Wolfram Die Goten und ihre Geschichte
3. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-69282-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: PDF
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2179, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-69282-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
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Nicht allein dank August Graf von Platen (1796-1835), der den Tod des Königs Alarich (410 n. Chr.) in seiner Ballade über Das Grab im Busento besungen hat, übt das mythen- und geheimnisumwitterte, aber auch geschichtsmächtige Volk der Goten seine Faszination auf uns aus. Die Goten und ihre Geschichte verdienen aus vielerlei Gründen unser Interesse - sind sie es doch nicht zuletzt, unter deren Bewegungen in der Völkerwanderungszeit das römische Westreich zu wanken beginnt, ehe es 476 n. Chr. zusammenbricht und damit eine ganze Ära zu Ende geht. Aber die Goten stehen nicht als Synonym für Verwüstung und Untergang; sie selbst bringen Reiche hervor, deren letztes erst im 8. Jahrhundert n. Chr. erlischt, und sie bringen Persönlichkeiten wie Wulfila, Theoderich und Totila hervor, deren Wirken von einem weitreichenden politischen und religiösen Gestaltungswillen geprägt ist. In dem vorliegenden Band wird die Geschichte dieses Volkes ebenso knapp und informativ wie anschaulich und anregend erzählt.
Herwig Wolfram ist emeritierter Professor für Mittelalterliche Geschichte und war Direktor des Instituts für österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte der frühen Völker und des Mittelalters vorgelegt und gibt im Verlag C.H.Beck die Buchreihe "Frühe Völker" heraus. Im Verlag C.H.Beck sind derzeit folgende seiner Titel lieferbar: (2009); (2009); (2008); (2005).
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zitat;3
4;Zum Buch;3
5;Über den Autor;3
6;Erläuterung zum Umschlagbild;4
7;Impressum;4
8;Inhalt;5
9;Vorwort;7
10;Einleitung;9
10.1;Gotisches in aller Welt;9
11;Herkunft und Herkunftsgeschichte;14
11.1;Die Bedeutung des Gotennamens;19
11.2;Goten vor ihrer Entstehung;21
11.3;Die Gutonen in Südosteuropa;22
11.4;Das archäologische Material;23
11.5;Vor-ethnographische Daten der Herkunftsgeschichte;24
11.6;Die Bedeutung der skandinavischen Herkunft;30
12;Die Goten und das Reich im 3. und 4. Jahrhundert;32
12.1;Die Goten greifen auf dem Lande und zu Wasser an: 238–271;32
12.2;Die Namen der beiden Gotenvölker;34
12.3;Konstantin der Große (306/324–337) und die Terwingen;36
12.4;Gesellschaft und Verfassung der Terwingen;37
12.5;Sabas Dorf;39
12.6;Kult und Religion der Terwingen und Greutungen;40
12.7;Heer und Polyethnie;41
12.8;Das tägliche Leben;42
12.9;Bischof Wulfila (um 311–383) und die Anfänge des gotischen Christentums;43
12.10;Der Hunnensturm und der Beginn der gotischen Wanderungen;47
12.11;Einbruch und Ansiedlung der Goten in Thrakien;49
12.12;Die Gotenverträge von 380/82;52
12.13;König Alarich I. (391/95–410);54
12.14;Die hunnischen Goten (376–454/55);58
13;Das Tolosanische Reich (418–507);62
13.1;Von Rom nach Toulouse;62
13.2;Theoderid (418–451) und Thorismund (451–453);63
13.3;Theoderich (II.) (453–466);66
13.4;Eurich (466–484) und Alarich II. (484–507);66
13.5;Pionierleistung und gescheiterter Ausgleich;70
14;Theoderich der Große (451–526);73
14.1;Kindheit und Jugend;73
14.2;Mit und gegen das Reich;77
14.3;Origo et religio – Herkunft und Religion;80
14.4;Ausschaltung der nichtrömischen Konkurrenz;83
14.5;Persönlichkeit;85
14.6;Heirats- und Bündnispolitik zum Schutz Italiens;86
14.7;Theoderichs Ende;88
15;Der Untergang des italischen Ostgotenreichs (526/35–552/55);90
15.1;Vitigis (536–540);94
15.2;Totila (541–552);98
15.3;Das Nachspiel: Teja (552);100
16;Das spanische Reich der Westgoten (507/68–711/25);101
16.1;Eine sechzigjährige Krise (507–568);101
16.2;Die Entstehung des Toledanischen Reiches: Leovigild (568/69–586) und Reccared I. (573/86–601);104
16.3;Das Reich von Toledo (603–710): Ein Überblick;112
16.4;Das Ende des Reichs (711–725);115
17;Literatur- und Quellenverzeichnis;119
18;Abkürzungsverzeichnis;122
19;Personenregister;123
20;Karte;128
Herkunft und Herkunftsgeschichte
Die beliebte Frage nach der Herkunft oder Urheimat der Völker ist mit Hilfe herkömmlicher historischer Fragestellungen nicht zu beantworten, weil für die antiken Ethnographen ein Volk erst existierte, wenn es in den Gesichtskreis der zivilisierten Welt getreten war. Dazu kommt, daß die Autoren die ihnen zugänglichen Informationen heranzogen, ohne nach Zeit und Ort zu differenzieren oder viel nach Veränderungen zu fragen. Selbstverständlich gab es Ausnahmen wie den römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der den Aufstieg und Niedergang der Cherusker sehr wohl registrierte ( c. 36). Aber für gewöhnlich arbeiteten die Autoren „ungeschichtlich“, indem sie den Zeitfaktor mißachteten und die Objekte ihrer Darstellung als unveränderliche, eben geschichtslose Barbaren behandelten.
Als die Goten im Jahre 238 urplötzlich auftraten, als wären sie wie weiland Pallas Athene gewappnet dem Haupt des Zeus entsprungen, verstand man sie als Skythen (Dexippos frag. 20 [14]). Das heißt, man gab ihnen den Namen eines längst untergegangenen Reitervolkes der eurasischen Steppen. Unter diesem Namen überschritten barbarische Heerhaufen, die andere Quellen als Goten bezeichneten, die unterste Donau und fielen auf römisches Reichsgebiet ein. Ab 238 kann man daher mit Fug und Recht von Goten und ihrer Geschichte sprechen.
Der osteuropäischen Herkunft der Goten steht aber eine gotische Herkunftsgeschichte gegenüber, die viel weiter als 238 zurückreichen und in Skandinavien, ungefähr im Jahre 1490 vor Christus ( 25, 94f. und 313) beginnen will. Das heißt noch vor dem Trojanischen Krieg, von dem die Römer ihrerseits die Herkunft herleiteten. Die Herkunftsgeschichte verfaßte Cassiodorus Senator, der „Minister“ Theoderichs des Großen in Ravenna. Die Schrift entstand auf Wunsch des Königs, wurde aber erst 533 nach dessen Tod fertig und vom Autor um die Jahrhundertmitte in Konstantinopel überarbeitet. Hier redigierte das Werk der romanisierte und katholische Gote Jordanes als des Senators (kurz: ). Er brachte es in eine Form, die erhalten blieb, weil sie die historische Entwicklung von 550 berücksichtigte, während die umfangreichere Vorlage ihre Aktualität verloren hatte und daher verloren ging ( 1ff.).
Jordanes änderte aber nichts an Cassiodors Entwurf, der einen genetischen Zusammenhang zwischen den Goten von 238 und einem ebenfalls als Goten bezeichnetem Volk herstellte, das unter König Berig die „Insel Skandia“, Skandinavien, in drei Schiffen verließ, an der heute pommerschwestpreußischen Küste landete und von dort nach etwa fünf Generationen in den ukrainischen Raum zog ( 25–28; vgl. 9 und 16ff. sowie Ptolemaios II 11, 33–35). Hier nahm sich ihrer die kunstreiche Dame „Etymologie“ an und machte aus ihnen – des angeblichen Gleichklangs willen – die Geten. Von diesem, der Antike seit langem vertrauten Balkanvolk war es nicht weit zu dessen dakischen und skythischen Nachbarn, deren Geschichte ebenfalls den Goten zugesprochen wurde. Schon die jüdische Geschichtsschreibung hatte die Endzeitvölker Gog und Magog bei den Skythen gefunden, ein Wissen, das nun auf die Goten übertragen wurde, wobei die ursprünglich pejorative Bedeutung verloren ging ( 29). Mit der Verschriftlichung ihrer Herkunft erhielten die Goten eine neue Identität, eine den antiken Völkern vergleichbare Geschichte ( 40 und 69). Cassiodor folgte dabei den ethnographischen Methoden und Stilmitteln, deren sich um 100 nach Christus schon Tacitus bedient hatte, um die grundsätzlich andere barbarische Welt der Germanen zu beschreiben. Cassiodor kannte das große Vorbild und wandte seine und andere traditionelle Einsichten in vielfach erweiterter Form auf die Goten an. Das heißt, die fremden Lebensformen, Begriffe und Institutionen wurden mit den Erscheinungen der mediterranen Welt erklärt und ihnen gleichgesetzt, eine Vorgangsweise, die Tacitus nannte ( c. 43, 3). Nur dort, wo dies nicht möglich war, blieben fremde Namen und Ausdrücke mehr oder weniger latinisiert stehen.
In diesem Sinne machte Cassiodor die skythischen Amazonen zu gotischen Kriegerinnen, die es mit Herkules aufnahmen, der bei ihnen pflichtschuldigst einen seiner zahlreichen Söhne zeugte und ihn als Gotenkönig zurückließ, die sich aber auch mit dem athenischen Sagenkönig Theseus messen konnten. Selbstverständlich eroberten die Gotinnen beinahe Troja, erbauten jedenfalls den Dianatempel von Ephesus und herrschten an die hundert Jahre über Asien ( 49ff.). Ihrer männlichen Taten wegen mißachtete der Verfasser sogar die Grammatik und teilte den Amazonen maskulines Geschlecht zu ( 51, vgl. S. 189).
Die männlichen Goten ließen sich ebensowenig lumpen, kämpften siegreich mit Ägyptern und Persern, worauf die Makedonen ihre Freundschaft suchten und Philipp, der Vater Alexander des Großen, die Tochter des Gotenkönigs Gudila heiratete. Der berühmte Dakerkönig Burebista wurde ebenso zum Gotenkönig wie der Gete Dekaineos ( 39ff. und 58ff.). Unter beiden begannen die gotisch-römischen Beziehungen. Ein Sieg über die Römer zur Zeit Kaiser Domitians (81–96) – selbstverständlich der getischen Historia entnommen – motivierte die , den Beginn der Amaler, des höchstrangigen gotischen Königsgeschlechts ( 78ff.).
Es ist dem Leser nicht zu verübeln, wenn er eine derart krause Geschichtsklitterung als Unsinn abtut. Davon werden ihn auch Hinweise auf einen gotischen Geschichtsschreiber Ablabius ( 28, 82 und 117) nicht abbringen. Wenn es diesen je gegeben hat, ist er bis heute ein großer Unbekannter geblieben, obwohl er die mündliche Überlieferung, auf die sich die Getica berufen, absichern soll ( 28). Welchen Stellenwert besitzt aber diese vor-ethnographische Tradition in der Herkunftsgeschichte? Sie hat verschiedene Namen, heißt (Getica 25), vor allem ist sie eine . Das Alte Testament verwendet das Wort, um den Spott der anderen Völker über das von Gott bestrafte Israel zu beschreiben (etwa 3 Reg 9, 7). In diesem Sinne kommt der Ausdruck auch in den Getica vor, wenn es um die Zurückweisung einer Altweibergeschichte geht, die die Goten herabsetzt ( 38). Schon der Apostel Paulus hatte vor solchen gewarnt (I Tim 4, 7), und zwar ebenso wie vor der Freude an Stammbäumen, (I Tim 1, 4). Trotzdem gibt es – und auch für diesen Wortgebrauch legen die Getica Zeugnis ab – eine ganz andere Auffassung von . Sie unterscheidet sich von der die Wirklichkeit wiedergebenden und dem die Möglichkeit beschreibenden (Isidor, I 45). Eine Fabelgeschichte ist zwar , erfunden und „gegen natürliche und vernünftige Erfahrung“, hat aber eine tiefere Bedeutung. So finden die Getica in den gotischen Fabeln, , den Nachweis von der halbgöttlich-heroischen Herkunft der Amaler, obwohl eine derart heidnische Vorstellung für einen Christen des 6. Jahrhunderts selbstverständlich sein muß (vgl. 79 und 199, mit Variae VIII 2, 1ff.).
Die mündliche Überlieferung ist Teil der gotischen Herkunft, der Origo, die Cassiodor durch ihre Historisierung im dialektischen Sinne aufhebt: . „Er machte, daß die gotische Herkunftsgeschichte eine römische Historie ist“ ( IX 25, 5). Daher müssen die Fabeln samt den „alten Liedern“ und der Erinnerung verwissenschaftlicht und zur Historie erhöht werden. Das heißt, Cassiodor bindet die gotische Herkunft vornehmlich mit Hilfe der Getika, der Getengeschichte, des Griechen Dion Chrysostomos in die antike Ethnographie ein.
Allerdings war die Möglichkeit zur Historisierung der gotischen Herkunft bereits in ihr selbst angelegt. Ein Volk galt nämlich als um so zivilisierter, je länger es von Königen regiert wurde. Die Historie wird im Unterschied zu den zeitlosen Fabeln durch die Regierungszeit von Königen bestimmt. Daher ist es Cassiodor selbst, der seine gotische Herkunftsgeschichte „von einst bis heute durch die Generationen und Abfolge von Königen“ ordnet ( 1) und Amalasuintha ein , „so viele Könige wie Vorfahren,“ bescheinigt ( XI 1, 10). Und deshalb darf es in den Getica heißen, daß die gotischen „alten Lieder fast nach historischer Art,“ , entstanden seien ( 28; vgl. c. 2, 2).
Mögen die Getica als historische Quelle noch so verdächtig wirken, ihre Abfassung bedurfte einer enormen Gelehrsamkeit und reicher Kenntnisse schriftlicher Vorlagen wie auch des Wissens um mündliche Überlieferungen. Allein der dafür nötige Aufwand an Papyrus oder eher schon Pergament wäre nicht zu rechtfertigen gewesen, hätte es sich...




