Wonneberger | Flug der Flamingos | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Wonneberger Flug der Flamingos

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99014-300-1
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-99014-300-1
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Das Buch Ihm hätte es genügt, in seinem Leben wenigstens einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Nun sitzt er jeden Morgen vor seinem Haus, trinkt Kaffee und raucht. Seine Frau hat er durch einen Unfall verloren, seinen Job als Restaurator aufgegeben. Er möchte nur noch allein sein, nichts mehr tun, am besten an nichts mehr denken. Aber da ist dieser Rimböck, der es in seinem Leben zu etwas gebracht hat und der jeden Morgen pünktlich das Haus gegenüber verlässt. Bis er eines Tages ausbleibt und damit den Ich-Erzähler in Aufregung versetzt. Plötzlich fehlt etwas. Wie soll man in Ruhe an nichts denken, wenn etwas fehlt? Vielleicht ist es ja gar nicht möglich, dass einer allein vor seinem Haus sitzt, nur Kaffee trinkt und Zigaretten raucht. Und mit den Spekulationen um Rimböcks Verschwinden sind sie wieder da, die Erinnerungen an Katharina, die vom Flug der Flamingos träumte, bis ein LKW sie zu Boden riss. Und dann lädt der Postbote auch noch ein Paket bei ihm ab, das - an Rimböck adressiert - aber irgendwie doch für ihn selbst bestimmt ist... Jens Wonneberger, der feine Beobachter, der mit seiner schnörkellosen Sprache eine außergewöhnliche Poesie erzeugt, zeigt sich in Flug der Flamingos einmal[...]'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'
Wonneberger Flug der Flamingos jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1

An diesem Morgen geschah etwas Seltsames. Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Morgen, ein Morgen an der Kante des Sommers, Ende September, vielleicht etwas kühl für die Jahreszeit, und doch. Etwas war anders. Das heißt, im Wesentlichen geschah nichts, außer dass Rimböck, mein Nachbar, der sonst an jedem Werktag mit einer durch nichts zu erschütternden Regelmäßigkeit pünktlich um acht sein Haus verließ, diesmal ausblieb. Nicht, dass ich auf ihn gewartet hätte, ich wartete schon lange auf niemanden mehr, schon gar nicht auf Rimböck, aber ich hatte ihn, auf der Bank vor meinem Haus sitzend, täglich im Blick, sein Auftauchen gehörte einfach zu dieser frühen Stunde wie das ferne, nicht allzu laute Dröhnen vom Autobahnzubringer oder das scheppernde Läuten der Kirchenglocken. Und ich mag es, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind.

Die Glocken quengelten, als wollten sie Rimböck aus dem Haus locken, und dann, als wäre es ein Nachklang, ein fernes Dröhnen, ein Surren fast nur, als schwebe eine Mücke dicht am Ohr. Jetzt!, dachte ich. Aber nichts, die Tür im Haus gegenüber blieb geschlossen. Merkwürdig, dachte ich, und stellte mir dennoch vor, wie Rimböck seine Villa verließ, diesen kubischen, weiß getünchten Kasten, dem jede südliche Heiterkeit fehlte, ich sah ihn vor mir, wie er wie jeden Tag aus der Tür kam und unter dem Baldachin stand, der von Säulen mit ionisch anmutenden Kapitellen getragen wurde, wie er mit der linken Hand dann den Messingknauf der Tür umfasste und diese fest ins Schloss zog, um gleich darauf mit der rechten am Bund zu fummeln und den richtigen Schlüssel, das freilich ahnte ich mehr, als ich es sah, ins Schloss zu führen, wobei er sich, mir seinen Hintern zuwendend, so ein Arsch, dachte ich, tief bückte, sodass sein Kopf fast auf der Höhe des Schlüssellochs war, als müsse er diesen täglichen Handgriff stets aufs Neue erlernen. Er schloss also ab, drückte zur Kontrolle noch einmal gegen den Knauf, rüttelte daran, ich kannte das ja, hatte es oft, vielleicht zu oft gesehen und sah es jetzt in Gedanken noch deutlicher, dann ließ er den Schlüsselbund, bevor er ihn wieder in die Hosentasche steckte, rasselnd um seinen ausgestreckten Zeigefinger kreisen, nicht ohne sich dabei mit einem Blick auf die Armbanduhr der Zeit zu versichern. Es musste kurz nach acht Uhr sein. Es war kurz nach acht Uhr, nur Rimböck fehlte. Rimböck war nicht zu sehen.

Während das Abschließen der Haustür offenbar einige Konzentration und Anstrengung erforderte, lag in dem anschließenden Kreisen des Schlüsselbunds jedes Mal eine solch beschwingte Unbekümmertheit, dass mich der Gegensatz täglich aufs Neue verwirrte, während sich in der nun folgenden Marotte Rimböcks die ganze Armseligkeit seiner Existenz offenbarte. Nachdem er den sogenannten Vorgarten, der eher ein Steinbruch oder Betongärtchen war, eilig durchquert hatte, stand er am Grundstückstor, wo er neben den Betonkübeln, in denen giftgrüne Plastikkoniferen stramm standen, wie nach einem Schreckmoment noch einmal kurz innehielt, um sich zu vergewissern, ob er seine Brieftasche tatsächlich dabei hatte, indem er, panisch fast, dahin tastete, wo er sie vermutete, gewöhnlich an die Brusttasche seines Sakkos, manchmal auch, wenn es sehr heiß war und er nur das obligate pastellfarbene Hemd trug, an die Gesäßtasche seiner Hose, und fand die Brieftasche dann jedes Mal.

Das Tor erinnerte ebenso wie der sich zwischen mit Schotter gefüllten Stahlgittersäulen erhebende Zaun an einen Hochsicherheitstrakt, so aufreizend, dass ich gern dagegen geschlagen und das Gatter zum Erzittern gebracht hätte. Ich fragte mich manchmal, ob Rimböck mit seinem Eigenheim dem Bauhaus oder nur seinem Bankkonto huldigte, er hätte wahrscheinlich am liebsten das Preisschild gut sichtbar an die Wand geklebt. Aber vielleicht waren die Säulen auch nur ein Ausrutscher, der Tribut an eine sentimentale Erinnerung oder eine Machtdemonstration des Bauherrn gegenüber den Allüren des Architekten? Beim Garten indes war ich mir sicher: Rimböck besaß weder Geschmack noch einen Sinn für die Natur. Wenn er doch einmal stolpern würde, dachte ich jeden Tag, über seine Pseudofelslein, über seine auf Hochglanz polierten, schnurgeraden Grabsteinkanten, aber er stolperte nie, verirrte sich nie in den grauen Schotterbeeten, immer gelangte er durch diesen stummen wüstenartigen Garten des Grauens sicher zum Grundstückstor.

Das alles stellte ich mir vor, als neben Rimböcks Grundstückstor plötzlich etwas vom Himmel fiel. Ein leiser, dumpfer Aufschlag. Ein leichtes Knacken? Dann segelte, die Krallen voraus, lautlos eine Krähe herab, flatterte, hüpfte, tänzelte, stolzierte über den Beton, prahlte kurz mit ihrem seidig-schwarzen Gefieder, krächzte dann aufgeregt, nahm die angebrochene Nuss in den Schnabel und flog mit klammheimlicher Freude wieder davon. Ich schaute ihr nach, bis sie meinen Blicken entschwand, der Himmel war blau, mir erschien er vor allem leer.

Es war Ende September und wie gesagt noch etwas kühl, aber mir war das Wetter egal, ich saß jeden Tag um diese Zeit auf der Bank vor meinem Haus, rauchte eine Zigarette und trank Kaffee. Die Bank war überdacht, wenn auch nicht mit so einer pseudogriechischen, von der roten Leuchte einer Alarmanlage gekrönten Angeberei wie Rimböcks Haustür, es war nur ein einfaches Vordach aus Holz, eine Art provisorischer Unterstand, den Katharina mit wildem Wein und Efeu begrünt hatte und der vielleicht deshalb schon seit Jahren hielt, jedenfalls wäre ich selbst bei Regen einigermaßen geschützt, aber an diesem Tag blieb es trocken und wurde nach der anfänglichen Kühle dann doch angenehm warm. Die ersten Blätter begannen sich schon zu färben, in den Jungfernreben waren die Beeren blau, bald würden die Blätter feuerrot lodern. Die restlichen Gartenmöbel waren ergraut und standen seit langem zusammengeklappt in der Ecke, besprenkelt von Vogelschissen und umklettert von den Ranken der Zaunwinde verharrten sie im Dornröschenschlaf, über die Stuhlbeine zogen sich eingetrocknete Schneckenspuren. Wie schön alles zuwuchert, dachte ich, endlich, aber dann erinnerten die weißen Blüten an die Schalltrichter von Grammophonen und schienen permanent Neuigkeiten zu trompeten. Ich war nicht erpicht auf Neuigkeiten, schon gar nicht auf Merkwürdigkeiten, im Gegenteil, sie störten nur meine Gedanken. Es reichte mir aus, mir über mein Sitzen auf der Bank Gedanken zu machen oder in Ruhe und Frieden an Katharina zu denken. Kaffee und Zigaretten, in der einen Ecke die zusammengeklappten Gartenmöbel, in der anderen ein paar leere bleiche Schneckenhäuser und vom Beginn des Sommers noch der weiße Flausch der Pappelsamen, vom Wind zusammengefegt wie das trockene Laub vom letzten Jahr. Neben der Tür standen noch immer Katharinas grüne Gartenpantinen, traurig und verlassen wie Bühnenrequisiten standen sie auf den Brettern der Terrasse, aber auch voller Ungeduld, als wollten sie wie aus Gewohnheit jeden Moment loslaufen zu einem letzten großen Auftritt. Ich hatte es längst aufgegeben, die Terrasse zu säubern, ich wartete, dass die Zeit verging. In ein paar Wochen würde der Wind den ersten Schnee in die Ecken wehen. Mein Kaffee war inzwischen kalt geworden.

Bedauerlicherweise gibt es immer wieder Leute, die plötzlich auftauchen und einen mit ihrer Anwesenheit aus den Gedanken reißen und für ihre Zwecke missbrauchen, sogenannte Bekannte, die als Bekannte ganz im Vertrauen nur ein paar Worte wechseln wollen, dann aber ausdauernd auf einen einreden. Selbst wenn man einen finsteren Blick probiert, der wird übersehen oder ignoriert. Sie müssen einem nur kurz sachkundig die Welt erklären, ungefragt das eigene Leben mit all seinen Krankheiten und Widrigkeiten, den Urlauben auch, den vergangenen und den zukünftigen, können es mit Fotos und Prospekten jederzeit beweisen, eine Zumutung ist das. Man darf nicht auf sie eingehen, ihnen nicht einmal den kleinen Finger reichen, muss ihnen die kalte Schulter zeigen. Oder Rimböck, der mich an diesem Morgen sogar durch seine Abwesenheit aus den Gedanken riss und mich zwang, über den Grund seines Ausbleibens zu spekulieren. War er über Nacht unsichtbar geworden? Hatte er sich einfach aus dem Staub gemacht? Wie alt mochte er überhaupt sein? Schwer zu schätzen. Je älter ich wurde, desto öfter lag ich mit solchen Vermutungen daneben, besonders bei den Jüngeren. Und Rimböck war jünger, ein Mann in den besten Jahren, wie man sagt, aber was sind sie überhaupt, die besten Jahre?, ich jedenfalls glaubte, sie hinter mir zu haben, ich war mir sogar sicher und fand es erleichternd, es senkte die Erwartungen und erhöhte die Nachsicht der anderen.

Rimböck, soviel wusste ich, lebte seit seiner Scheidung allein, und so vertrieb der Anblick eines offenen Fensters im ersten Stock meinen ersten Gedanken, er könne verreist sein, denn eine solche Nachlässigkeit traute ich ihm einfach nicht zu, auch eine mögliche Verspätung kam mir zunächst gar nicht in den Sinn, denn Rimböck war ein Pedant. Oder hatte er das Fenster absichtlich nicht geschlossen, eine Arglist, um mich zu provozieren? Aber warum? Ein Fenster mit Jalousie, die beim Schließen immer wie eine Maschinenpistole rasselte, direkt unter dem Flachdach, vermutlich sein Schlafzimmer, nun offen und mit bauschender Gardine, darüber der leere Himmel. Man müsste jetzt ein Fernglas haben oder wenigstens ein Opernglas, dachte ich und holte den alten Feldstecher aus dem Schuppenschrank. Die plüschige Innenseite des schwarzen Futterals aus Lederimitat war in der feuchten Luft stockfleckig geworden und begann...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.