Wolitzer | Die Stellung | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Wolitzer Die Stellung

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8321-8874-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8874-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitte der Siebzigerjahre erschüttert ein Buch die amerikanische Öffentlichkeit: Der Sex-Ratgeber >Pleasuring. Die Reise eines Paares zur Erfüllung< ist in aller Munde. Ungünstig nur, dass die Autoren, das Ehepaar Mellow, vier minderjährige Kinder haben. Die müssen sich nun damit auseinandersetzen, dass Vater und Mutter in aller Öffentlichkeit ihr tabuloses Liebesleben beschreiben. Und das Schlimmste: Das Buch zeigt sie in sehr detailreichen Zeichnungen - in jeder nur denkbaren Stellung. Während die Ehe der Eltern den Bach runtergeht, versuchen die Kinder, irgendwie mit diesem Gipfel der Peinlichkeit klar¬zukommen. Denn >Pleasuring< wird zu einem Buch, das jeder, wirklich jeder kennt und das die Mellow-Geschwister ihr Leben lang begleiten wird ... >Die Stellung< ist ein tragikomisches Familienporträt, das davon erzählt, wie vier Geschwister, denen wenig Illusionen über Liebe und Sex geblieben sind, sich in der Welt behaupten. Gleichzeitig führt uns Meg Wolitzer gnadenlos vor Augen, dass wir einer Sache nicht entfliehen können: Wir sind die Kinder unserer Eltern.

Meg Wolitzer, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von zahlreichen preisgekrönten und erfolgreichen Romanen. Viele ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Bei DuMont erschienen die SPIEGEL-Bestseller >Die Interessanten< (2014) und >Das weibliche Prinzip< (2018) sowie >Die Stellung< (2015), ihr Roman >Die Ehefrau< (2016), der mit Glenn Close in der Hauptrolle verfilmt wurde, und zuletzt >Die Zehnjahrespause< (2019).
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Eins

Das Buch stand im Fernsehzimmer, oben im Bücherregal, ganz so, als wäre es das einzige Exemplar der Welt und als würde den Kindern, wenn sie es da nicht fanden, auf ewig unbewusst bleiben, dass ihre Eltern sexuelle Wesen waren. Als würden sie sich dann auch niemals vorstellen können, wie sich deren heiße Haut aufeinanderpresste, wie ihre Stimmen sich überlappten, wie das Messing des Kopfendes ruckte, den Putz aufkratzte und über die Jahre zwei Kreuzblumen in die Wand des Zimmers grub, in dem die Eltern schliefen. Oder eben nicht schliefen.

Das Buch stand in einem Durcheinander weitgehend ignorierter Titel: Unten am Fluss, Wie man mit wenig Fleisch gut isst und die Natur schont, Selbst eine Veranda bauen, Ja, das schaffe ich: Die Geschichte des Sammy Davis jr., Das große Buch der Golden Retriever und so weiter und so fort. Wie ganz zufällig dort gelandet, stand es da, dieses eine Exemplar des Buches, das die Eltern ins Haus gebracht hatten. All die anderen, einschließlich der ausländischen Ausgaben, wollten sie nicht da haben. Hätten sie diese im Haus versteckt, vielleicht in zugeklebten Kartons unten im Keller, hätten »Küchenutensilien« und »div. Kleinkram« daraufgeschrieben, wäre das eine Botschaft an die Kinder gewesen: Sex ist schmutzig. Oder wenn nicht wirklich schmutzig, dann doch zumindest etwas, das nur unter der Decke stattzufinden hat, in völliger Dunkelheit, zwischen zwei im Gleichklang fühlenden, liebenden, lustvollen, verheirateten Erwachsenen.

Das dachten die Eltern natürlich nicht. Sie liebten Sex in fast jeder Hinsicht, und das so sehr, dass sie den Nerv und die Vermessenheit besessen hatten, ein Buch darüber zu schreiben. Wenn sie sich allerdings vorstellten, dass ihre vier Kinder das Buch lesen könnten, kamen sie ins Grübeln, was die möglichen längerfristigen Auswirkungen betraf. Würde das Ganze an ihnen und ihren robusten heranwachsenden Körpern einfach abprallen, oder würden sie es zusammen mit Bruchrechnung, Dosenspaghetti und Schlittschuhunterricht in sich aufnehmen, mit all dem, was nicht von Dauer war und folgenlos blieb– oder eben doch eine nicht vorhersehbare Form und Bedeutung in ihnen annehmen?

Die Bedenken der Eltern traten hinter deren Zuversicht zurück. Warum das Buch also nicht oben ins Regal im Fernsehzimmer stellen, hoch, aber doch erreichbar, wenn die Kinder es sehen wollten? Niemand würde deswegen tot umfallen, und das Leben würde weitergehen, wie es das schon immer tat und getan hatte.

Michael Mellow war dreizehn, das zweitälteste Kind der Mellows und derjenige, der das Buch fand, spätnachmittags, an einem Freitag im November 1975. Er war Augenblicke, nachdem sein Vater das Buch an seinen Platz im Regal gestellt hatte und zurück nach oben gegangen war, ins Fernsehzimmer gekommen. Michael suchte seinen Mini-Tacker, um die vielen Seiten seines Aufsatzes über die Ei-Osmose zusammenzuheften. Warum sein kleiner Tacker ausgerechnet im Fernsehzimmer gelandet sein sollte, hätte er nicht sagen können. In diesem Haus schwebten die Dinge einfach so von einem Zimmer ins andere: Ein Tacker, der für gewöhnlich in der Schreibtischschublade eines Jungen lag, konnte mit einem Mal unter dem Kaffeetisch im Fernsehzimmer auftauchen, und eine Packung Triscuits, leer oder voll, fand sich unerklärlicherweise auf der Kommode im Bad. Die Dinge zogen, wanderten herum, tauschten die Plätze und waren offenbar so rastlos wie ihre Besitzer.

Michael kam ins Zimmer und spürte, dass sich etwas verändert hatte. Es war, als verfügte er über eines dieser verrückten fotografischen Gedächtnisse und wüsste, dass etwas in diesem Raum war, das nicht hier sein sollte und bisher auch nicht hier gewesen war. Etwas rief nach ihm und es war nicht der nirgends auffindbare Tacker, der da nach ihm verlangte, sondern das Buch. Michael ließ den Blick weiter und weiter in die Höhe steigen, das Regal hinauf, über die vertrauten Buchrücken, die Teil seines Zuhauses, seiner Familie waren, genau wie der UNICEF-Wandkalender im Besenschrank und die Küchenschublade voller Batterien, die in ihr herumrollten, wenn du sie aufzogst.

Ebenso typisch für das mellowsche Familienleben war ein Lied, das sie oft in den Ferien sangen. Jahr für Jahr waren sie Schnellstraßen entlanggebraust, nach Colonial Williamsburg mit seinen Kerzenlöschern und Webstuhlhockern oder in die Roaring Fire Lodge, ein verschlafenes, verstaubtes Domizil in den Poconos– alle und alles in den Volvo-Kombi gepackt, und zwischendurch sangen sie.

»Oh, wir sind die Mellows, ein paar Girls und ein paar Fellows…«, und dann ging es mit den Namen anderer Familien aus ihrer Nachbarschaft weiter: »Nein, wir heißen nicht King, das wär nicht unser Ding«, und: »Nein, wir sind nicht Familie White, die sind längst blass vor Neid«, oder: »Nein, wir sind nicht die Rinzlers, sonst…« Ratloses Schweigen senkte sich über das Auto, während alle fieberhaft nachdachten, wie sie da jetzt wieder herauskamen.

»…wären wir die Pinzlers!«, kreischte Claudia, die Jüngste, und auch wenn das keinen Sinn ergab, alle einen Moment lang die Luft anhielten und die älteren Kinder verächtlich stöhnten, worauf sie von den Eltern böse angefunkelt wurden, gaben am Ende doch alle nach und sangen Claudias Reim.

Alle Familien dieser Welt hatten ihr eigenes kitschiges Unsinnslied, eine Reihe beiseitegeräumter Bücher, einen Wandkalender oder eine Batterienschublade, das alles ähnelte sich, wenn auch nur zum Teil. Die mellowschen Eigenheiten gab es schon ewig und würde es immer geben. Michael Mellow sprang aufs Sofa, barfuß, sammelte sich stumm, und dann, dort oben, auf dem zweitobersten Brett, sah er es.

Das Buch war mächtig und weiß, hatte einen festen Einband, war dick, knisterte ihn geradezu an, und als Verlagssignet schmückte eine Meerjungfrau den Rücken, deren gespaltener Schwanz unbekümmert in die Höhe ragte. Und es war diese Meerjungfrau, die ihm zu sagen schien: Nimm es, Michael. Los doch. Hab keine Angst. Du hast nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Den letzten Satz hatte er gerade erst im Sozialkundeunterricht gelernt.

Er zog fest daran, entwand das Buch der Lücke, betrachtete es kurz und erschreckt und steckte es unter sein Hemd. Die glänzende Oberfläche legte sich auf seine matte Haut und ließ ihn seinen Tacker und die Phasen der Ei-Osmose sofort vergessen. Er lief die zwei Etagen in sein Zimmer hinauf und verschwand für eine ganze Stunde in der Düsternis hinter der Tür.

Was er in dem Buch sah, das begann Michael in dieser Stunde zu begreifen, war nichts, was er allein mit sich ausmachen konnte. Er würde Holly dazuholen müssen, wie er es so oft tat, wenn ihm etwas zu schwierig, zu verwirrend, zu aufregend oder zu undurchsichtig erschien. Sie war älter, sie kannte sich aus und verfügte über eine weltläufige, zynische Sicht der Dinge, die ihm fehlte. Aber dann dachte er, nein, ich kann es nicht einfach nur Holly zeigen, denn der würde es befremdlich, ja pervers vorkommen, wenn ihr Bruder sie einlud, sich das mit ihm anzusehen. Nein, er musste auch die beiden anderen rufen, und es würde ein wichtiger Moment geschwisterlicher Nähe werden und sie auf ewig miteinander verbinden. So wollte er es machen. Denn wenn deine Eltern so ein Buch schreiben, das in die Welt da draußen platzt, ist es unmöglich, es alleine zu lesen und nicht darüber zu reden, genauso wenig, wie du es komplett ignorieren und trotz seiner Existenz cool und unberührt bleiben kannst. Es ist unmöglich, im selben Haus wie solch ein Buch zu leben, durchs Fernsehzimmer zu laufen, während es oben auf dem Regal steht und brennt. Es ist unmöglich, sich einzugestehen: Ich bin noch nicht bereit dafür.

Michael saß auf dem Bett in seinem Zimmer, das offene Buch auf dem Schoß. In der schmalen Rinne unter seiner Nase hatte sich Schweiß gebildet, er leckte ihn schnell weg, und so unschuldig diese Geste auch sein mochte, schien sie ihm doch etwas Sexuelles zu haben, genau wie der Geschmack des Körpersafts, der da aus seinen Poren drang. Sein eigener Schweiß nahm eine neue Qualität an, und seine Zunge kam ihm plötzlich schwer und lebendig vor. Was würde als Nächstes kommen, seine Daumenspitze? Seine Kniescheibe? War alles an seinem Körper anfällig für dieses seltsame Gefühl und ließ sich neu empfinden?

Etwas später stellte er das Buch zurück an seinen Platz und sagte niemandem etwas davon. Seinen Plan hatte er jedoch in Gang gesetzt und wartete ab. Am nächsten Tag, frühnachmittags, sagte Michael zu den anderen: »Sie sind weg. Ich habe das Auto gehört.«

Es war ein nasser Samstag, und sie waren im Haus eingepfercht. Der ganze Vorort Wontauket schien in einen frühen Winterschlaf gefallen, überall saßen Kinder wie gelähmt im Haus und fühlten sich angesichts des Regens und der fallenden Temperaturen unerklärlich hilflos. Im Sommer wusste diese Stadt, was zu tun war, wusste die zeitgesteuerten Rasensprenger, die Wunderkerzen und überkuppelten Grills hervorzuzeigen und Tatkraft zu demonstrieren, an einem Tag wie heute jedoch schien alles in eine regionale, klinische Depression zu verfallen. Nichts rührte sich. Die Schatten blieben unten. In verschiedenen weiß, avocado- oder kupferfarben gekachelten Küchen wurde Brot lustlos in Toaster gesteckt, Hunde bekamen ihr Dosenfutter, Zeitungen öffneten sich, formten kleine, abgeschiedene Räume und grenzten die gemeinsam am ovalen Tisch sitzenden Familienmitglieder sauber voneinander ab. Vielleicht wurden heute vor Langem kaputtgegangene Dinge repariert,...


Löcher-Lawrence, Werner
WERNER LÖCHER-LAWRENCE, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Er übertrug u. a. Meg Wolitzer, Benjamin Myers, Nathan Hill, Benjamin Wood und Hilary Mantel ins Deutsche.

Wolitzer, Meg
Meg Wolitzer, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von zahlreichen preisgekrönten und erfolgreichen Romanen. Viele ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Bei DuMont erschienen die SPIEGEL-Bestseller ›Die Interessanten‹ (2014) und ›Das weibliche Prinzip‹ (2018) sowie ›Die Stellung‹ (2015), ihr Roman ›Die Ehefrau‹ (2016), der mit Glenn Close in der Hauptrolle verfilmt wurde, und zuletzt ›Die Zehnjahrespause‹ (2019).



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