E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Wittekindt / Wittkamp Mord im Balkanexpress
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7099-3853-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3853-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Wittekindt, 1958 in Bonn geboren, doch in Hamburg aufgewachsen, hängte seinen Architektenberuf angesichts dramatischer Erfolge am Theater an den Nagel und widmete sich ganz dem Schreiben und Inszenieren. Nach seinem gefeierten Romandebüt 'Sog' (2004) wechselte er 2011 ins Kriminalfach. Rainer Wittkamp, Jahrgang 1956, zog als gebürtiger Westfale zum Studium nach Berlin und bereiste anschließend als Regieassistent fast ganz Europa. Ab 1992 widmete er sich als Regisseur und Autor den Medien Film und Fernsehen, ehe es ihn 2014 ebenfalls zur kriminellen Literatur zog. Seither Serientäter und daneben regelmäßig als Programmberater für Lesungsreihen und Krimi-Festivals aktiv. Die beiden haben sich für HAYMON erstmals zusammengetan und bescheren uns mit 'Mord im Balkanexpress' eine hochexplosive Premiere.
Autoren/Hrsg.
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I
„Mon dieu, ich komme zu spät!“ Christine Mayberger schwingt sich auf die lederbezogene Rückbank des Fiakers.
Schlitzohrig äugt der Kutscher vom Bock aus nach hinten, hebt dann bedächtig die Peitsche.
‚Wo ist mein Spiegel …?‘
Gemächlich setzt sich das Gefährt in Bewegung, rumpelt über das buckelige Kopfsteinpflaster.
Hektisch kontrolliert die junge Frau ihr Aussehen. ‚Der Lidschatten ist zu dunkel …‘
Christine Mayberger ist eine in ganz Wien bewunderte Schönheit, und heute strahlt sie besonders. Und das trotz ihres vor Aufregung geröteten Teints. Das bordeauxfarbene Brokatkleid harmoniert perfekt mit ihren kastanienbraunen Haaren, den hellgrünen Augen. ‚Wenn nur mein Herz nicht so klopfen würde!‘
Sie stößt den Kutscher an. „He, können Sie nicht schneller fahren?“
„Galopp geht nicht, gnä’ Frau. Nicht bei der Straße.“
„Ich zahl Ihnen eine halbe Krone extra!“
„Na schön.“
Der Kutscher richtet sich auf, lässt die Peitsche knallen, der Fiaker beschleunigt, reiht sich im grellen Mittagslicht in den dichten Verkehr auf dem Kärntner Ring ein. Christine weiß, dass der Mann mit Absicht im Schneckentempo gefahren ist, um ihr ein Trinkgeld abzupressen. Das ist ihr heute egal. Hauptsache, sie kommt noch rechtzeitig, alles andere wäre eine Katastrophe! Ihre berufliche Zukunft könnte erheblichen Schaden nehmen, denn Ferdinand Hackenberg gilt als äußerst nachtragend. Christine fürchtet, dass er es ihr auf die eine oder andere Art heimzahlen wird, wenn sie ausgerechnet an diesem Tag …
‚Wenn diese dämliche Mietkutsche nur nicht so langsam wäre!‘
Der Fiaker fährt am k. k. Hof-Operntheater vorbei, am Burggarten, dann an der Hofburg. Als sie das Reichsratsgebäude passieren, kommt der Verkehr zum Erliegen.
‚Auch das noch!‘
Zwei Regimentskapellen marschieren auf dem Franzensring frontal aufeinander zu. Hunderte von Gendarmen, zu Fuß und hoch zu Ross, haben das Gebiet weiträumig abgesperrt. Überall stehen Gaffer, alle Schichten der Wiener Gesellschaft sind hier vertreten.
„Kein Durchkommen, gnä’ Frau.“
Christine beugt sich aus dem Fiaker, sieht zuckende Standartenspitzen, hochglanzpolierte Säbel, goldene Uniformknöpfe, die die Mittagssonne hundertfach reflektieren. Im ersten Moment scheint es, als zögen die Regimenter gegeneinander in die Schlacht. Die Akkuratesse, mit der die Kapellen den Hoch- und Deutschmeister-Marsch spielen, lässt bei Christine keinen Zweifel aufkommen. Jedem Schritt, jedem Ton liegt eingedrillte militärische Präzision zugrunde. ‚Das ist ein Exerzieren, kein Musizieren!‘
Als die ersten beiden Reihen nur noch eine Manneslänge voneinander entfernt sind, bleiben die Kapellen abrupt stehen. Stille.
Christine nutzt ihre Chance: „Fahren Sie durch den Rathauspark. Los, beeilen Sie sich!“
Der Kutscher tut, wie ihm geheißen, stößt mit dem Fiaker durch eine Lücke. Da geht ein Raunen durch die Zuschauer, Christine erschrickt. Vor dem Gespann taucht eine Mutter auf mit einem Baby auf dem Arm. Im letzten Moment kann der Fiaker eine Kollision vermeiden.
Jetzt stechen die Kapellmeister mit ihren Taktstäben in die Luft, Posaunen setzen ein, einige der männlichen Zuschauer werfen begeistert ihre Hüte in die Luft, junge Frauen erröten, zwei Kleinkinder plumpsen auf ihren Hosenboden, fangen an zu weinen.
Der Fiaker durchquert den Park, findet erneut eine Lücke, hält schließlich vor dem südlichen Seitenflügel des Burgtheaters.
„Das haben Sie gut gemacht“, lobt Christine den Kutscher, gibt ihm eine Handvoll Münzen, springt leichtfüßig aufs Pflaster.
Während sie auf das Portal des Südflügels zueilt, rattert es in ihrem Kopf: ‚Wer wird alles da sein, mit wem soll ich sprechen, wem besser aus dem Weg gehen?‘
Überall vor dem imposanten Gebäude stehen Theaterenthusiasten, die ihre Aufregung nur schlecht verbergen können. Heute ist ein großer Tag für die Stadt. Das Burgtheater erhält einen neuen Intendanten, gleich wird er feierlich in sein Amt eingeführt.
Ferdinand Hackenberg ist in Wien kein Unbekannter. Zwar verfügt er über keinerlei Erfahrung in der Leitung eines Theaters, aber als langjähriger Herausgeber des Österreichischen Journals für Literatur und schöne Künste hat er das Burgtheater ungeheuer bekannt gemacht, bis weit über die Grenzen des Reiches hinaus. Dafür erhält er nun die verdiente Belohnung – die Intendanz der bedeutendsten Bühne des deutschsprachigen Raumes.
Noch immer rattert es in Christines Kopf: ‚Als Erstes muss ich Hackenberg gratulieren.‘
Dass er nicht unbedingt die beste Wahl ist, was den Posten des Intendanten angeht, weiß jeder im Ensemble. Christine denkt kurz an den Mann, den sie bei solchen Anlässen so gern an ihrer Seite sieht. Aber das geht nicht, denn Albrecht ist in Berlin, hat vermutlich Wichtigeres im Kopf als eine Gala im Burgtheater.
Zwei livrierte Diener öffnen Christine die Türen. Ein paar Schritte, schon ist sie auf der Kaiserstiege, die zum ersten Rang hinaufführt. Im Gegensatz zur Hitze draußen ist es hier angenehm kühl.
Auf den Stufen drängen sich elegant gekleidete Damen und Herren. Aufgeregt plaudernd.
‚Oh Gott, Greta Stockmoser …‘
Mit ihr hat Christine bis vor vier Jahren in Linz Theater gespielt. Wenn Greta sie jetzt aufhält, wird die ehemalige Kollegin ihr eine geschlagene halbe Stunde lang von den Querelen am dortigen Haus erzählen … ‚Und wie deprimierend die Stimmung im Linzer Ensemble ist. Das kann ich jetzt nicht gebrauchen.‘
Christine ist voller Energie, will schnell nach oben, nicht zu spät kommen, schließlich wird der Kaiser jeden Moment eintreffen.
Sie ist schon fast an der Stockmoser vorbei, als …
„Christine!“
‚Einfach weiter, als hättest du nichts gehört …‘
„Christine! Ich bin es!“
‚Es geht nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre Greta nicht da, die Leute drehen sich schon um.‘
„Es tut mir leid, Greta, aber ich werde ganz dringend im Foyer gebraucht, ich …“
„Nur kurz.“
„Bitte. Du weißt doch, wie das ist bei so einem Empfang. Außerdem erwarten wir jeden Moment die Ankunft von …“
„Es geht ganz schnell … Du kennst doch unseren neuen Verwaltungsdirektor in Linz. Dr. Reichenberg.“
„Ja?“
„Gemocht hat ihn ja niemand, aber …“
„Du wolltest es kurz machen.“
„Seine Frau und sein Sohn. Beide tot. Erschossen. Von einem Verrückten. Am helllichten Tag. Der Anschlag galt natürlich ihm. Wahrscheinlich weil Dr. Reichenberg früher in der Wehrbeschaffungsbehörde …“
„Später Greta. Du erzählst mir das ein anderes Mal, ja?“
Christine wartet einen möglichen Einwand gar nicht erst ab, sondern eilt weiter die Treppe hinauf. Doch so schnell, wie sie will, geht es nicht, immer wieder kommt der Fluss auf der langen Kaiserstiege ins Stocken. Verfolgt von bewundernden Blicken kämpft Christine sich Meter um Meter die Treppe hoch. Endlos kommt sie ihr vor, doch … ‚Hoch, immer höher, war das nicht all die Jahre mein Traum?‘
Nur die besten Schauspieler werden an das Burgtheater engagiert. Wer hier spielen darf, hat es in den Olymp geschafft. Die weiblichen und männlichen Stars des Ensembles werden nicht nur glühend verehrt, fast noch mehr interessiert sich der Wiener für die pikanten Skandale der Burgschauspielerdiven.
‚Ob Eleonora Duse auch da ist? Was sie wohl treibt, wenn sie angeblich mal wieder krank ist?‘
Selbst das kleinste Gerücht wird eifrig von allen Seiten beleuchtet.
Als Christine Mayberger endlich im Foyer ankommt, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Sie war schon auf vielen Empfängen, doch so etwas hat sie noch nicht gesehen. Alles funkelt und glitzert.
‚Gott, was für ein Einfall …!‘ In der Mitte des Foyers hat man eine Pyramide aus hunderten von Champagnergläsern erbaut, die direkt unter einem großen Kronleuchter steht, als wolle sie ihm entgegenwachsen. Daneben eine kleine Naturlandschaft mit einem Wasserfall. Aus dem schöpft gerade ein hoher Militär Champagner für die Damen, die kichernd und staunend hinter ihm stehen.
Christine überlässt sich der Stimmung. Gretas Geschichte aus der Provinz ist vergessen, selbst die Gedanken an ihre große Konkurrentin Eleonora Duse haben sich in Luft aufgelöst.
Der Raum ist von Stimmen erfüllt, sie hört Deutsch in verschiedenen Dialekten, aber auch Französisch, Russisch und sogar Englisch.
‚Ach, der natürlich, nebst Gattin …‘
Die Diplomaten der verschiedenen Botschaften haben es sich nicht nehmen lassen, heute dabei zu sein. Überall stehen Offiziere, Gesandte und Theaterliebhaber in kleinen und großen Gruppen, debattieren das bevorstehende Ereignis. Die fiebrige Erwartung, die alle ergriffen hat, überträgt sich auf Christine. Sie spürt nicht wenige Blicke auf sich, hat das Gefühl zu schweben.
Von Intendant Hackenberg spricht kaum jemand. Nein, man wartet auf die Ankunft seiner Majestät – Kaiser Franz Joseph I.
***
Miloš Cosic, ein hagerer Endzwanziger, dessen schüttere Haare am Kopf kleben, schaut vorsichtig durch den Schlitz eines Vorhangs ins Foyer. Er trägt einen Frack, hat sich ein Monokel ins rechte Auge geklemmt und hält einen schwarzglänzenden Zylinder in der Hand.
Hinter ihm in der Abstellkammer steht sein Kampfgefährte Bora...