Wolff | Leuchtende Schatten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Wolff Leuchtende Schatten


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7013-6228-8
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

ISBN: 978-3-7013-6228-8
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit einem Unfall am See beginnt die Freundschaft zwischen Ella und Harriet. Die beiden Mädchen, unterschiedlich aufgewachsen und erzogen, sind sich auf unmittelbare, sinnliche Weise vertraut - doch Harriet hat ein Geheimnis, das sie selbst ihrer besten Freundin lange verschweigt. Neben der Wahrheit um Harriets Vergangenheit wird Ella mit einem tiefgreifenden Verlust konfrontiert. Die politischen Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt zwingen die Mädchen zu einem schnellen und unsanften Abschied von der Kindheit. Die Familiengeschichte mit ihren lebendig gezeichneten Figuren ist bestimmt durch Gegensätze: Die Verführungskarft einer zerstörerischen Ideologie, Traditionsbewusstsein und Sehnsucht nach Stabilität. Häuser, Straßen und Natur sind Zufluchtsorte und Identitätsräume und spiegeln doch das Ende einer Epoche. Der beginnenden Auflösung einer jahrhundertealten Kultur wird Lebensmut, humorvoller Pragmatismus und der Wille zum Glück entgegengesetzt. Letztlich bleibt Ella die Zeit mit Harriet in bildhafter Intensität gegenwärtig, denn 'Glück wird durch Leid nicht aufgehoben', und die Erfahrung des Verlusts lässt die Erinnerung umso leuchtender werden. Poetisch und mit beeindruckender Leichtigkeit erzählt Iris Wolff in ihrem zweiten Roman von der Unantastbarkeit der Freiheit, von Freundschaft und Liebe in der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Iris Wolff: geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman 'Halber Stein' erhielt den 'Ernst-Habermann-Preis' 2014.
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Das fremde Mädchen

Ich liebte Harriet vom ersten Augenblick an.

Mein Tisch trug die üblichen Spuren, Kerben, Tintenkleckse und ein eingeritztes Herz. Einige Zeichen hatte ich hinterlassen, andere stammten von den Jahrgängen vor mir. Der Stuhl war kühl, es roch nach Holz und feuchter Kreide. Schon jetzt hatte ich diesen Geruch wieder satt. Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. Aprilwolken zogen ruhelos über den Himmel. Die Linden trugen ihr erstes Grün, Goldglöckchenbüsche standen in flammendem Gelb. Die Seilergasse war seltsam still.

Nach der Morgenandacht hatten die Klassenzimmer alle Mädchenstimmen und -schritte wieder aufgenommen. Vierzig Schülerinnen fasste das Zimmer der Tertia: Alice, meine Tischnachbarin, Maria aus der Harteneckgasse, Grete, deren Vater Arzt war und seine Praxis am Kleinen Ring hatte, meine Cousine Daggi, die Mädchen aus dem Waisenhaus – vierzig braune, schwarze, rote und blonde Schöpfe, die ich alle kannte. Alle? Ich entdeckte einen schwarzen Haarschopf in der ersten Reihe, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ein Mädchen mit kunstvoller Frisur, schlankem Hals und einem Rücken, der so gerade aufgerichtet war, dass er die Stuhllehne nicht berührte. Ihre Schultern waren gestrafft und hoben sich im Takt ihres Atems, der Nacken verriet Anspannung und Konzentration.

Professor Schwarz betrat die Klasse, sofort verstummten die Gespräche. Er hatte dunkle Augen und dichtes, mit Pomade gezähmtes Haar, die ihm den Spitznamen „Lupus“ eingebracht hatten. Er begrüßte uns und bedankte sich für das Ostergeschenk, das wir ihm vor den Ferien im Lehrerzimmer hinterlassen hatten. Lächelnd spielte er auf das Scherzgedicht an, das dem Eierlikör beigegeben worden war. Ich war maßgeblich daran beteiligt gewesen und versuchte, mich möglichst ungerührt zu geben.

Lupus nahm eine Liste vom Katheder.

„Elisabeth Franchy.“

Ich erhob mich und blieb neben dem Tisch stehen, bis er nickte und den nächsten Namen aufrief. So ging es weiter bis zum Buchstaben W.

„Harriet Weissenberg?“

Das fremde Mädchen aus der ersten Reihe wandte sich zur Seite und stand mit einer raschen Bewegung auf. Ihr Kleid schob sich hoch, gab die Kniestrümpfe frei und glitt mit fließendem Schwung wieder hinunter. Sie blieb in gerader Haltung stehen, den Kopf erhoben, die Fingerkuppen der linken Hand auf dem Tisch.

Ich bedauerte, dass ich ihr Gesicht nicht hatte sehen können. Sie war zu schnell aufgestanden und hatte sich mit einer ebenso gewandten und beherrschten Haltung wieder gesetzt. Die ganze Unterrichtsstunde konnte ich den Blick nicht von ihrem Nacken abwenden. Von dem verspielten, drängenden Schwung der Haare, und jener Strähne, die sich aus ihrer Frisur zu lösen begann. Das durch die Lindenblätter gesiebte Licht streute alle Farben in das Cremeweiß ihres Kleides. Ein Anklang von Schwarz an den Ärmeln, dort, wo der Saum war. Ich konnte mich ihrer Gegenwart nicht entziehen, war unkonzentriert und musste mich immer wieder bei Alice vergewissern, welche Seiten des Lehrbuchs wir aufschlagen sollten.

Wer war dieses Mädchen? Hatte sie schon an ihrem Platz gesessen, als ich das Zimmer betreten hatte? Oder war sie später hereingekommen und ich hatte es nicht bemerkt? Warum kam sie mitten im Schuljahr in unsere Klasse? Da es kein anderes Mädchengymnasium in Hermannstadt gab, musste sie neu in der Stadt sein.

Nachdem die erste Schulstunde vorbei war, tippte mir Maria auf die Schulter und verwickelte mich in ein Gespräch. Als ich mich wieder umsah, war das Mädchen fort.

Ich sah sie erst in der großen Pause wieder. Sie hatte ihren Antrittsbesuch bei der Schulleiterin hinter sich gebracht und ihre Schulmütze erhalten. Sie saß auf einer Bank, ihr plissiertes Kleid fächerte sich ab der Taille in unzähligen Falten über das Holz auf. Ich bemerkte, dass die Bänke des Pausenhofs einen neuen Anstrich erhalten hatten. Ein dunkles Grün, das an Efeu erinnerte. Harriet Weissenberg hielt den Rücken gerade, den Kopf gesenkt und aß ihr Pausenbrot. Dabei sah sie konzentriert in ein Notizbuch, das auf ihren Knien lag. Eine akkurate, leicht nach rechts geneigte Schrift füllte die Seiten. Ich umrundete ihre Bank in der Hoffnung, ihr Gesicht zu sehen, doch sie blickte nicht auf. Dieses Mädchen war vollauf damit beschäftigt, so zu wirken, als mache es ihm nichts aus, allein zu sein.

Meine Cousine Daggi winkte mich zu sich. Wir suchten unsere Ecke an der Turnhalle auf. Von diesem Platz aus hatte man das Schulgelände im Blick. Den Pausenhof, auf dem die Schülerinnen sich in Gruppen zusammenfanden, die rückseitige Pforte, die hohen Sprossenfenster des ersten und zweiten Stocks bis hinauf zu den mandelförmigen Dachgauben.

Daggi war anderthalb Jahre älter als ich, ging jedoch in dieselbe Klasse, da sie im letzten Schuljahr sitzen geblieben war. Dagmar Luise Seiler, so ihr Taufname, hatte bereits einen Freund, zog sich jeden Morgen im Park die Lippen nach, steckte den Rock mit Sicherheitsnadeln hoch und rollte die Kniestrümpfe ein kleines, doch nicht unwesentliches Stück hinunter. Sie hatte ein jungenhaftes Gesicht und hellrote Haare, ebenso wie ihr Bruder Ferdinand. Eine Nuance zwischen Karottenrot und Gold. Großmutter hasste diese Farbe.

„Alles, nur keine roten Haare!“, hatte sie vor der Geburt ihrer drei Enkel gesagt. Bei Ferdi, der zuerst zur Welt kam, hielt sie es für reines Pech. Für vorsätzlich und allein dazu bestimmt, sie zu ärgern, als auch Daggi mit roten Haaren geboren wurde, und sie versöhnte sich erst wieder mit ihrem Los, als sich herausstellte, dass ich ihr unentschiedenes Blond geerbt hatte. Bis heute unterließ sie es nicht zu sticheln – der rötliche Einschlag komme nicht aus der Familie Connert oder der ihres Vaters, deren Stammbaum sogar ungarisches Adelsblut nachweise, sondern von der angeheirateten Linie Seiler.

„Was hältst du von ihr?“ Ich wies mit dem Kopf zur Bank, auf der Harriet saß.

Daggi kramte in ihrer Rocktasche und zündete sich eine Zigarette an. „Ein scheues Ding.“

„Wie würde es dir am ersten Tag in einer neuen Klasse gehen?“

Daggi entging die überraschende Schärfe meiner Äußerung nicht. Sie hob fragend eine Augenbraue und atmete den Rauch aus. Meine Cousine konnte mit ihrem Mund kleine Ringe formen, die aufstiegen, wanderten und sich langsam auflösten, wenn ein Lufthauch sie erfasste. Eine Lehrerin ging an uns vorbei. Daggi drehte gekonnt die Zigarette in die Handfläche und grüßte mit ihrem unschuldigsten Lächeln.

„Kannst du Arthur nach ihrer Familie fragen? Der erfährt doch von Pirosch immer alle Neuigkeiten der Stadt“, bat ich.

Die Glocke beendete die Pause. Meine Cousine drückte die Zigarette aus, schnippte den Filter über die Mauer und nahm eine Pfefferminzpastille in den Mund. Dann strich sie ihren Rock glatt und hakte sich bei mir ein. Auf dem Weg zurück ins Schulgebäude versprach sie, etwas über das fremde Mädchen herauszufinden.

„Ella, kommst du bitte?“

Ich klopfte die Schuhe ab und trat in die Küche. Mutter begrüßte mich mit einem Kuss auf die Stirn. Jeden Montag nach der Schule brachte ich den Teig für die Wochenbrote zum Bäcker. Am Morgen standen Mehldose, Wasserkrug und der mit Mostschaum und Akazienblüten gewürzte Sauerteig noch auf dem Tisch. Inzwischen war der Teig aufgegangen, der Brottrog, ein ausgehöhlter Buchenstamm, im Hof abgespritzt und die Küche wieder aufgeräumt. Großmutter öffnete eine Schublade der Kredenz und drückte mir mit prüfendem Blick Geld in die Hand. Menschen, die Ursula-Oma das erste Mal begegneten, erstarrten unter diesem Blick.

Ich wusste nicht, woher ihre Strenge rührte, weder Mutter noch Marga-Tante ähnelten ihr in dieser Hinsicht. Beiden Schwestern war ein weichherziger, nachgiebiger Zug zu eigen, der sich bei Mutter als Großzügigkeit, bei meiner Tante bisweilen als Gleichgültigkeit zeigte. Großmutters Blick dagegen kannte keine Gnade. Unter ihm konnte man nicht lügen, täuschen oder schöntun. Man war ihm ausgeliefert bis auf die Knochen.

„Habt ihr Hausaufgaben bekommen?“, fragte Mutter.

Ich schüttelte den Kopf, sah sie dabei jedoch nicht an. Von Ursula-Oma hatte ich gelernt, dass jemand, der lügt, zum Starren neigt. Die meisten Menschen denken, ein Lügner würde wegsehen, doch das Gegenteil war laut Großmutter der Fall. Er braucht die Vergewisserung, die Sicherheit, dass der andere ihm glaubt, und lässt ihn nicht aus den Augen.

Ich sah also weg und hoffte, dass Mutter mir Glauben schenkte. Die Schule war ein leidiges Thema. Ich hatte keine Strafeinträge, aber auch keine Belobigungen, machte die Hausaufgaben gerade so, dass es reichte, und wenn ich an die Tafel gerufen wurde, widmete ich mich der Lösung mit der Ruhe einer mittelmäßig begabten Schülerin. Ich interessierte mich für kein bestimmtes Fach, hatte an mir noch kein besonderes Talent entdeckt, auch meine Lehrer nicht. Dieser Umstand war weder unangenehm noch beklagenswert, im Gegenteil, er sicherte meinen Frieden.

„Denk an deine Zukunft“, sagte Mutter oft, wenn sie sah, wie schnell ich die Schulbücher zuklappte, um den Nachmittag mit den Nachbarskindern auf der Straße zu...


Iris Wolff: geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman "Halber Stein" erhielt den "Ernst-Habermann-Preis" 2014.



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