E-Book, Deutsch, 207 Seiten
Wilde De Profundis (Deutsche Ausgabe)
1. Auflage 2017
ISBN: 978-80-268-7330-3
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Metaphysische Schriften & Briefe aus dem Gefängnis
E-Book, Deutsch, 207 Seiten
ISBN: 978-80-268-7330-3
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'De Profundis (Deutsche Ausgabe)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. In De Profundis und andere briefe in dieser Sammlung betrachtet Wilde sein bisheriges Leben kritisch und beschreibt es als oberflächlich und hedonistisch. Er schildert die Haftbedingungen, zum Beispiel den Tag, an dem er in Handschellen unter den Augen einer spottenden Menge am Bahnhof Clapham Junction stehen musste, und seinen nach vielen Leiden nun demütigen emotionalen Zustand. Nach einer finanziellen Bestandsaufnahme ('I am completely penniless, and absolutely homeless.') kommentiert er, dass ihm in der kommenden schweren Zeit weder Moral noch Religion oder Vernunft helfen werden. Dem Adressaten Alfred Douglas macht er bittere Vorwürfe. Gleichzeitig ist De Profundis eine Apologie für Wildes Leben; er führt an, mit seinem Aufstieg und Fall sei er ein Mann, der in symbolischer Beziehung zu der Kunst und Kultur seines Zeitalters stand. De Profundis ist ein offener Brief, den der irische Schriftsteller Oscar Wilde zwischen 1895 und 1897, während seiner Inhaftierung in verschiedenen englischen Zuchthäusern an seinen früheren Freund und Liebhaber Lord Alfred Bruce Douglas schrieb. Der Name der Schrift ist dem Psalm 130 entnommen: 'De profundis clamavi ad te Domine.' - 'Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu Dir'. Oscar Wilde (1854-1900) war ein irischer Schriftsteller. Als Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Kritiker wurde er zu einem der bekanntesten und - im Viktorianischen England - auch umstrittensten Schriftsteller seiner Zeit.
Weitere Infos & Material
....... und mein Platz wäre zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade.1
So ist es wohl am besten. Ich will mich nicht darüber beklagen. Eine der vielen Lehren, die man dem Gefängnis verdankt, ist die: daß die Dinge sind, was sie sind, und es in alle Zukunft bleiben werden. Ich zweifle auch nicht im geringsten daran, daß der mittelalterliche Wüstling und der Verfasser der »Justine« bessere Gesellschafter sind als Sandford und Merton...2
All das hat sich in der ersten Novemberhälfte des vorletzten Jahres zugetragen. Ein breiter Lebensstrom fließt zwischen mir und einem so entfernten Zeitpunkt. Kaum, wenn überhaupt, kannst Du einen so weiten Zwischenraum überblicken. Mir aber kommt es vor, als wär' es mir, ich will nicht sagen: gestern, nein, heute zugestoßen. Leiden ist ein sehr langer Augenblick. Es läßt sich nicht nach Jahreszeiten abteilen. Wir können nur seine Stimmungen aufzeichnen und ihre Wiederkehr buchen. Für uns schreitet die Zeit selbst nicht fort. Sie dreht sich. Sie scheint um einen Mittelpunkt zu kreisen: den Schmerz. Die lähmende Unbeweglichkeit eines Lebens, das in allem und jedem nach einer unverrückbaren Schablone geregelt ist, so daß wir essen und trinken und spazieren gehn und uns hinlegen und beten oder wenigstens zum Gebet niederknien nach den unabänderlichen Satzungen einer eisernen Vorschrift: diese Unbeweglichkeit, die jeden Tag mit seinen Schrecken bis auf die kleinste Einzelheit seinem Bruder gleichen läßt, scheint sich den äußern Gewalten mitzuteilen, deren ureignes Wesen der beständige Wechsel ist. Von Saat und Ernte, von den Schnittern, die sich über das Getreide neigen, von den Winzern, die sich durch die Rebstöcke schlängeln, von dem Gras im Garten, über das sich die weiße Decke der abgefallenen Blüten breitet oder die reifen Früchte ausgestreut sind: davon wissen wir nichts und können nichts wissen.
Für uns gibt es nur eine Jahreszeit: die Jahreszeit des Grams. Die Sonne selbst und der Mond scheinen uns genommen. Draußen mag der Tag in blauen und goldnen Farben leuchten – das Licht, das zu uns hereinkriecht durch das dicht beschlagene Glas des kleinen, mit Eisenstäben vergitterten Fensters, unter dem wir sitzen, ist grau und karg. In unsrer Zelle herrscht stets Zwielicht, in unserm Herzen Mitternacht. Und im Bereich des Denkens stockt, ebenso wie im Kreislauf der Zeit, alle Bewegung. Was Du persönlich längst vergessen hast oder leicht vergessen kannst, trifft mich heut und wird mich morgen wiederum treffen. Das bedenke, und Du vermagst ein wenig zu verstehn, warum ich schreibe und so schreibe...
Eine Woche später schafft man mich hierher. Drei Monate verstreichen, da stirbt meine Mutter.3 Du weißt, niemand weiß es besser, wie sehr ich sie geliebt und verehrt habe. Ihr Tod war mir furchtbar; aber ich, einst der Sprache Meister, finde nicht Worte, meinen Kummer und meine Beschämung auszudrücken. Niemals, nicht einmal in den glücklichsten Tagen meiner künstlerischen Entwicklung, wär' ich imstande gewesen, Worte zu finden, die eine so erhabene Last hätten tragen oder wohllautend und hoheitsvoll genug im purpurnen Zuge meines unaussprechlichen Wehs hätten einherschreiten können. Von ihr und meinem Vater hatte ich einen Namen geerbt, dem sie Ruhm und Ehre verschafft, nicht nur in der Literatur, Kunst, Archäologie und Naturwissenschaft, sondern auch in der politischen Geschichte meines Vaterlands, in seiner nationalen Entwicklung. Ich hatte diesen Namen für ewig geschändet. Zu einem gemeinen Schimpfworte bei gemeinen Menschen gemacht. In den Schlamm gezerrt. Rohen Gesellen ausgeliefert, daß sie ihn verrohen lassen durften, Verrückten, daß er ihnen gleichbedeutend mit Verrücktheit werden durfte. Was ich damals gelitten habe und noch leide, kann keine Feder schreiben, kein Buch künden. Meine Frau,4 die in jenen Tagen sehr gütig und liebenswert gegen mich war, wollte es mir ersparen, daß ich die Nachricht von gleichgültigen Menschen, von fremden Lippen hörte, und kam trotz ihrem Kranksein den ganzen Weg von Genua nach England gereist, um mir die Botschaft eines so unersetzlichen, so unermeßlichen Verlustes selbst zu überbringen. Von allen, die mir noch zugetan waren, erreichten mich Beileidskundgebungen. Sogar Leute, die mich nicht persönlich gekannt hatten, ließen mir, als sie hörten, daß ein neuer Schmerz in mein Leben getreten sei, den Ausdruck ihrer Teilnahme übermitteln...
Drei Monate verstreichen. Der tägliche Ausweis über meine Führung und Arbeit, der draußen an der Tür meiner Zelle hängt, – auch mein Name und mein Urteil stehn darauf – sagt mir, es ist Mai...
Glück, Wohlleben und Erfolg mögen von rauher Oberfläche und aus gemeinem Stoffe sein: das Leid ist das Zarteste in aller Schöpfung. Es gibt nichts in der ganzen geistigen Welt, an das der Schmerz mit seinem schrecklichen, überaus feinen Pulsschlag nicht heranreicht. Das dünne, ausgehämmerte Zittergold-Blättchen, das die Richtung der dem Auge nicht wahrnehmbaren Kräfte anzeigt, ist im Vergleich damit grob. Das Leid ist eine Wunde, die zu bluten anfängt, wenn eine andre Hand als die der Liebe daran rührt, und selbst dann von neuem bluten muß, wenn auch nicht vor Schmerz.
Wo Leid ist, da ist geweihte Erde. Eines Tages wird die Menschheit begreifen, was das heißt. Vorher weiß sie nichts vom Leben. Robbie5 und Wesen seiner Art können es ermessen. Als ich zwischen zwei Polizisten aus dem Zuchthaus vor den Konkursgerichtshof geführt wurde, da wartete Robbie in dem langen, düstern Korridor, um zum Erstaunen der ganzen Menge, die ob einer so lieben, schlichten Handlung verstummte, ernst den Hut vor mir abzuziehn, während ich in Handschellen gesenkten Hauptes an ihm vorüberging. Um kleinerer Dienste willen sind Menschen in den Himmel gekommen. Von diesem Geiste beseelt, von solcher Liebe erfüllt, knieten die Heiligen nieder, um den Armen die Füße zu waschen, neigten sie sich, um den Aussätzigen auf die Wange zu küssen. Ich habe nie ein Wort darüber zu ihm gesagt. Bis zur Stunde weiß ich nicht einmal, ob er eine Ahnung hat, daß ich seine Handlungsweise überhaupt bemerkte. Dafür kann man nicht in förmlichen Worten förmlichen Dank aussprechen. In der Schatzkammer meines Herzens lasse ich es lagern. Dort bewahr' ich es als eine geheime Schuld, die ich zu meiner Freude wahrscheinlich nie zurückzahlen kann. Dort ist es einbalsamiert und behält sein liebliches Aussehn durch die Myrrhen und Narden vieler Tränen. Wenn alle Klugheit mir wertlos, die Philosophie unfruchtbar und die Redensarten und Sprüche derer, die mich zu trösten suchten, wie Staub und Asche im Munde erschienen, dann hat mir die Erinnerung an diesen kleinen, holden, stummen Akt der Liebe alle Brunnen des Mitleidens rauschen, die Wüste wie eine Rose aufblühn lassen, mich aus der Bitternis der einsamen Verbannung herausgehoben und in Einklang gebracht mit dem verwundeten, gebrochnen, großen Weltenherz. Wer fähig ist zu begreifen, nicht allein, wie schön Robbies Handlungsweise war, sondern warum sie mir so viel bedeutete und immer so viel bedeuten wird, der kann vielleicht einsehn, wie und mit welcher Gesinnung er mir nahen sollte ...
Der erste Gedichtband, den ein junger Mensch im Lenze seines Mannesalters in die Welt hinausschickt, soll wie eine Frühlingsblüte oder -blume sein, wie der Hagedorn auf den Wiesen Oxfords oder wie die Primeln auf den Feldern Cumnors.6 Das Werk soll nicht mit dem Gewicht einer schrecklichen, empörenden Tragödie, eines schrecklichen, empörenden Skandals belastet sein.7 Hätte ich einem solchen Buche meinen Namen als Herold dienen lassen, es wäre ein schwerer künstlerischer Irrtum gewesen; es hätte das ganze Werk in ein falsches Milieu gestellt, und in der modernen Kunst hat das Milieu so großen Wert. Das moderne Leben ist kompliziert und relativ; dies sind seine beiden unterscheidenden Merkmale. Um das erste wiederzugeben, bedürfen wir des Milieus mit seinen zarten Nuancen und Andeutungen, seinen seltsamen Perspektiven; das zweite verlangt Hintergrund. Deswegen ist die Plastik für uns keine repräsentierende Kunst mehr, ist es die Musik, ist, war und wird die Literatur stets die höchste repräsentierende Kunst bleiben.
Jedes Vierteljahr schickt mir Robbie ein kleines Bündel literarischer Neuigkeiten. Es kann nichts Entzückenderes geben als seine Briefe, die so witzig, so geschickt zusammengefaßt, so leicht hingeworfen sind. Es sind wirkliche Briefe: Plaudereien unter vier Augen. Sie haben die Vorzüge einer französischen ›causerie intime‹; und in seiner feinen Art, mir zu huldigen, die sich bald an meine Urteilsgabe, bald an meinen Humor, dann wieder an meine angeborene Neigung zur Schönheit oder an meine Bildung wendet und mich auf hunderterlei Weise zart daran erinnert, daß ich einst vielen als Autorität in künstlerischen Stilfragen, einigen als die höchste Autorität galt, zeigt er, daß er den Takt der Liebe ebenso wie literarischen Takt besitzt. Seine Briefe sind die Boten gewesen zwischen mir und der herrlichen, unwirklichen Kunstwelt, in der ich ehedem König war und König geblieben wäre, hätte ich mich nicht in die unzulängliche Welt rauher, unvollkommner Leidenschaften, eines wahllosen Geschmackes, eines Verlangens ohne Grenzen und einer formlosen Gier locken lassen. Doch wenn alles gesagt ist, wirst Du gewiß verstehn oder Dir vorstellen können, daß zum mindesten rein als psychologische Kuriosität es mich mehr interessiert hätte, etwas Näheres von Dir zu hören, als zu erfahren, daß Alfred Austin8 einen Band Gedichte zu veröffentlichen plane, daß George...




