E-Book, Deutsch, Band 1, 500 Seiten
Reihe: Viersamkeit
Winkler Viersamkeit
2. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7407-2276-0
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 500 Seiten
Reihe: Viersamkeit
ISBN: 978-3-7407-2276-0
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beate Winkler, 1973 in Hamburg geboren, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. Nach der Trilogie »Viersamkeit«, »Flucht in die Zweisamkeit« und »Aus der Einsamkeit« veröffentlichte sie die Romane »Der eigene Weg«, »Das Implantat« und »Rosa«.
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Das Büro lag im Erdgeschoss in einem Verwaltungsgebäude am Ende des großen Geländes der Universitätsklinik. Das kleine viereckige Schild hinter Plexiglas verriet Namen und Einsatzgebiet der darin arbeitenden Person – Bierhauf, Behindertenbeauftragte. Ich hielt kurz inne, nahm schließlich beide Krücken in eine Hand, klopfte und öffnete die Tür.
»Ah, Frau Wesel? Kommen Sie rein!«
Eine kleine, etwas mollige, freundlich aussehende Frau, vielleicht Anfang vierzig, mit vielen Lachfältchen um die Augen, sah zu mir auf.
»Wollen Sie sich setzen?«, sie wies auf den Stuhl gegenüber von ihrem Schreibtisch, »worum geht es?«
Ich ging in meinem wie üblich langsamen Tempo zu dem Stuhl und ließ mich unter ihrem prüfenden Blick darauf fallen. Ich lehnte die Krücken an den Stuhl.
»Guten Morgen, Frau Bierhauf. Ich hatte Ihnen ja vorab eine Mail geschrieben. Ich bin aktuell im fünften Semester meines Medizinstudiums und muss so langsam an die Planung der ersten Famulatur denken. Ich bin mir nicht so sicher, wie gut das klappt, zum Beispiel auf einer Station. Der OP scheint mir wegen des langen Stehens eher noch schwieriger.«
Sie hörte mir aufmerksam zu. »Wie sind Sie denn bis jetzt klargekommen? Wir hatten in den letzten zwei Jahren noch keinen Kontakt, oder? Haben Sie sich allein durchgekämpft?«
»Ja. Manchmal ist es schwierig, aber es ging alles irgendwie. Aber die Praktika bereiten mir jetzt wirklich Kopfzerbrechen. Ich weiß nicht, ob ich im Stationsalltag mit dem hektischen Tempo und all der Lauferei klarkomme. Sie haben bestimmt schon andere Studenten mit einer Behinderung unterstützt, oder? Haben Sie eine Idee, wie ich das am besten angehe? Kennen Sie eine Station, die Sie für besonders geeignet halten?«
Sie nickte: »Ich habe mir angewöhnt, immer ganz direkt zu sein, Frau Wesel. Ich hoffe, das ist okay? Warum studieren Sie Medizin? Haben Sie darüber nachgedacht, wie Sie im Berufsleben klarkommen wollen, wenn Ihnen jetzt schon vier Wochen Famulatur Sorge machen? Was gibt es später für Felder, in denen Sie sich vorstellen, mit Ihrer Behinderung gut arbeiten zu können?«
Sie war sehr direkt, wahrscheinlich jahrelange Erfahrung. Ich fühlte mich trotzdem in die Ecke gedrängt. Niemand ohne eine eindeutige Behinderung müsste sich solche Fragen gefallen lassen, egal wie schwer sie sich tun, irgendwelche Prüfungen zu bestehen.
»Ich studiere Medizin, weil es mich interessiert, weil ich mich leicht darin tue, naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu erfassen, weil ich den menschlichen Körper interessanter als alles andere finde. Man muss klug sein, aber auch eine große menschliche Kompetenz in dem Beruf mitbringen. Ich habe im Rahmen meiner Behinderung so meine notwendigen Erfahrungen mit guten und weniger guten Ärzten gemacht. Ob ich mal auf einer Station arbeiten kann und dort klarkomme, weiß ich nicht. Das ist eine Frage, die sich im Rahmen von Famulatur und PJ sicher beantworten wird. Ich kann mir sonst aber auch vorstellen, ins Labor zu gehen, das sollte unproblematisch sein. Ich habe daher gerade eine Doktorarbeit in der Immunologie mit einem größeren experimentellen Teil angenommen.«
»Dann sind Sie sicher eine sehr gute Studentin? Die Immunologen sind ja eher hart in ihrer Auswahl.«
Ich nickte.
»Also zurück zu Ihrer Frage. Und ich hoffe, dass ich Sie eben nicht brüskiert habe. Sie haben sicher sehr gut über Ihre Studienwahl, auch im Zusammenhang mit Ihrer Behinderung, nachgedacht. Chirurgische Famulatur mit stundenlang am Tisch stehen und Haken halten ist nichts für Sie. Aber es gibt auch Operateure, die hauptsächlich im Sitzen arbeiten, zum Beispiel in der Handchirurgie.«
»Würden die mich denn überhaupt in den OP-Bereich lassen, ohne dass ich die Schuhe wechsle? Ohne meine eigenen Schuhe kann ich keinen Schritt tun …«
»Das müssten wir klären. Haben Sie denn für die erste Famulatur eher Lust auf was Internistisches oder was Chirurgisches?«
»Lieber Innere …«
»Gut. Den Stationsalltag werden Sie ohnehin für sich austesten müssen für Ihre spätere Berufswahl.«
»Gibt es eine Station, die Sie empfehlen können? Oder einen Ansprechpartner, zu dem Sie schon mal einen behinderten Studenten vermittelt haben?«
»Ich kann mich gar nicht an einen Studenten mit einer höhergradigen Gehbehinderung in den letzten Jahren erinnern, der bei mir aufgetaucht wäre … Aber mir fällt da jemand anderes ein, der sich auch ganz schön durchkämpfen musste. Er ist jetzt auch tätiger Arzt gegen alle Widerstände und Erwartungen. Warten Sie mal, ich suche Ihnen seine E-Mail-Adresse heraus. Dann können Sie mit ihm in Kontakt treten.«
Ich verließ das Büro mit einem Namen – Tom Treppin – und einer E-Mail-Adresse. Auf dem Weg zum Bus fiel mir ein, dass Frau Bierhauf mir gar nicht gesagt hatte, worin dessen Behinderung bestand und in welchem Fach er arbeitete.
Abends gegen zehn saß ich vor meinem Computer und versuchte mich an einer E-Mail an einen Menschen, den ich nicht kannte, um ihn um Rat zu fragen. Gar nicht so einfach. Ich hielt mich also möglichst kurz, wahrscheinlich würde es ohnehin nicht wirklich etwas bringen.
Kurz und knapp, was für eine Beschreibung meiner selbst. Immer wieder unschön, sich auf die eigene Behinderung zu reduzieren. Ich arbeitete noch ein wenig weiter am PC. Erstaunlicherweise kam fast prompt eine Antwort:
Ich saß schmunzelnd vor meinem Computer und las die Zeilen. Herr Dr. Treppin oder Tom hatte über sich noch nichts preisgegeben. Über die Homepage der Universitätsklinik konnte ich leicht rausfinden, dass er offenbar Neurochirurg war, also nicht Internist, wie ich vermutet hatte, da ich Innere als Famulaturwunsch angegeben hatte. Vielleicht konnte er mir trotzdem helfen, die E-Mail war auf jeden Fall nett.
Ich entschied mich bewusst dagegen, Dr. Treppin – Tom – zu fragen, worin seine Einschränkung oder Behinderung bestand. Entweder fruchtete der Kontakt sowieso nicht oder er würde es sicher im Verlauf von sich aus schildern. Ich ließ den Computer noch kurz an. Ob wieder gleich eine Antwort käme? Tatsächlich.
Damit hatte ich meinen Tipp, wusste aber trotzdem weiterhin nichts über die Behinderung von Herrn Dr. Treppin. Ich war neugierig, aber eigentlich hatte er keine Veranlassung mehr von sich preiszugeben. Ich wollte gerade den Rechner ausschalten, als noch eine E-Mail eintrudelte:




