E-Book, Deutsch, 400 Seiten, eBook
Winterson Frankissstein
1. Auflage, neue Ausgabe 2019
ISBN: 978-3-0369-9420-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Liebesgeschichte
E-Book, Deutsch, 400 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9420-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1816 schreibt Mary Shelley Frankenstein in den Schweizer Bergen. Zweihundert Jahre später, im heutigen Großbritannien, begegnen wir dem transgender Arzt Ry Shelley, der sich in Victor Stein, einen renommierten wie unergründlichen Experten für künstliche Intelligenz verliebt.
Klug und mit unvergleichlichem Witz verbindet Winterson diese beiden Erzählstränge zu einer höchst originellen Geschichte, in der die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz und zwischen biologischer und sexueller Identität verschwinden – eine Geschichte über die Liebe und das Menschsein selbst.
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Genfer See, 1816
Realität ist wasserlöslich.
Was wir sehen konnten, die Felsen, das Ufer, die Bäume, die Boote auf dem See, hatte seine übliche Schärfe verloren und war mit dem langen Grau einer ganzen Woche voller Regen verschwommen. Selbst das Haus, das den Anschein erweckte, aus Stein zu sein, waberte inmitten des dichten Nebels, aus dem gelegentlich eine Tür oder ein Fenster auftauchte wie ein Traumbild.
Alles Solide hatte sich in sein wässriges Pendant verwandelt.
Unsere Kleider trockneten nicht mehr. Wenn wir ins Haus zurückkamen, was wir mussten, weil wir nicht immer nur drinbleiben konnten, brachten wir das Wetter mit. Durchweichtes Leder. Wolle, die nach Schaf stank.
Meine Unterwäsche schimmelt.
Heute Morgen kam ich auf die Idee, einfach nackt zu gehen. Welchen Nutzen haben völlig durchnässte Kleider? Stoffbezogene Knöpfe, die in den Knopflöchern derart aufquellen, dass ich gestern aus meinem Kleid herausgeschnitten werden musste?
An diesem Morgen war mein Bett so nass, als hätte ich die ganze Nacht geschwitzt. Die Fenster waren von meinem eigenen Atem beschlagen. Wo das Feuer im Kamin überhaupt noch brannte, zischte das Holz wie Darmwinde. Ich ließ dich schlafen und tappte leise, auf nassen Füßen, die feuchtklamme Treppe hinunter.
Nackt.
Ich öffnete die Haustür. Der Regen fiel immer noch, beständig und gleichgültig. Er fiel nun schon seit sieben Tagen, nicht schneller, nicht langsamer, nicht stärker, nicht schwächer. Die Erde konnte ihn nicht mehr aufnehmen, der ganze Boden war schwammig – die Schotterwege trieften vor Nässe, und im ordentlichen Garten hatten sich mehrere Rinnsale gebildet und schwemmten die Erde weg, die sich als zähe schwarze Pfütze vor unserem Tor sammelte.
Aber an diesem Morgen ging ich hinter dem Haus den Hang hinauf, in der Hoffnung auf eine Lücke in den Wolken, durch die ich den See sehen könnte, der unter uns lag.
Beim Hinaufgehen dachte ich darüber nach, wie sich unsere Vorfahren gefühlt haben mussten, die ohne Feuer, oft ohne Schutz, durch die Natur streiften, so schön und so freigiebig, aber auch so erbarmungslos in dem, was sie mit sich brachte. Ich dachte, dass ohne Sprache, oder vor der Sprache, sich der Geist nicht selbst trösten kann.
Und doch ist es die Sprache unserer Gedanken, die uns mehr quält als alle Exzesse oder Härten, die die Natur uns auferlegt.
Wie es wohl wäre – nein, wie wäre es – in dieser Frage gibt es kein »wohl« – wie wäre es, ein Wesen ohne Sprache zu sein – kein Tier, sondern etwas mir selbst Ähnlicheres?
Hier also bin ich, in meinem zitternden, mit Gänsehaut überzogenen Körper. Eine wahrhaft armselige Kreatur, ohne die Spürnase eines Hundes, ohne die Schnelligkeit eines Pferdes, ohne die Flügel der unsichtbaren Bussarde, die ich über mir schreien höre wie verlorene Seelen, und ohne Flossen oder auch nur einen Meerjungfrauenschwanz für dieses Wetter zum Auswringen. Ich bin nicht einmal so gut gerüstet wie die Haselmaus, die gerade in einem Felsspalt verschwindet. Ich bin eine wahrhaft armselige Kreatur, außer dass ich denken kann.
In London war ich nicht so zufrieden wie hier am See und in den Alpen, wo der Geist Einsamkeit finden kann. London ist immerwährend; eine stetig strömende Gegenwart, die auf eine zurückweichende Zukunft zuhastet. Hier, wo die Zeit weder prall gefüllt noch knapp ist, könnte, wie ich mir vorstelle, alles geschehen, wäre alles möglich.
Die Welt steht am Beginn von etwas Neuem. Wir sind die Gestalter unseres Schicksals. Ich mag keine Erfinderin von Maschinen sein, aber ich bin die Erfinderin von Träumen.
Dennoch wünschte ich, ich hätte eine Katze.
Ich befinde mich jetzt oberhalb der Dachlinie des Hauses, die Schornsteine ragen durch den feuchten Stoff des dampfenden Regens wie die Ohren eines gigantischen Tieres. Meine Haut ist überzogen von klaren Tropfen, als sei ich mit Wasser bestickt worden. Es liegt etwas Schönes in meiner geschmückten Nacktheit. Meine Brustwarzen sind wie die Zitzen einer Regengöttin. Meine Schamhaare, immer dicht, wirken wie eine dunkle Untiefe. Der Regen nimmt beständig zu, steigert sich zu einem Wasserfall, und ich mittendrin. Meine Lider sind nass. Ich reibe mir die Augen mit den Fäusten.
Ich muss an Shakespeare denken. Welches Stück war es noch einmal? Ein Sommernachtstraum.
Zerdrück dies Kraut dann auf Lysanders Augen:
Die Zauberkräfte seines Saftes taugen,
Von allem Wahn sie wieder zu befrein
Und den gewohnten Blick ihm zu verleihn.
Dann sehe ich es. Ich glaube, es zu sehen. Was scheine ich zu sehen?
Eine Gestalt, gigantisch, zerlumpt, die sich schnell über die Felsen über mir bewegt, von mir weg nach oben steigt, den Rücken mir zugewandt, die Bewegungen sicher, gleichzeitig aber auch stockend, wie die eines jungen Hundes, dessen Pfoten zu groß für ihn sind.
Ich überlegte, ob ich ihn rufen sollte, gestehe aber, dass ich Angst hatte.
Dann war die Vision verschwunden.
Wenn es, dachte ich, ein Wanderer ist, der sich verirrt hat, wird er unser Haus finden. Aber er bewegte sich davon fort, als hätte er es gesehen und wäre achtlos daran vorbeigegangen.
Beunruhigt darüber, eine Gestalt gesehen zu haben, und gleichermaßen beunruhigt, ich hätte sie mir vielleicht nur eingebildet, kehrte ich zum Haus zurück. Ich schlich mich hinein, dieses Mal durch eine Seitentür, und ging vor Kälte zitternd die geschwungene Treppe hinauf.
Mein Mann stand auf dem Absatz. Ich ging auf ihn zu, nackt, wie ich war, und sah, wie seine Männlichkeit sich unter seinem Hemdzipfel regte.
Ich habe einen Spaziergang gemacht, sagte ich.
Nackt?, fragte er.
Ja, sagte ich.
Er streckte die Hand aus und berührte mein Gesicht.
Was ist dein Stoff? Woraus bestehst du,
Dass Scharen fremder Schatten dich umschweben?
An diesem Abend saßen wir am Feuer, das Zimmer eher Schatten denn Licht, denn wir hatten nur wenige Kerzen, und solange das Wetter nicht besser wurde, konnten keine beschafft werden.
Ist dieses Leben ein verworrener Traum? Ist die äußere Welt der Schatten, während wir die Substanz nicht sehen, berühren oder hören, aber dennoch wahrnehmen können?
Wieso ist dieser Traum von Leben so albtraumartig? Fiebrig? Schweißig?
Oder liegt es daran, dass wir weder tot noch lebendig sind?
Ein Wesen, das weder tot noch lebendig ist.
Mein ganzes Leben lang habe ich einen solchen Zustand gefürchtet, und daher schien es mir besser, so zu leben, wie ich leben kann, und den Tod nicht zu fürchten.
Und so ging ich mit siebzehn mit ihm fort, und diese beiden Jahre waren für mich Leben.
Im Sommer 1816 mieteten die Dichter Shelley und Byron, Byrons Arzt Polidori, Mary Shelley und ihre Stiefschwester Claire Clairmont, zu diesem Zeitpunkt Byrons Geliebte, zwei Häuser am Genfer See in der Schweiz. Byron bewohnte die größere Villa Diodati, während die Shelleys ein kleineres, charmanteres, etwas tiefer am Hang gelegenes Haus bezogen.
Die beiden Haushalte standen in einem derart schlechten Ruf, dass ein Hotel auf der anderen Seeseite ein Fernrohr aufstellte, damit seine Gäste beobachten konnten, was die angeblichen Satanisten und Sexualisten, die sich ihre Frauen teilten, so trieben.
Zwar stimmt, dass Polidori in Mary Shelley verliebt war, aber sie weigerte sich, mit ihm zu schlafen. Byron hätte vielleicht mit Percy Shelley geschlafen, hätte dieser derartige Neigungen verspürt, worauf es aber keine Hinweise gibt. Claire Clairmont hätte mit jedem geschlafen – bei dieser Gelegenheit schlief sie nur mit Byron. Die beiden Haushalte verbrachten die ganze Zeit miteinander. Dann fing es an zu regnen.
Mein Mann verehrt Byron. Jeden Tag fahren sie mit einem Boot auf den See hinaus, um über Dichtung und Freiheit zu reden, während ich Claire meide, die über nichts reden kann. Ich meide auch Polidori, er ist ein liebeskrankes Tier.
Aber dann kam der Regen, und diese Wolkenbruchtage ließen keine Ausflüge auf den See zu.
Zumindest verhinderte das Wetter, dass wir vom anderen Ufer angestarrt wurden. Im Ort hörte ich das Gerücht, ein Gast hätte ein halbes Dutzend zum Trocknen auf Byrons Terrasse ausgebreitete Unterröcke erspäht. In Wahrheit waren es Bettlaken. Byron ist Dichter, liebt aber Sauberkeit.
Nun werden wir von unzähligen Wärtern gefangen gehalten, jeder gebildet von einem Wassertropfen. Polidori hat zu seiner Unterhaltung ein Mädchen aus dem Dorf mitgebracht, und wir tun in unseren klammen Betten, was wir können, aber der Geist muss ebenso geübt werden wie der Körper.
An jenem Abend saßen wir um das dampfende Feuer herum und sprachen über das Übernatürliche.
Shelley ist fasziniert von mondhellen Nächten und dem überraschenden Anblick von Ruinen. Er glaubt, dass jedes Gebäude einen Abdruck der Vergangenheit in sich trägt wie eine Erinnerung, oder Erinnerungen, und dass diese freigesetzt werden können, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Aber welches ist der richtige Zeitpunkt?, fragte ich ihn, und er überlegte, ob die Zeit selbst vielleicht von jenen abhängt, die sich in ihr befinden. Wenn die Zeit uns als Kanäle in die Vergangenheit benutzt – ja, so muss es sein, sagte er, da manche Leute mit den Toten sprechen können.
Polidori ist anderer Meinung. Die Toten sind nicht mehr. Falls wir Seelen...