Winnacker The Weepers - Wenn die Nacht Augen hat
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-11265-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 2 - Roman
E-Book, Deutsch, 0 Seiten
ISBN: 978-3-641-11265-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein mutiertes Virus hat die Bewohner von Los Angeles entweder umgebracht oder in etwas verwandelt, was nur noch entfernte Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hat. Gemeinsam mit ihrer Familie und einigen Überlebenden schlägt die fünfzehnjährige Sherry sich in den Ruinen der Stadt mehr schlecht als recht durch. Doch dann erkrankt auch ihr Vater, und Sherry will ihn nicht verloren geben. Gemeinsam mit Joshua, dem Jungen, den sie liebt, seit sie ihn das erste Mal gesehen hat, macht sie sich auf die Suche nach einem Medikament. Was sie nicht ahnt: Höchste Regierungskreise wissen nicht nur um das Virus, sondern haben eine Mauer errichten lassen, um die Infizierten vom Rest der Welt zu isolieren – und sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen …
Susanne Winnacker studierte Jura, ehe sie ihre große Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf machte. Außer Geschichten aller Art liebt die Autorin Tiere und - Kaffee (immer und in jeder Form). Mit ihrem Mann lebt sie im Ruhrgebiet. THE WEEPERS - UND SIE WERDEN DICH FINDEN ist ihr Debütroman.
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Eins
Vor 14 Tagen, 17 Stunden und 22 Minuten hatte mich Joshua vor den Weepers gerettet. Wie ein Albtraum zog die Erinnerung an mir vorbei. Seitdem war so viel passiert, dass mir die Zeit viel länger vorkam. Wie konnte es sein, dass erst 14 Tage, 19 Stunden und 31 Minuten vergangen waren, seit Dad und ich den Bunker verlassen hatten, in dem unsere Familie 1 141 Tage verbrachte?
Erst 21 331 Minuten in dieser neuen, zerstörten Welt – und schon jetzt war mir alles viel zu viel.
Ich fuhr mit der Hand durch Joshuas blondes Haar – es wirkte fast silbern im Mondlicht. Seine Wimpern flatterten, doch er schlief weiter mit dem Kopf in meinem Schoß. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken, obwohl er jetzt offiziell die Wache übernehmen musste. Ich schaute zum Himmel auf. Von meiner Position auf dem Dach des Hauptgebäudes aus konnte ich meilenweit sehen. Hier oben wirkte alles ruhig, doch wir wussten es besser. Die Weepers hatten vor zehn Tagen Safe-haven angegriffen und meine Großmutter getötet. Seitdem hatte sich Joshua nicht mehr als ein paar Stunden Schlaf gegönnt. Er war erschöpft; wir alle waren erschöpft. Eigentlich hätten wir Safe-haven schon lange verlassen müssen. Hier war es zu gefährlich. Joshua hob den Kopf. Einen Augenblick lang sah er sich orientierungslos um, bis ihm wieder einfiel, dass wir auf dem Dach waren. Ich rutschte auf den Ziegeln herum, die unangenehm gegen meinen Rücken drückten. Joshua fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und blinzelte mich an. »Wie spät ist es?«
»So gegen fünf.« Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Mond stand schon tief am Himmel.
»Du hättest mich wecken müssen«, sagte Joshua mit schlechtem Gewissen.
Ich küsste ihn auf die Lippen. Er legte seinen Arm um meine Hüfte. »Schon okay. Du brauchst Schlaf, und hier war ja alles ruhig.«
Ich bereute sofort, dass ich das gesagt hatte. Joshua versteifte sich. Die Welt war vieles geworden – aber ruhig war sie nicht. Nicht mehr, seit vor drei Jahren die Tollwut ausgebrochen war. Mein Blick wanderte über die sanften, von Reben bedeckten Hügel rund um das Weingut. Bei unserer Ankunft vor 14 Tagen und 15 Stunden hatte ich erfahren, dass meine Familie und ich nicht die einzigen Überlebenden waren. Dieser Ort war zu meiner Heimat geworden, und nun würde ich diese Heimat ebenfalls verlieren.
Die Gänge zwischen den Weinreben lagen im Schatten. Dort konnte sich alles Mögliche verstecken. Wir hatten alle Weepers, die uns angegriffen hatten, getötet. Doch das bedeutete nicht, dass nicht noch weitere angreifen würden.
»Glaubst du, dass dein Dad heute gesund genug für die Abreise ist?«, fragte Joshua. Dieselbe Frage hatte er mir schon gestern gestellt, und ich hatte meine Bedenken beiseite gewischt, obwohl ich mir insgeheim ebenfalls Sorgen machte.
»Keine Ahnung. Letzte Nacht sah er etwas besser aus.«
Vor dem Wachdienst hatte ich Dad in dem zu einer Krankenstation umfunktionierten Cottage besucht. Mom hatte mich zwar voller Hoffnung angesehen, Dads Haut hatte aber vor Schweiß geglänzt. Karen hatte behauptet, dass das ganz normal sei. Er brauchte Zeit, um wieder gesund zu werden. Aber möglicherweise hatte sie das nur gesagt, um mich zu trösten.
Die Weepers hatten Dad entführt. Vor zwölf Tagen konnten ihn Joshua und ich aus ihrem Nest befreien. Dad hatte einen großen, eitrigen Schnitt im Bein davongetragen. Obwohl Karen – eine der Überlebenden von Safe-haven und ausgebildete Krankenschwester – sich um ihn kümmerte, war die Wunde noch nicht verheilt. Jetzt befürchteten wir alle das Schlimmste; was, wenn das Fieber und seine Schwächeanfälle nicht von einer Infektion der Wunde herrührten? Was, wenn Dad sich mit dem Virus angesteckt hatte? Was, wenn sich Dad langsam und unter großen Schmerzen in einen Weeper verwandelte?
»Das wird schon wieder«, sagte Joshua und legte seinen Arm um mich.
»Das kannst du nicht wissen«, entgegnete ich. »Und wenn es immer schlimmer wird? Wenn es wirklich die Tollwut ist? Wenn wir ihm nicht helfen können, ist er verloren.«
Joshua schwieg. Er wusste, dass ich recht hatte. Die Westküste war inzwischen nur noch ein verlassenes Ödland. Die Regierung hatte einen Zaun quer durch Amerika errichtet, um die Tollwut einzudämmen – und hatte damit uns, die Überlebenden, zu einem Dasein voller Schrecken und der ständigen Angst vor dem nächsten Weeper-Angriff verdammt. Nach wie vor war es fast unvorstellbar, dass die Leute nur wenige hundert Meilen von hier ein ganz normales Leben führten; ein Leben, in dem die Angst und der Tod nicht allgegenwärtig waren. Der Rest des Landes wusste nicht einmal von uns. Wenn sich Dad wirklich mit der Tollwut infiziert hatte, konnte ihm hier keiner helfen. Hoffnung gab es nur jenseits des Zauns.
Nach Sonnenaufgang verließen Joshua und ich das Dach und machten Frühstück in der Küche. Der Duft von Keksen und Kaffee (unser letztes Päckchen) erfüllte das Haus und lockte die Bewohner von Safe-haven aus ihren Betten. Schon bald hatten sich die meisten von uns um den großen Holztisch versammelt, der so sperrig war, dass wir ihn unmöglich mitnehmen konnten. Ich würde die gemeinsamen Mahlzeiten dieser eigenartigen, zusammengewürfelten Familie vermissen.
Mia hielt Bobbys Hand. Sobald sie mich sah, kam sie auf mich zugestürmt und schlang die Arme fest um mich. Ich fuhr mit den Fingern durch ihre roten Locken und lächelte Bobby an. Er hatte sich in den letzten Tagen rührend um unsere kleine Schwester gekümmert und versucht, so gut wie möglich für unseren kranken Vater einzuspringen. Jedes Mal, wenn ich Bobby sah, schien er wieder ein Stück gewachsen zu sein. Er war jetzt größer als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Bobby nickte mir zu und ließ sich in einen Stuhl fallen.
»Fertig!«, rief Marie und nahm das Blech mit den Keksen aus dem Ofen. Dabei hing ihre Tochter Emma wie ein Klammeraffe an ihrem linken Bein.
Ich reichte Karen die Kaffeekanne. Sie schenkte erst ihrem Mann ein, bevor sie sich selbst eingoss. Larry rieb sich gedankenverloren das steife Bein. Offensichtlich bereitete es ihm von Zeit zu Zeit Schmerzen. Als er meinen Blick bemerkte, hielt er inne und rückte sich mit einem verschämten Lächeln die Brille zurecht. Ich wusste nicht so recht, wieso ihm das peinlich sein sollte – sein lahmes Bein war der Beweis dafür, dass er überlebt hatte. Darauf konnte er stolz sein. Nur wenigen Menschen gelang es, bei einem Weeper-Angriff mit dem Leben davonzukommen.
Rachel und Tyler saßen Seite an Seite. Seit Rachel hier angekommen war, waren die beiden unzertrennlich. Joshua hatte sie aus demselben Nest gerettet, in dem wir auch Dad gefunden hatten. Mom und Dad waren die letzten, die zu uns stießen. Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, dass Dad zwar noch blass war und sich auf Mom stützen musste, aber nicht mehr schwitzte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er sich langsam auf einem Stuhl niederließ. Man konnte die Gedanken der Anwesenden fast hören: »Können wir heute endlich fahren?«
Natürlich war es ihr gutes Recht, sich Sorgen zu machen, aber trotzdem gefielen mir die misstrauischen Blicke, die sie Dad zuwarfen, überhaupt nicht.
Larry klopfte Dad auf die Schulter. »Du siehst gut aus.«
Dad lachte heiser. »Dann brauchst du wohl eine neue Brille.« Alle lachten, und die angespannte Atmosphäre lockerte sich etwas auf.
Joshua drückte mein Bein. Ich lehnte mich zurück und entspannte mich.
Wir knabberten die Kekse, die Marie gebacken hatte. Ich würgte sogar ein paar Schlucke Kaffee hinunter. Den Geschmack fand ich noch immer widerlich, aber heute brauchte ich das Koffein.
»Also werden wir morgen von hier verschwinden?«, platzte Bobby heraus.
Am liebsten hätte ich ihm dafür einen Tritt verpasst. Dad stierte auf seinen Teller.
Karen erstarrte, die Kaffeetasse nur wenige Zentimeter von ihrem Mund entfernt. Langsam stellte sie sie wieder ab. »Schon möglich. Das können wir erst heute Abend mit Sicherheit sagen. Wenn sich sein Zustand nicht verschlimmert, sehe ich keinen Grund, weshalb wir morgen früh nicht losfahren könnten.«
Ich versuchte, die Hoffnung, die in mir aufstieg, zurückzudrängen. Wir mussten noch einen ganzen Tag hinter uns bringen. Erleichterung und Freude konnte ich mir erst erlauben, wenn Dad im Auto saß und mit uns Safe-haven verließ. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, würde ich das nicht verkraften.
Nach dem Frühstück spülte ich freiwillig ab. Ich brauchte eine Beschäftigung, obwohl mir vor Müdigkeit jeder Muskel schmerzte. Dann hörte ich das Klopfen von Dads Gehstock hinter mir. Er lehnte sich gegen die Küchenzeile. »Brauchst du Hilfe?«
Ich wollte schon verneinen, da bemerkte ich den flehentlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Es musste schwer für ihn sein, sich so hilflos zu fühlen – wahrscheinlich hielt er sich eher für nutzlos. Sein ganzes Leben lang hatte er hart gearbeitet, und selbst im Bunker, nachdem Mom unter dem Druck zusammengebrochen war, hatte er mir geholfen, den...




