Winterstein | Am Rand, mit den Füßen im Nichts | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 164 Seiten

Winterstein Am Rand, mit den Füßen im Nichts


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7557-0683-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

ISBN: 978-3-7557-0683-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Corinna Wintersteins Geschichten erzählen vom Museumswärter Nathan Kantereit, der sich in das Bildnis von Lise Tréhot verliebt, von Linnea und Jonah, die gemeinsam den Ort suchen, an dem Wolfgang Herrndorf sich erschoss, vom demenzkranken Arthur, der im Wald seinen Sohn zu sehen glaubt. Wintersteins Figuren sind seltsame, schwierige, manchmal verschrobene Charaktere in entscheidenden Momenten ihres Lebens. Was sie verbindet, ist die Suche nach Liebe und Hoffnung und der Drang nach Freiheit und Emanzipation.

Co Winterstein hat das Studium der Soziologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Hamburg abgeschlossen. Sie hat Texte in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Am Rand, mit den Füßen im Nichts ist ihr Debüt.

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Am Rand,
mit den Füßen im Nichts
Ein Katzenschrei zerreißt die Stille. Erstes Licht zeigt sich am Himmel, das Flackern der Sterne verblasst. Ich wache vor dem Klingeln des Weckers auf und stelle mir vor, wie der Rotfuchs, der am Heidbach wohnt, jetzt in seinen Bau zurückkehrt und sich schlafen legt. Jonathan räkelt sich, schlägt die Augen auf und kuschelt seinen Kopf auf meine Schulter. Ich streichele sein Gesicht. Ohne dass wir ein Wort getauscht haben, sagt er: Heirate mich. Und sieht mich an, hellwach, mit der Aufmerksamkeit eines Abenteurers. Forschend und ein bisschen verrückt. Auf keinen Fall, platzt es aus mir heraus, ich kann nicht heiraten. Während ich die Worte ausspreche, tut es mir schon leid. Aber ich muss das sofort klarstellen. Warum nicht? Ich möchte das nicht, antworte ich hektisch, komme ins Schlingern. Da ist etwas, das ich nicht aussprechen, bei aller Einfachheit nicht erklären, nur denken kann. Ein Licht, zuinnerst, von einer Mauer umgeben, an das niemand herankommen darf. Falls jemand die Mauer durchdringt, erlischt es und ich zerfalle wie eine vertrocknete Blüte im Wind. Ist ja schon gut, beruhigt er mich, zieht die Augenbrauen hoch und zwickt mich in die Seite, dann lass ich mir deinen Namen eben in Versalien auf den Hals tätowieren. Mit einem kleinen Lachen gibt Jonathan preis, dass meine Antwort ihn nicht verletzt hat. Nein, machst du nicht. Ich küsse ihn. Da klingelt der Wecker auf dem Nachttisch. Kurz nach sieben. Doch. Hierhin. Er fährt mit Daumen und Zeigefinger eine zehn Zentimeter hohe Fläche an seinem Hals entlang. L-I-N-N-E-A. In Schwarz. Seine Augen sind weit geöffnet, ein helles Wasserblau, und in den Augenwinkeln steckt ein Lächeln, geheimnisvoll und wunderbar. Ich lasse meine Hand auf seiner Brust liegen. Eine Geste, an die ich später denken werde. Er greift meine Hand und fährt damit seinen Oberkörper hinunter in die Shorts. Ich spüre, wie sein Blut sich staut und seine Erregung wächst. Schnell ziehe ich die Hand aus seiner Hose und entschuldige mich. Ich muss jetzt wirklich gehen. Fast vier Stunden wird die Fahrt von Hollenstedt nach Berlin dauern und der Fototermin bis in den späten Abend. Geh noch nicht, bittet er, schiebt mein Hemd hoch und drückt sein Gesicht in die nackte Haut. Jonah! Befrei dich, sagt er lachend. Ich stemme mich gegen seine Schultern, versuche, mich seitlich aus seinem Griff zu winden. Ein spielerischer Kampf. Er zwickt und kitzelt mich, bis ich um Gnade bettele und mir vorkomme wie ein quietschender Teenager. Jonathan kniet über mir, küsst mich zärtlich auf den Mund. Er legt sich auf mich, ich erwidere seine Zungenküsse. Plötzlich spüre ich eine Dringlichkeit in seinen Berührungen, die mich alarmiert. Vorsicht kriecht mir den Nacken hoch und etwas in mir zieht sich zusammen. Ich versuche, ihn abzuwehren. Ich muss zur Arbeit, stottere ich. Lass mich nicht allein, flüstert er und versteckt schüchtern sein Gesicht in meinen Haaren. Bitte, jammere ich, das ist mein Job. Er schiebt seinen linken Arm unter meinen Nacken sodass mein Kopf fest in seiner Armbeuge liegt. Nein, sage ich, als ich merke, dass er seine Hose runterzieht und mit den Knien meine Beine spreizt. Ich empfinde keine Wut, immer denke ich, du bist selbst schuld, du kannst dich nicht abgrenzen. Während Jonathan sich auf mich presst, mein Bein anwinkelt, mein Gesicht mit Küssen bedeckt und in mich eindringt, fühle ich mich wie Erde, die verbrannt,
ein Wort, das gelogen,
sprödes Glas, das zerbrochen ist. Seine Kraft, die sich über mir ausbreitet, hüllt mich ein wie eine Aura. Ich wage es nicht, mich zu wehren. Bin machtlos gegen die Dominanz und Schnelligkeit seiner Bewegungen. Ich will nicht, flüstere ich. Schlaf mit mir, stöhnt er. Es klingt bittend, Sehnsucht in der Stimme, die mich milde stimmt. Sein muskulöser Körper ist schwer. Ich fahre mit der Hand über die Rippen auf seinem Rücken und versuche, es zu genießen, seine Berührungen, die Wärme und Zärtlichkeit zu erwidern. Aber es gelingt nicht. Der Gedanke taucht auf, dass ich eigentlich Nein gesagt habe. Die Vorstellung, dass mein Selbst ein körperloses ist, ein weißer Nebel, der sprachlich kommunizieren kann, aber nicht zu fassen ist, begleitet mich. Jonahs Bewegungen werden schneller und heftiger, seine Küsse gieriger. Mit der rechten Hand packt er meinen linken Unterarm, drückt ihn auf das Bett, hält ihn fest. Ich rufe seinen Namen, bitte ihn, nicht so grob zu sein. Gedanken überschlagen sich. Ich versuche, mich zu beruhigen, brauche keine Angst zu haben. Er wird mich nicht verletzen. Im Fenster sehe ich das Grauverhangene, das sich häufig über unserer Heimat zeigt. Ein transparenter Sichelmond, der sich bald in einen Wolkenbauch schiebt. Wenn der Himmel jemals endet, dann hier. Seltsame Ohnmacht, warum kann ich mich nicht wehren? Wie in einem hermetisch abgeriegelten, schallisolierten Raum. Ich bin in mir gefangen und kann nicht sagen, dass ich das jetzt nicht möchte. Jonah stößt heftig, als wolle er immer noch tiefer in mich hinein. Ich spüre sein erregtes Zucken, dann Sperma. Er legt den Kopf auf meine Brust und schließt die Augen. Nach einer Weile kommt aus der Tiefe ein plötzlicher Groll: Ich wollte das nicht. Ich habe Nein gesagt. Irritiert hebt er den Kopf, Verwirrung im Gesicht. Du hast nicht Nein gesagt, du hast meinen Rücken gestreichelt. Still und leer liege ich da und möchte zurück an den Anfang, zum ersten Moment des Tages – zu den verblassenden Sternen – und dann alles anders machen. Weit entfernt hupt ein Auto. Jonah wälzt sich von mir herunter, bleibt auf dem Rücken liegen, verdeckt mit den Händen das Gesicht. Warum merkst du nicht, wenn ich nicht will, möchte ich schreien, aber schweige. Ich habe mich überhaupt nicht bewegt, nicht mitgemacht, ist dir das nicht aufgefallen? Warum erreichen meine Worte, meine Gesten dich nicht? Du musst auf mich achten! Egal, sage ich schließlich und versuche, meiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben, stehe auf, dusche, ziehe mich an. Ich werfe einen letzten Blick auf Jonah, der nackt auf dem Bett liegt, den Unterarm über den Augen, greife meine Tasche und verlasse das Haus. Marten holt mich am Hamburger Hauptbahnhof ab. Als wir im Auto sitzen auf dem Weg nach Berlin und die Motorgeräusche mich einlullen, spüre ich die Zittrigkeit, die sich nach Jonathans Berührungen manchmal einstellt. Eine Dünnhäutigkeit, Furcht vor Haut und Händen, die mich zufällig oder absichtlich berühren. Ich muss mich anstrengen, nicht zurückzuweichen oder wegzuzucken, wenn Menschen näher kommen. Schweigen hilft, in mich kehren, allein sein. Aber das geht jetzt nicht. Es wird ein paar Tage dauern, bis ich die Einzelteile zusammengesucht habe und mich wieder ganz fühle. Marten erläutert den Fototermin, zu dem wir fahren. Ich höre nicht zu, sondern versuche, meinen Herzschlag zu finden und mir die Dinge schönzureden. Eigentlich hat nur die Zeit gedrängt. Eigentlich wollte ich es. Dass ich mich danach schlecht fühle, liegt nur daran — Vage Versuche, mich selbst zu betrügen. Warum bist du so still, fragt Marten. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Nähe und Zuneigung kann ich in diesem Augenblick nicht empfinden, bin damit beschäftigt, die Kälte und Fremdheit, die in mir herrscht, zu verbergen. Eine Beziehungsamnesie, in der ich vergesse, wie sehr ich Marten mag. Okay, nehm ich so hin, antwortet er und heftet den Blick geradeaus auf die Straße, schreckt mich nicht ab. An einer Tankstelle halten wir. Marten kauft Zigaretten, ich werfe einen Blick auf eine Illustrierte. Auf dem Titelblatt lese ich die Frage, ob sich Jungen, denen in der Kindheit Gewalt angetan wurde, zu gewalttätigen Männern entwickeln. Kurz weicht alle Kraft aus mir, ich halte mich am Zeitschriftenregal fest. Schwarz vor Augen, dann besinne ich mich. Und denke an Jonahs Vater. Als wir wieder im Auto sitzen, tauchen die Bilder aus dem Untergrund auf, schneiden in die Seele, wenn ich den seltenen Mut aufbringe, mich zu erinnern. Sommerferien. Jonathan und ich sind elf oder zwölf. Wir sitzen auf dem Garagendach hinter dem Haus seiner Eltern und beobachten mit seinem Teleskop den Himmel. Durch eine ungeschickte Bewegung stoße ich es vom Dach. Meine Schuld, eine große Schuld. Wir klettern sofort runter, um den Schaden zu begutachten. Da kommt Jonahs Vater wütend auf den Hof gelaufen und gibt ihm eine Ohrfeige. Seltsam unberührt sieht Jonah danach aus und blickt dem Vater fest in die Augen. Zieh das aus, schreit der tollwütige Mann, und als Jonah sich weigert, fängt er an, am Halsausschnitt des T-Shirts zu ziehen. Mit aller Gewalt reißt er Jonah das Kleidungsstück vom Leib und schlägt ihn auf die Schultern, auf die Brust, auf den Rücken. Verteilt Hiebe, immer und immer wieder. Mit der rohen Hand verletzt und beschädigt er den eigenen...



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