Willett Das Paradies am Fluss
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8387-4520-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8387-4520-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach langer Zeit ist die Künstlerin Jess Penhalion in ihre südenglische Heimat Devon zurückkehrt, um einen Preis für eins ihrer Gemälde entgegenzunehmen. Sie kann nicht ahnen, dass während dieses Aufenthalts auch ein wohl behütetes Familiengeheimnis gelüftet werden wird: Das Geheimnis um einen Vorfall, der sich vor vielen Jahren in einem wunderschönen Garten am Fluss zugetragen hatte. Mit weit reichenden Folgen, nicht zuletzt für ihr eigenes Leben...
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Prolog
Sommer
Reisen … Schon immer ist sie gern gereist. Sie steigt in den Zug, drängt sich an anderen Fahrgästen vorbei, sucht mit der Reservierung in der Hand nach ihrem Platz und verstaut ihren kleinen Koffer in der Gepäckablage. Das Paar mittleren Alters, das ihr gegenübersitzt, lächelt ihr zu, als sie sich an den beiden vorbei zum Fensterplatz schiebt. Sie erwidert das Lächeln, hofft aber, dass sie nicht mit ihr reden wollen – jedenfalls noch nicht gleich. Zuerst muss sie ein Gefühl für die Reise bekommen, auf den plötzlichen Ruck warten, mit dem der Zug sich in Bewegung setzt, und erleben, wie der Bahnhof und die ganze Stadt an ihr vorbeiziehen und zurückbleiben.
Während Jess zu den Menschen auf dem Bahnsteig hinaussieht, erinnert sie sich daran, wie sie als kleines Mädchen in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Wagens ans Meer gefahren ist oder wie sie, Jahre später, wenn sie vom Internat beurlaubt war oder Ferien hatte, abgeholt wurde und auf dem Beifahrersitz sitzen durfte. Für gewöhnlich fuhr Mum, weil Daddy mit seinem Regiment fort war. Diese kindliche Aufregung über die Aussicht auf eine Reise ist heute noch genauso frisch.
Vor dem Fenster verabschiedet sich ein Mädchen in den frühen Teenagerjahren von den Eltern. Das kleine, hübsche Gesicht zeigt eine Mischung aus Aufregung und Verletzlichkeit. Sie schützt eine Tapferkeit vor, von der sie selbst nicht ganz überzeugt ist. Ja, sagt sie ihnen, sie hat ihre Fahrkarte; ja, sie hat ihr Handy. Erneut setzt sie eine übertriebene Miene auf, die ergebene Geduld ausdrückt, aber ihre Eltern keinen Augenblick hinters Licht führt. Ihr Vater beugt sich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, und Jess sieht die Liebe und Besorgnis auf seinem Gesicht. Mit einem Mal erfüllt sie ein vertrautes Gefühl von tiefer Trauer.
Acht Jahre ist es jetzt her, seit ihr eigener Vater bei einem Einsatz in Bosnien gefallen ist, doch sie hat seinen Verlust nie verwunden. Immer noch vermisst sie diese besondere Art von Liebe und Sorge, die für ihre vom Glück begünstigten Freunde ein selbstverständlicher Teil des Lebens ist. Jess fehlen der Humor ihres Vaters, seine Gradlinigkeit, die tief empfundene Gewissheit, dass er auf ihrer Seite steht.
»Deine Mum ist so eine starke Frau«, sagten andere zu ihr. »So tapfer.« Und ja, Mum ist sowohl stark als auch tapfer. Aber als sie ein Jahr später ihren Liebhaber, einen Diplomaten, heiratete und nach Brüssel übersiedelte, wusste Jess, dass der erste Teil ihres Lebens abgeschlossen war. Ihre Kindheit war vorüber. Dann begannen die Jahre, in denen sie regelmäßig den Eurostar nach Brüssel nahm und ihre Ferien in der schicken Wohnung in der Nähe der EU-Gebäude verbrachte. Bis heute fühlt sie sich dort nicht einmal entfernt zu Hause. Ihre Mutter betätigt sich als Gastgeberin und beschäftigt sich mit internationaler Politik und neuen Freunden, einer völlig anderen Welt als die der Dienstwohnungen für verheiratete Offiziere bei der Armee.
Nach und nach hat Jess gelernt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss. Sie hat sich in der Schule angestrengt, um einen Studienplatz an der Universität Bristol zu bekommen und Botanik zu studieren, und neue Freundschaften geschlossen. Aber das sichere Fundament durch die Liebe ihres Vaters hat ihr gefehlt, das Gefühl, unterstützt zu werden, eine Familie zu haben.
Jetzt ist sie älter und begreift, dass heutzutage ein Teil ihrer Freude am Reisen darin besteht, dass sie auf diese Weise Entscheidungen aufschieben und sich frei von Zukunftsängsten fühlen kann. Während dieser Zeit kann sie das Leben auf Eis legen und nur im Augenblick existieren.
Endlich verlässt der Zug den Bahnhof Temple Meads und legt an Tempo zu, und Jess hält den Atem an. Ihre Vorfreude kehrt zurück. Sie hat das Gefühl, die bisher wichtigste Reise ihres Lebens anzutreten; sie verlässt die Universität und fährt nach London, einer noch unbekannten Zukunft entgegen.
Das Paar gegenüber packt schon Essen aus, Schachteln und Päckchen und Tupperdosen, als hätten die beiden Angst, zwischen Bristol und London zu verhungern. Jetzt, bei genauerem Hinsehen, erkennt Jess die Ähnlichkeit zwischen ihnen: Mit ihren dicken Wangen und den rundlichen, stämmigen Körpern erinnern die zwei sie an Tweedledee und Tweedledum, die Zwillinge aus Alice im Wunderland. Sie breiten ihr üppiges Mahl zwischen sich auf dem Tisch aus, und die Frau wirft Jess einen fragenden Blick zu, als überlegte sie, ihr etwas anzubieten.
Doch Jess ist viel zu aufgeregt, um Hunger zu verspüren. Am liebsten hätte sie alles herausgesprudelt.
Ich habe einen Preis gewonnen. Einen richtig bedeutenden. Den David-Porteous-Preis für botanische Malerei, der an junge Künstler verliehen wird. Und ich fahre nach London, um ihn entgegenzunehmen. Ist das nicht großartig?
Aber das sagt sie nicht, damit die anderen nicht denken, sie wolle angeben – oder sei ein wenig gestört. Stattdessen sieht sie aus dem Fenster und fragt sich, wie gut sie in ihren Botanikprüfungen abgeschnitten hat und was für eine Abschlussnote sie wohl bekommt. Der Preis – bei dem Gedanken zappelt sie unwillkürlich ein wenig auf ihrem Platz – ist mit einem Scheck über zehntausend Pfund verbunden.
Alle, sogar ihre Mutter und ihr Stiefvater, sind sehr beeindruckt. Jess selbst betrachtet das Geld als Chance. Es verschafft ihr Freiraum, die Möglichkeit festzustellen, ob sie jetzt vielleicht eine Laufbahn als Künstlerin einschlagen will, statt zu unterrichten, was sie ursprünglich vorhatte. Ihr Stiefvater ist allerdings immer noch der Meinung, sie solle sofort ihre Lehrerausbildung beginnen. »Malen kannst du in deiner Freizeit«, sagt er, als wäre die Malerei für sie nur ein Hobby, etwas, das sie nebenbei betreiben kann. Wenn sie versucht, ihm ihre Leidenschaft für die Malerei zu erklären, erinnert er sie daran, dass Anthony Trollope alle seine Bücher nach einem anstrengenden Arbeitstag im Büro geschrieben hat.
Ihr Stiefvater ist fantasielos und oberlehrerhaft, und sie möchte ihn am liebsten anschreien. Wenn sie aneinandergeraten, was sich häuft, seit Jess die Schule abgeschlossen hat, schaut ihre Mutter immer nervös, aber ziemlich streng drein, und Jess weiß, dass sie sich nicht auf ihre Seite schlagen wird.
»Ich finde, du solltest auf ihn hören, Jess«, sagt sie, irritiert über die Aussicht auf einen Streit und die Störung des sorgfältig aufrechterhaltenen Friedens in dieser äußerst kontrollierten Umgebung. »Er ist nicht dort hingelangt, wo er heute ist, ohne …«
Und Jess hört ihm höflich zu, wobei sie sich unvermeidlich an diese Person in der Reggie-Perrin-Serie erinnert fühlt – »Habe ich recht, oder habe ich recht?« –, und handelt dann nach eigenem Gutdünken. In diesem Fall wird sie sich vielleicht eine Auszeit von einem Jahr nehmen, um auf dieser erstaunlichen Leistung aufzubauen.
Selbst der Anblick von Tweedledum und Tweedledee, die sich langsam und stetig Sandwiches, Kuchen und Schokoriegel einverleiben, verdirbt ihr die reine Freude dieses Augenblicks nicht. Ihre Gedanken schweifen nervös zu ihrem neuen Kleid in der Tasche, die in der Gepäckablage über ihrem Kopf steht – ist es angemessen für eine Verleihung? –, und dem Telefongespräch, das sie mit Kate Porteous geführt hat, David Porteous’ Witwe. Kate hat freundlich und begeistert darüber geklungen, dass Jess den Preis gewonnen hat, und freut sich darauf, sie kennenzulernen. Jess ist dankbar für den Anruf.
»Treffen wir uns doch vor der Verleihung«, hat Kate vorgeschlagen. »Warum nicht? Oder nimmt Ihre Familie Sie zu sehr in Beschlag?«
»Nein«, antwortete Jess leicht verlegen. Sie hat keine Familienmitglieder, die sie unterstützen, ermutigen oder ihre Freude teilen könnten – weder Geschwister noch Cousins oder Cousinen. Und die einzige Großmutter, die sie noch hat, lebt in Australien. Und sie möchte sich nicht in Details über ihre Mum ergehen, die zu viel mit irgendeinem diplomatischen Empfang zu tun hat, um zur Verleihung über den Ärmelkanal zu kommen. »Aber zwei Freunde von der Uni nehmen an der Zeremonie teil.«
»Großartig. Hören Sie, ich gebe Ihnen meine Adresse. Davids Tochter hat sein Atelier behalten, und ich kann es benutzen, wenn ich in London bin. Ich war seine zweite Frau, verstehen Sie? Wann wollen Sie anreisen? Ich komme am Vortag aus Cornwall …«
Sie haben sich noch ein wenig unterhalten und die Verabredung getroffen. Jess würde Kate in Davids Atelier treffen – seinem richtigen Atelier, in dem die meisten seiner Arbeiten entstanden sind –, und dann würden sie zum Abendessen ausgehen und sich über das Leben mit dem großen Künstler unterhalten. Das ist das Sahnehäubchen. Jess beißt sich auf die Lippen, damit sie aus purem Vergnügen über diese Aussichten nicht einfältig grinst.
Tweedledum und Tweedledee stillen jetzt ihren Durst mit Sprudelgetränken aus der Dose. Sie sitzen dicht zusammengequetscht, schwitzen und rutschen unbehaglich auf dem Sitz herum. Jess lehnt sich in ihre Ecke zurück und sieht zu, wie die Landschaft vor dem Fenster vorbeigleitet. Die Reise hat begonnen.
Ungefähr zur selben Zeit sieht Kate, als ihr Zug das Bolitho-Viadukt überquert, in dem Feld darunter eine junge Frau und zwei kleine Jungen. Sie haben sich zu einer Reihe aufgestellt, starren nach oben und winken dem Zug heftig zu. Spontan beugt sie sich nach vorn und erwidert den Gruß. Die kleinen Jungen springen herum und wedeln mit beiden Händen; und sie hofft, dass die beiden sie gesehen haben, und verdoppelt ihre Bemühungen.
Als sie sich auf ihren Platz zurücksinken lässt, ist sie sich des skeptischen Blickes des Mannes gegenüber bewusst. Er zieht eine...