Wildenhain Das Lächeln der Alligatoren
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-608-10775-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 241 Seiten
ISBN: 978-3-608-10775-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Wildenhain ist 1958 in Berlin geboren, wo er auch heute lebt. Nach einem Philosophie- und Informatikstudium engagierte er sich in der Hausbesetzerszene - Stoff u. a. für seine ersten literarischen Veröffentlichungen: »zum beispiel k.«, »Prinzenbad« und »Die kalte Haut der Stadt«. Für sein literarisches Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Ernst-Willner-Preis, dem Stipendium der Villa Massimo sowie dem London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. »Das Lächeln der Alligatoren« war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Brandenburger Kunstpreis ausgezeichnet. Wildenhain schrieb mehrere Theaterstücke, von denen 2012 ein Auswahlband erschienen ist. Sein letzter Roman »Das Singen der Sirenen« erschien 2017 und war für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2018 würdigte das Literaturforum im Brecht-Haus sein Gesamtwerk mit einem Symposium.
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der Junge
Als der Junge ihr das nächste Mal begegnet, spät nachmittags am Strand bei ablaufendem Wasser, trägt er vorsorglich das Fernglas des Vermieters bei sich. Befestigt an einem Lederriemen hängt es ihm seitlich um Schulter und Hals.
Niemand weiß, dass er sich davongeschlichen hat.
Davongestohlen, denkt er, aber es kümmert ihn nicht. Keiner ahnt, dass er in den Dünen darauf hofft, sie in der Anlage beobachten zu können.
Wenn sie vor die Tür tritt, um zu rauchen.
Und wie sie dann im Rahmen lehnt, unter dem Sturz, ein Wort seines Vaters, an den er sich kaum erinnert, um auf ihre Freundin zu warten.
Dort lehnt, sobald ihre Schicht beendet ist. Lässig und als ahne sie, dass der Junge in seinem Versteck ausharrt, bis ihre Arbeit endet. Eine Arbeit, die keine richtige Arbeit ist, die sie nur während der Ferien verrichtet – mit Peggy.
Sowie mit einigen anderen, immer im Wechsel, jeden Tag: die Aufsicht über den Bruder und dessen seltsame Gefährten in Haus vier.
Warum bin ich nicht erwachsen, denkt der Junge. Oder wenigstens sechzehn.
Drei Jahre ist sie älter als er, drei Jahre und zwei Monate, gestern hat sie ihren Geburtstag gefeiert, mit ihrer Freundin, den achtzehnten, beide betrunken und nackt.
Niemand wird ihn hier bemerken, schon gar nicht seine Mutter, keinem wird seine Abwesenheit im Urlaubsquartier auffallen. Denn seine Mutter, die in der Unterkunft schläft, die beinahe immer schläft, seit sie hier eingetroffen sind, seine Mutter wähnt ihn in der verbilligten Vorstellung des Zirkus oben im Ort.
Zirkus, denkt der Junge, Kinderkacke. Wär was für meinen Bruder. Wenn er nicht so wäre wie alle in Haus vier.
Der Junge schluckt trocken. Spürt das ungute Gefühl, das er nicht unterdrücken kann, wenn ihn irgendetwas an seinen Bruder erinnert.
Nachmittags hat er sie, die Betreuerin des Bruders, schon mehrfach beobachtet. Meist mit Peggy. Peggy, die immer wild, oft ungepflegt aussieht – inzwischen weiß er, wann die Schicht der beiden ungefähr endet.
Auch frühmorgens hat er sie beobachten wollen, vor Tagesanbruch. Vielleicht beim Duschen, beim Baden im Meer, während seine Mutter noch schläft und er sich ausrechnen kann, dass das Frühstück erst in einer Stunde von der Schwester des Vermieters aufgetragen wird, alte Schachtel. Dann würde der Junge im noch nächtlich kühlen Sand der dunklen Dünen kauern, fast unsichtbar zwischen Strandhafer und dem Heckenrosengesträuch mit den feinen, bösartigen Dornen, das so dicht ist, dass niemand sich hindurchzwängen kann.
Sich auf die Finger- und Zehenspitzen heben, wie beim Training im Turnverein. Keinen Ast berühren, der in der Dämmerung knacken und ihn verraten könnte.
Peggy treibt keinen Sport. Peggy raucht, unentwegt. Peggy riecht nach dem Rauch, dem Bier, das sie trinkt. Peggys Haare sind struppig, manchmal voller Farbe. Ihre Haut ist unrein. In den Mundwinkeln, neben der Nase wächst Schorf. Trotzdem kann er den Blick kaum von ihr wenden. Obwohl sie die Tabakkrümel der selbstgedrehten Zigaretten, nachdem sie den Rotz aus dem Hals geholt hat, vor sich auf den Gehweg spuckt. Oder seitlich in den hellen Sand.
Marta hingegen läuft.
Sie läuft an der Wasserlinie entlang, spätnachmittags, bei ablaufender See und trotz der Zigarette nach der Arbeit.
Er hat auf sie gewartet. Und da ist sie.
Barfuß taucht sie hinter der Hütte und dem Turm des DLRG-Teams auf, das heute, weil es geregnet hat und zu kalt zum Baden ist, keinen Dienst versieht. Biegt um das Boot, das seit dem Winter dort liegt und im Salzwind verrottet. Trägt eine lange Leinenhose und ein weißes T-Shirt, durch dessen Stoff, der Junge hebt das Fernglas an die Augen, ihre sonnengebräunte Haut schimmert, das Licht des späten Nachmittags ist sonderbar diffus.
Streiflicht, ein Wort seines Vaters.
Der Vermieter wird den Verlust des Fernglases nicht vor dem Abend bemerken, und dann wird der Junge zurück sein.
Wird rechtzeitig zurück sein, im Quartier, bevor der Abendbrottisch gedeckt ist, bevor seine Mutter, die schläft und schläft und nur seinen Bruder manchmal besucht und die ihn zwingen wird, sie zu begleiten, immer soll er dabei sein, wieder wach wird.
Als Älterer mit dem Jüngeren spielen. »Ist schließlich dein Bruder.«
Als ob man mit ihm spielen könnte. Nur Klötze kann man mit ihm stapeln. Eigentlich bloß sortieren, ordnen, alles soll geordnet werden, Tag für Tag, aber ich muss sie begleiten, meine Mutter, zu meinem Bruder und dessen Betreuerin.
Marta, die anders wirkt als meine Mutter auf ihren Mädchenfotos, als sie noch Zöpfe trug. Meine meist schlafende Mutter, die nie ein Mädchen gewesen sein kann, die niemals jung gewesen ist, auf allen Fotos wirkt sie alt, älter als sie gewesen sein mag. Liegt an ihrer Krankheit, an meinem Bruder, oder an meinem Vater, der weggegangen ist. Am Ende eines Streits sagt meine Mutter oft, ich sei wie mein Vater, schlimmer.
Als mein Bruder klein war, sind wir beide, mein Vater und ich, allein durch die Gegend gezogen. Wir haben Fußball gespielt, und häufig hat er mich am Abend zu einem Eis eingeladen. Wir sind nach Hause gekommen, und meine Mutter hat vom Balkon aus nach uns gewunken. Hat meinen Bruder hochgehoben, damit er über die Balkonbrüstung schauen, uns mit seinen kurzen Armen entgegenwinken kann. Wir sind die Treppen hochgestiegen, ich habe den Ball getragen, mein Vater hat mir mit der Hand durchs Haar gestrichen, wir haben einander angeblickt, einander zugelächelt, in dem Gefühl, gemeinsam etwas erlebt zu haben. Beim Abendbrot hat mein Vater geschwiegen, ein Schweigen, das meinen Bericht vom Fußballspiel mit einer Aufmerksamkeit begleitet hat, die ich noch heute spüre, nach Jahrzehnten. Jede Szene unseres Spiels habe ich ausführlich geschildert, während mein kleiner Bruder an seiner Streichkäsestulle gekaut, mir mit großen Augen gelauscht und mich unverwandt angesehen hat. Meine Mutter, die kein Mädchen mehr gewesen ist, vielleicht nie eines war und jedenfalls beim Abendbrot nur meine Mutter sein sollte, hat mir eine weitere Schnitte mit Margarine, mit Käse bestrichen, langsam, versonnen, und hat mir zugehört. Mein Bruder hat aus Brot eine Kugel geformt und sie, unbeachtet von unseren Eltern, in seiner Tasse mit dem Hagebuttentee versenkt.
Marta.
Würde ich Marta, die plötzlich stoppt, die innehält, indem sie den rechten Fuß in den Sand rammt, in den vom ablaufenden Wasser nassen und fest gepressten Sand, würde ich Marta als Mädchen bezeichnen? Bezeichnen wie die Mädchen meiner Klasse?
Wenn sie mich entdeckt, bin ich verloren.
Hier in den Dünen entdeckt, mit einem Fernglas.
Sie beginnt, ihre Hände und Unterarme langsam und rhythmisch zu bewegen, geht dabei in die Knie, ihre Schenkel spannen die weiße Leinenhose, unter dem T-Shirt kann ich, wenn ich das Fernglas scharf genug stelle, die Kontur ihres Oberkörpers erkennen.
Meine Mutter im Bad. Scheußlicher Anblick.
Ein wunderbares Gerät, das Fernglas. »Kurz vor dem Krieg«, dem Vermieter schwillt jedes Mal vor Stolz die Stimme, »Optik Carl Zeiss Jena, gibt es heute drüben, da in der SBZ so gar nicht mehr.«
Was tue ich hier, denkt der Junge.
Sein Glied reibt steif und unbequem am Reißverschluss der Hose.
Der Junge senkt den Blick und nach kurzem Zögern dreht er das Glas und sieht Marta fern vorm Saum der Nordsee, klein in der Nähe eines Gestells für die Netze der Fischer, das Wasser eine Fläche ohne Wellen, ohne weiße, in Flocken hoch zerspleißende Gischt.
Eine Ferieninsel, auf der Urlaub zu machen ihn seine Freunde in der Schule beneiden würden. Er beneidet sich nicht.
Wieder hält sie inne.
Ihre Hand fährt vor und schlägt nach etwas Unsichtbarem, das ihr Gesichtsfeld durchquert.
Hastig dreht der Junge das Glas. Hebt es vor seine Augen. Stellt das Okular mit dem geriffelten Rad aus Messing scharf. Der Geruch des Metalls haftet an der Haut. Noch schärfer. Sieht, dass sie sich nach einem Gegenstand bückt, der vor ihrem linken Fuß im Sand liegt, zwischen angespülten Muscheln, Resten Tangs. Spürt nicht, dass Dornen eines vertrockneten Ginsterzweigs die Haut am rechten Knie ritzen. Merkt nicht, dass er angespannt auf die Lippen beißt.
Sie hält ein Tier in der Hand, eine Wespe, gewiss eine Wespe: Optik Carl Zeiss Jena, neunzehn achtunddreißig.
Sie drückt den Leib der Wespe mit Daumen und Zeigefinger zusammen, sodass der Stachel, den man beim besten Willen, trotz makellosen Okulars, unmöglich erkennen kann, die Finger nicht gefährdet.
Sie betrachtet die Wespe.
Auch der Junge hat zu Hause Insekten unter dem Mikroskop auf einem Träger befestigt und ihre seltsamen Augen, die Fühlerpaare und Beißwerkzeuge mit Ausdauer studiert. Der Junge interessiert sich für die Erscheinungen der Natur, und seine Mutter hat ihm vom verbliebenen Geld des Vaters ein Mikroskop gekauft.
»Mein Forscher«, sagt sie manchmal.
Jedes Mal ist der Junge froh, dass niemand den Satz hört.
Die Füße umspült vom ablaufenden Wasser betrachtet Marta die Wespe, deren Kopf und Augen, deren Beißwerkzeuge, die im Vergleich zu den menschlichen Zähnen nicht sonderlich groß und furchteinflößend sind.
Sie beißt der Wespe den Kopf ab. Sie spuckt den Kopf auf eine Qualle, bläulich schimmernd. Sie schnippt den Rumpf der Wespe, den nutzlos gewordenen Stachel ins Wasser der Nordsee.
Dann läuft sie mit federnden Schritten am Ufer entlang, entfernt sich, während der Junge, der das Glas neben sich ablegt, ein undeutliches Mitleid mit dem Tier empfindet.
Einer Wespe, gewiss einer Wespe. Schon nach wenigen Minuten, die er im Versteck in...




