E-Book, Deutsch, Band 81, 230 Seiten
Wilzek "Contre tous les silences": Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8233-0494-4
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 81, 230 Seiten
Reihe: études litteraires françaises
ISBN: 978-3-8233-0494-4
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die algerischen Autorinnen Maïssa Bey, Assia Djebar und Malika Mokeddem bezeichnen ihr literarisches Schaffen als Engagement gegen das (Ver-) Schweigen insbesondere der Erfahrungen von Frauen in der Gesellschaft. Wenn Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung, dass in Literatur soziale Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. In der Arbeit wird die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs in Romanen der drei Autorinnen untersucht. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns alternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen in einem postkolonialen Kontext.
Dr. Jessica Wilzek ist Referentin für Karriereentwicklung und Nachwuchsförderung an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.
Autoren/Hrsg.
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1.2 Zum Stand der Forschung
Überblicksdarstellungen zu von Frauen verfasster Literatur aus Algerien, bzw. dem Maghreb insgesamt, stammen zumeist bereits aus den 1990er Jahren. Dies kann auf die bedeutende Zunahme der Veröffentlichungen von Frauen in Algerien ab den 1980er Jahren zurückgeführt werden (vgl. Bonn 1994). Zu den umfangreichsten Einführungen gehören sicherlich neben den Arbeiten von Charles Bonn die Publikationen von Jean Déjeux und Christiane Chaulet-Achour (vgl. 1998). Im deutschsprachigen Raum wird dies ergänzt durch Sammelbände herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (vgl. 1993). In neueren Publikationen lässt sich eine Verschiebung des theoretischen Fokus in Richtung der Analyse von postkolonialen Merkmalen maghrebinischer Literatur beobachten. Dazu finden sich u. a. Studien in dem von Gesine Müller und Susanne Stemmler herausgegebenen Band Raum-Bewegung-Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen (Müller und Stemmler 2009) sowie in Najib Redouanes Diversité littéraire en Algérie (Redouane 2010). Das Fehlen aktuellerer Überblicksdarstellungen kann auch durch eine erschwerte Zuordnung zur ohnehin problematischen Kategorie der Nationalliteratur erklärt werden, da ab den 1990er Jahren eine wachsende Anzahl an französisch-schreibenden Autorinnen zwar Algerien als Bezugspunkt und Handlungsort ihrer Texte behalten, aber zunehmend nach Frankreich emigrieren. Aus dem Korpus der vorliegenden Studie betrifft dies Malika Mokeddem und zeitweise Assia Djebar. Beide zeichnen sich durch Migrationserfahrung im Erwachsenenalter nach Frankreich und die Wahl des Französischen als Schriftsprache sowie eine Kindheit und Jugend und im Falle Djebars regelmäßige weitere Aufenthalte in Algerien und eine inhaltliche Fokussierung der literarischen Werke auf Algerien aus. Das Konzept einer Nationalliteratur aufgrund von Herkunft/Wohnort und Schriftsprache der Autorinnen greift hier nicht. Im Sinne Saids wird dadurch die „rhetorische Trennung von Kulturen“ (Said 1994, S. 77) aufgehoben und zeigt die Komplexität literarischer und kultureller Verflechtungen auf. Trotz der breiten Rezeption der ausgewählten Autorinnen liegen Forschungsarbeiten hauptsächlich zum Werk Assia Djebars vor, die sicherlich die Bekannteste der drei ist. Als eines der ersten Werke im deutschsprachigen Raum vereint der Band Assia Djebar, herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (2001), vereint Artikel der Djebar-Expert:innen, u. a. Claudia Gronemann, Mireille Calle-Gruber, Priscilla Ringrose, Clarisse Zimra, Allison Rice und Winifred Woodhull. Zum Werk Malika Mokeddems gibt es u. a. einen ausführlichen Sammelband von Redouane, Bénayoun-Szmidt, Elbaz (Redouane et al. 2003), darunter Analysen von Christiane Chaulet-Achours zum Thema der gesellschaftlichen Stellung der Autorin und Intellektuellen Malika Mokeddem. Zu Ma?ssa Bey finden sich ebenfalls Artikel in Sammelbänden u. a. im von Gronemann und Pasquier herausgegebenen Band Scènes des genres au Maghreb. Masculinités, critiques queer et espaces du féminin/masculin (Gronemann und Pasquier 2013). Ausführliche Monographien, die sich auf das Einzelwerk Mokeddems und Beys fokussieren, fehlen bisher. Auch in der Quantität der vorhandenen Studien gibt es eine bedeutende Lücke zwischen den Publikationen zum literarischen Schaffen Djebars auf der einen und dem Mokeddems und Beys auf der anderen Seite. Inhaltlich richtet sich ein zentrales Interesse der Forschung zum Werk maghrebinischer Autorinnen auf die autobiographischen Aspekte in ihrem Schreiben (vgl. Richter 2004). Gronemann (2002) arbeitet die autobiographische Dimension der fiktionalen Texte verschiedener Autor:innen heraus, darunter u. a. Assia Djebar. Ihre Überlegungen beziehen sich auf die postmoderne Vorreiterrolle maghrebinischer Autor:innen in Bezug auf die Verknüpfung von Autobiographie und Fiktion. In einer weiteren Arbeit (2012) vertieft sie Djebars Konzeption von Autorschaft, und kommt zu dem Schluss, dass sie „Autorschaft als Subversion klassischer patriarchaler Autoritätsmodelle [entwirft]“ (Gronemann et al. 2012, S. 197). Diese These, die gestützt wird von der Herausarbeitung narratologischer Besonderheiten wie multiperspektivischem Erzählen und Pluralität der Erzählstimmen in Djebars Texten, ist auch für die spätere Analyse der vorliegenden Arbeit fruchtbar. Sie kann daher an die Arbeit Gronemanns in diesem Punkt anknüpfen. Im Gegensatz zu Gronemann, die theoretische Überlegungen zur Gattung der Autobiographie und dem innovativen Potential des autobiographischen Schreibens aus dem Maghreb betrachtet, sind für Alison Rice die autobiographischen Aspekte in Anlehnung an Derrida „testimonies“ (Rice 2012, S. 3ff.) zentraler Bestandteil ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk Djebars. Rice untersucht u. a. auch die Texte Djebars, Mokeddems und Beys unter diesem Aspekt. Sie untersucht die Beziehungen zwischen „testimony and fiction“ (ebd.). In ihrer Studie finden sich kaum detaillierte Textanalysen einzelner literarischer Texte. Sie stellt allerdings fiktionale, autobiographische und theoretische Texte der ausgewählten Autorinnen auf eine fruchtbare Art in einen Zusammenhang und kommt zu dem Schluss, dass die von ihr untersuchten Texte sich über Gattungsgrenzen hinwegsetzen (vgl. Rice 2012, S. 16), was sie zu einer Vielzahl an Verstehensmöglichkeiten führt. Rice sieht in Djebars und Beys Texten die Zerstreuung des stereotypen Bildes von algerischen Frauen und eine Auseinandersetzung mit den multiplen Herausforderungen im Algerien nach der Unabhängigkeit (vgl. Rice 2012, S. 22). Auch Mildred Mortimer (2013) sowie Clarisse Zimra (1992 und 1993) setzen sich, wie auch Rice, mit Djebars Sicht auf die patriarchalen Strukturen in der algerischen Gesellschaft und deren literarischer Inszenierung auseinander. Mireille Calle-Gruber hingegen beschäftigt sich in ihrer Studie Assia Djebar ou la résistance de l’écriture. Regards d’un écrivain d’Algérie (Calle-Gruber 2001) mit der besonderen sprachlichen Situation Djebars, in deren Familie Arabisch ebenso wie Berbersprachen gesprochen wurden und die dennoch auf Französisch schreibt. Calle-Gruber nimmt in ihrer Studie neben dem inhaltlichen Schwerpunkt zur Wahl der Schriftsprache Djebars detaillierte Textanalysen vor. Sie entgeht damit der Versuchung einer vornehmlich feministischen oder postkolonialen Lesart, sondern fokussiert auf das literarische Potential der Texte. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt ist die Thematisierung des Schweigens. Damit bezieht sie sich auch auf das Hör- und Lesbarmachen weiblicher Stimmen durch Djebars Texte. Gleichzeitig verweist Calle-Gruber in der Analyse ihres Werks damit aber allgemeiner auf die zentrale Bedeutung des Zuhörens für die Inszenierung vielfältiger Perspektiven, Lebensweisen und Erfahrungen. Die Studie von Priscilla Ringrose (2006) setzt sich mit ausgewählten Texten Assia Djebars unter der Prämisse auseinander, Parallelen und Widersprüche zwischen ihrem Schreiben und den theoretischen Texten der französischen Feministinnen Hélène Cixous, Julia Kristeva und Luce Irigaray sowie Leila Ahmed und Fatima Mernissi auszumachen. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Jane Hiddleston, indem sie in Untersuchungen, ebenfalls aus 2006, Djebars Leben sowie ihr Werk in Bezug zu postkolonialen und aktuellen französischen philosophischen Theorieansätzen setzt. Ihr Erkenntnisinteresse gilt dabei Djebars Beschäftigung mit einer algerischen Identität, die sie außerhalb von Dualismen wie Islam und Westen, Kollektivität und Individualität zu verorten sucht (vgl. Hiddleston 2006). Einen anderen Ansatz bei der Analyse des Werks von Assia Djebar verfolgt Beatrice Schuchardt. Der interdisziplinäre Ansatz in ihrer 2006 erschienenen Dissertation Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar (Schuchardt 2006) will postkoloniale Literatur als Teil der Geschichtsschreibung begreifen. Ihrer Ansicht nach kann ein derartiger Analyseansatz das subversive Potential postkolonialer Literatur in Bezug auf die Historiographie verdeutlichen, da in der Literatur als kreativem und damit vom herrschenden Machtdiskurs weitgehend befreitem Medium eine differenziertere, ambivalentere Geschichtsschreibung möglich sei. Mertz-Baumgartner beschäftigt sich in ihrer Untersuchung Ethik und Ästhetik der Migration (Mertz-Baumgartner 2004) u. a. mit Mokeddem. Sie entwirft mit Hilfe theoretischer Konzepte der Postcolonial Studies (u. a. Homi K. Bhabha) eine Ethik der Migration, die sie mit Beispielen literarischer Texte algerischer Autorinnen belegt. Anhand des Konzepts der Transkulturalität stellt sie die These auf, dass die Autorinnen einen Gegenentwurf zu „monovalenten Kultur- und Nationenkonzepten“ (Mertz-Baumgartner 2004, S. 18) verwirklichen. Als Teil dieses Gegenentwurfs, so arbeitet sie heraus, werden Identitäts- und Kulturbegriff als Folge der Auseinandersetzung mit der Migrationserfahrung revidiert (vgl. ebd., S. 24). Grundlage ihrer Analyse sind dabei literarische Texte von Malika Mokeddem, Latifa Ben Mansour, Le?la Marouane und Fatima Gallaire. Methodisch bezieht Mertz-Baumgartners Studie die Aussagen der Autorinnen des Korpus selbst mit ein, um die theoretischen Überlegungen zu ergänzen. Dazu werden Äußerungen aus Interviews oder Artikeln, in denen sich die Autorinnen mit dem Thema Migration auseinandersetzen, gegenübergestellt (vgl. Mertz-Baumgartner 2004, S. 66ff.). Diese Methodik wird auch in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 3 übernommen, um den theoretischen Überlegungen eine weitere Dimension zu verleihen und die Reflektionen...