendes Bild des Wandels und debattieren dabei auch Fragen von Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Inklusion. Mit Beiträgen von Stefano Apostolo, Kai van Eikels, Sotera Fornaro, Ole Frahm, Maximilian Haas, Georg Kasch, Doris Kolesch, Mirjam Kreuser, Ramona Mosse, Matthias Pees, Yana Prinsloo, Alexandra Schneider, Holger Schulze, Marion Siefért, Antje Thoms, Doris Uhlich, Sandra Umathum, Daniele Vecchiato, Anna Wagner, Julian Warner, Noa Winter, Julia Wissert, Benjamin Wihstutz und Jana Zöll. Das EPUB ist barrierefrei.

Mirjam Kreuser ist Theaterwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Humandifferenzierung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Daniele Vecchiato ist Assistenzprofessor für Germanistik an der Universität Padua. Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität.
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Weitere Infos & Material


Benjamin Wihstutz, Daniele Vecchiato und Mirjam Kreuser
#CoronaTheater – Einleitung / Seite 7

PANDEMISCHE PUBLIKA UND DRAMATURGIEN / Seite 14

Doris Kolesch
Gemeinsam/Allein

Publikum in digitalen Performances / Seite 16

Ramona Mosse
Auf der Suche nach dem Publikum

Zuschauerräume in der Pandemie / Seite 29

Neue Räume und Dramaturgien / analog

Ein Gespräch zwischen Benjamin Wihstutz, Doris Uhlich, Ole Frahm und Antje Thoms / Seite 43

Mirjam Kreuser
»The people formerly known as the audience«

Dramaturgie, Aufmerksamkeitsökonomie und

Subjektdispositive im Netztheater / Seite 55

Daniele Vecchiato
»Konflikte sind voller Aerosole«

Dramatisierungen der Corona-Krise auf

deutschsprachigen Bühnen / Seite 68

Neue Räume und Dramaturgien / digital

Ein Gespräch zwischen Georg Kasch, Jana Zöll,

Anna Wagner und Marion Siéfert / Seite 82

Alexandra Schneider
Amateur-Experimente als Theorielabor

Corona-Home-Videos, pandemische Medien und die Frage der Distribution – eine unsystematische Intervention

in sechs Einstellungen / Seite 94

Holger Schulze
Affektrepertoires der Selbsteuphorisierung

Kleine Anthropologie des gestreamten Konzertes / Seite 108

POSTPANDEMISCHE INFRASTRUKTUREN UND

NACHHALTIGKEIT / Seite 122

Maximilian Haas
Generalprobe Corona

Pandemie und Klima / Seite 124

Benjamin Wihstutz
Über Fluglärm

Pandemische Arbeiten von LIGNA und Lawrence Abu Hamdan / Seite 138

Stefano Apostolo und Sotera Fornaro
Zwischen Mythos, Klimakrise und Pandemie

Zur Inszenierung von Alexander Eisenachs

Anthropos, Tyrann (Ödipus) / Seite 154

Zukünftige Arbeitsweisen und Infrastrukturen:

Machtkritik und Nachhaltigkeit in der Theaterpraxis
Ein Gespräch zwischen Sandra Umathum, Noa Winter, Julia Wissert, Matthias Pees und Julian Warner / S. 167

Yana Prinsloo
Theaterarbeit als Reproduktionsarbeit 178
Über spekulatives Fabulieren im pandemischen Theater / S. 178

Kai van Eikels
Und geht das also nun wirklich in Richtung 191
ökologische Dramaturgie?

Drei Anzeichen dafür / S. 191


Doris Kolesch

Gemeinsam/Allein


Publikum in digitalen Performances

Es hat sich zum geflügelten Wort entwickelt, die Corona-Pandemie als Brennglas für in unseren Gesellschaften vorhandene Probleme und Defizite zu sehen. Wir wussten es vorher, aber Corona hat in Deutschland (und nicht nur hier) den Rückstand mit Blick auf Digitalisierungsprozesse in Schulen, Verwaltungen und im Gesundheitssystem, aber auch mit Blick auf die ungleiche, auch im beginnenden 21. Jahrhundert noch immer einseitig geschlechtsbezogene Verteilung häuslicher Care- und Betreuungsarbeit oder auch bezüglich der massiv überfordernden und zu Lasten der Beschäftigten gehenden Zumutungen in der Betreuung kranker und/oder pflegebedürftiger Mitmenschen mit geradezu erschreckender Klarheit und Deutlichkeit vor Augen geführt. Ich möchte die Liste der virulenten gesellschaftlichen Problemlagen, die durch die Pandemie hervorgekehrt, zur Kenntlichkeit entstellt und geradezu vorgeführt wurden und werden, hier nicht weiter verlängern, sondern in diesem Beitrag nach dem fragen, was das Brennglas der Pandemie mit Blick auf die Publika der performativen Gegenwartskünste zum Vorschein brachte. Auch dies, das werde ich zu zeigen versuchen, ist nichts wirklich Neues, nichts, was uns gänzlich überraschen könnte, aber doch eine – wie ich denke – bemerkenswerte Akzentuierung und Verschiebung des Blicks und der Koordinaten.

Ich habe mein offenes, sich noch mitten in der Bewegung und Abwägung befindendes, keineswegs abgeschlossenes Nachdenken unter den Titel Gemeinsam/Allein gestellt. Beide Formulierungen, also gemeinsam oder Gemeinsamkeit ebenso wie allein oder Alleinsein sind keine theaterwissenschaftlichen oder überhaupt wissenschaftlichen Begriffe und sie sind schon gar keine analytischen Konzepte.1 Sie scheinen mir jedoch als Ausgangspunkte geeignet, um die Zumutungen und Herausforderungen von Corona sowie die mittel- wie langfristigen Auswirkungen der Pandemie für Theater und Performances in Bezug auf das Publikum einzufangen. Denn gemeinsam und allein sind jeweils zwei Extrempole subjektiver Befindlichkeit, Zugehörigkeit und Verortung, die erstaunlicherweise nur zusammen wesentliche Positionierungen und Figurationen eines Präsenzpublikums präzise beschreiben: Gemeinsam, denn ein Präsenzpublikum zeichnet sich meistens durch eine Anzahl verschiedener Personen aus, das kann eine kleine Gruppe, das können aber auch – im Theater – 800 oder 1000 oder noch mehr Menschen sein, die sich gemeinsam an einem Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt versammeln, um ihre Aufmerksamkeit idealerweise primär auf ein Aufführungs- oder zumindest ein Beziehungsgeschehen zwischen Akteur*innen und Teilnehmenden zu fokussieren. Dabei besteht ein Publikum zumeist aus einander fremden Personen, wenngleich einzelne Publikumsmitglieder als Freund*innen, Ehe- oder Lebenspartner*innen, Schulklasse, Theaterverein oder auch Studierende durchaus auch außerhalb der theatralen Zusammenkunft Kontakte oder gar persönliche Beziehungen unterhalten können. Und diese weitgehend einander fremden Personen werden durch ihre Adressierung als Publikum einer Aufführung überhaupt erst hervorgebracht und treten körperlich in Erscheinung.2 Nun könnte man einwenden, dass die in den letzten zwei Jahrzehnten – also lange vor Corona – zunehmend etablierten one-on-ones im Rahmen von Aufführungen der These von der Kollektivität theatraler Rezeption widersprechen, da sie aufzeigen, dass ein Publikum auch aus nur einer Person bestehen kann. Seit Beginn des neuen Jahrtausends mehren sich Produktionen, in denen entweder einzelne Zuschauer*innen zumeist vor den Augen der anderen ausgewählt werden, um an einem vom Rest des Publikums separierten Ort eine besondere Begegnung zwischen Performer*in und Zuschauer*in zu ermöglichen, oder die sich überhaupt nurmehr an einzelne Teilnehmer*innen richten.3 Ein Blick in die Geschichte der Performance-Kunst zeigt zudem, dass sich schon früh eine Tradition von Performances ohne Publikum herausgebildet hatte, wie die Aktion ohne Publikum (#35) von Tomas Schmit (1965) oder die Silueta Series von Ana Mendieta (1973 – 1980) – um hier nur zwei Beispiele in einer langen Liste von Performances ohne Publikum zu nennen –, hier konnte ein Präsenzpublikum überhaupt nicht in Erscheinung treten. Gleichwohl möchte ich argumentieren, dass derartige Arbeiten ihre Kraft und ihr Potential gerade aus der negativen Bezugnahme auf eine kollektive Zuschauer*innenschaft gewinnen. Die Kollektivität des Rezeptionsprozesses kennzeichnet mithin theatrale Publikumserfahrungen – im Unterschied beispielsweise zur Erfahrung des stillen Lesens allein oder auch der anders gearteten Kollektivität von Museumspublika, deren Mitglieder weit loser räumlich wie zeitlich konfiguriert sind und die – außer eventuell beim Schlange-Stehen vor dem Museum – kaum kollektive Choreografien ausführen und auch selten synchronisiert Interesse, Beifall oder Ablehnung bekunden, wie Präsenzpublika dies durch Applaus, Buhrufe und Ähnliches tun.4

Damit sind wir beim zweiten Term: allein. Die grundsätzlich gemeinschaftliche Rezeption einer Theateraufführung oder einer Performance steht nicht im Widerspruch dazu, dass diese Rezeption zugleich eine paradigmatische Situation der Erfahrung von Dissonanz, Nicht-Zugehörigkeit oder Alleinsein darstellen kann, eine Erfahrung von Vereinzelung, die gerade in und aufgrund der kollektiven Situation umso deutlicher hervortritt. Wer kennt zum Beispiel nicht die Erfahrung, dass scheinbar das gesamte Auditorium herzlich lacht, während man selbst offenbar als einzige*r den Witz nicht verstanden oder den falschen Humor hat. Oder man ist mental wie körperlich geradezu gebannt von einem Aufführungsgeschehen, wird aber durch gelangweilt tuschelnde oder die letzten News-Feeds am Smartphone überfliegende Sitznachbar*innen immer wieder mit der Hinterfragung der eigenen Wahrnehmungserfahrung konfrontiert.

Die titelgebende Wortkombination Gemeinsam/Allein wird damit zu einem Suchbegriff für eine noch kaum näher untersuchte und schon gar nicht befriedigend beantwortete Frage danach, wie sich Individualität und Kollektivität, wie sich das Verhältnis von Einzelne*r und Gruppe in einem spezifischen Theaterpublikum und innerhalb von Theaterpublika allgemein verhalten. Sowohl die künstlerische Praxis als auch die wissenschaftliche Forschung halten sich hier gerne im Unbestimmten auf. Je nachdem, was man akzentuieren möchte, wird mal von der Zuschauer*in oder Teilnehmer*in im Singular gesprochen – so beispielsweise wenn die sinnliche Intensität einer Aufführungserfahrung betont werden soll –, mal vom Publikum im Kollektivsingular – zumeist dann, wenn eher die soziale und politische Dimension von Theater herausgestellt wird. Unbestritten ist, dass es Publikumserfahrungen und Verhaltensweisen von Publika gibt, die nur in und als Kollektiv möglich sind – rhythmisches Klatschen zum Beispiel oder frenetischer Applaus am Ende einer Aufführung. Doch wenn von dem oder von einem Publikum gesprochen wird, dann darf mit dieser gebräuchlichen Formulierung im Singular die Heterogenität, Diversität und Unterschiedlichkeit einzelner Publikumsmitglieder oder auch einzelner Gruppierungen innerhalb eines Publikums nicht ignoriert werden. Helen Freshwater unterstreicht entsprechend:

So, although it is possible to speak of ›an audience‹, it is important to remember that there may be several distinct, co-existing audiences to be found among the people gathered together to watch a show and that each individual within this group may choose to adopt a range of viewing positions.5

Publikum-Sein ist ubiquitär geworden


Doch was haben diese Überlegungen zum Spannungsverhältnis von Individualität und Kollektivität in Publika mit Corona-Theater zu tun? Ich möchte argumentieren, dass die Krise der Theater durch die Pandemie nicht nur eine ökonomische Krise war und noch immer ist und nicht nur eine »Krise der Versammlung«6, sondern dass sie insgesamt ein neues, wenngleich durchaus bekanntes Verständnis von Theater ermöglicht und verstärkt hat. Während das Theater vor Corona nämlich vor allem um Aufführungen zentriert war und die Aufführung der Nukleus dessen war, was von Theatern und Performances produziert und distribuiert sowie von Publika rezipiert wurde, initiierte die Corona-Pandemie eine Verschiebung. Nicht mehr was gespielt oder gezeigt wird und auch nicht mehr wie gespielt oder gezeigt oder agiert werden kann, stand im Mittelpunkt, sondern wie ein Kontakt zum Publikum überhaupt geknüpft, aufrechterhalten, gepflegt und gestaltet werden kann. Das Brennglas der Pandemie hat mithin die Frage nach der Relevanz, der Rolle und Verfasstheit des Publikums neu aufgeworfen.

Dies geschah in einer gesellschaftlichen Situation, in der Publikum-Sein längst kein separiertes, begrenztes Verhalten im Kontext von Kunstformaten, politischen Veranstaltungen oder Sportevents mehr darstellt, sondern ubiquitär geworden ist. Beständig agieren wir als Publikum – das heißt wir...


Mirjam Kreuser ist Theaterwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Humandifferenzierung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Daniele Vecchiato ist Assistenzprofessor für Germanistik an der Universität Padua.

Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität.



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