Wonneberger | Himmelreich | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Wonneberger Himmelreich

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99014-302-5
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-99014-302-5
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Das Buch Robert, ein Mann um die dreißig, kehrt ins Dorf seiner Kindheit zurück, 'irgendwo am Schienenstrang zwischen Neustadt und Himmelreich'. Die Mutter ist schon eine Weile tot, nun begraben sie Rudi, den Vater; zeitlebens sind sie einander fremd geblieben. Das Beredtste, was er seinem Sohn hinterließ, ist die Bastelarbeit auf dem Dachboden: das Dorf in Miniaturformat, mit der Eisenbahn, die in der Wirklichkeit hier nicht mehr hält. Mit dieser spielerischen Erfindung gelingt es Jens Wonneberger, die Beziehung zwischen Vater und Sohn, über der so viel Ungesagtes, Ungelöstes liegt, zu poetisieren. Mit Lakonie bringt er dieses Museum der verlorenen Zeit sprachlich zum Klingen. Auch das Dorf jenseits der Familie bekommt seine Physiognomie. In meisterhaften Miniaturen haben die Unangepassten ihren Auftritt: Schlendermax, der Dorftrottel, Birnstein, der Chrysanthemen- und Gurkenzüchter, oder der Kutscher Kretschel. In 'Himmelreich' errettet Jens Wonneberger sie alle in eine deutsche Prosa, die zum Besten gehört, was derzeit geschrieben wird.'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'
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Willy Kretschel war der Besitzer des letzten Pferdegespannes im Dorf und der Kopf war sein markantestes Merkmal. Die äußere Form seines Kopfes, muss man einschränken, denn was den Kopf als Ganzes betrifft, war Kretschel ein eher durchschnittlich veranlagter Mensch. Kretschel also hatte einen runden Kopf, man sagt ja manchmal von einem Menschen, er habe einen runden Kopf, Kretschels Kopf aber war so rund, dass man ihn, sich der Tautologie durchaus bewusst, nicht anders als kugelrund nennen kann. Ein Kopf zudem, der, abgesehen von zwei Haaren, die sich auf einer Warze unterhalb des linken Auges störrisch zeigten, vollkommen kahl war, was den Eindruck verstärkte, der Kopf könne jeden Augenblick von den Schultern rollen, und auch Kretschel selbst schien eben dies zu befürchten, weshalb er die Schultern immer ein wenig nach oben zog, was seinem gesamten Aussehen etwas Zusammengestauchtes gab. Gekrönt wurde der Kopf von einem kleinen Hut aus ursprünglich braunem, im Laufe der Jahre speckig gewordenem Leder, den Kretschel fast nie absetzte, es sei denn, dass er ihn, auf dem Bock seines Leiterwagens sitzend, die Peitsche im Stiefelschaft, gelegentlich für einen Gruß lüftete, wobei für einen kleinen Moment ein roter Streifen sichtbar wurde, der den Kopf wie ein Fassreifen umspannte. So fuhr er über die Dorfstraße, rief hü oder hott oder gottverfluchte Scheiße, wenn die Räder in der engen Kurve hinter der Milchrampe blockierten und die Pferde aufgeregt auf der Stelle traten, während Kretschels Kopf sich vor Wut und Anstrengung dunkelrot färbte und sich bedrohlich neigte. Oder er stand, nicht minder fluchend, weit zurückgelehnt, in einer Hand die Zügel zerrend, mit der anderen an der Bremskurbel drehend, während die Pferde, Schaum um die Mäuler und mit gebleckten Zähnen, sich mit kleinen, trippelnden Schritten gegen den Abhang stemmten. Prrr!! zischte es dann durch die zusammengepressten Zähne aus Kretschels Kopf wie Dampf aus einem Kessel.

Unter anderen Umständen würde es schon genügen, sich Kretschels als eines Menschen mit einem so merkwürdigen Kopf zu erinnern, aber, wie gesagt, Willy Kretschel war auch der Besitzer des letzten Pferdegespannes im Dorf und genoss als solcher ein beträchtliches Maß an Popularität. Der aufgeregte Ruf „Kretschel kommt!“ versammelte dann auch alle verfügbaren Kinder und Großmütter hinter Gardinen und Gartenzäunen und konnte zuweilen als Schlachtruf gelten, dann nämlich, wenn Kretschels Pferde, zwei mit ihrem Besitzer in die Jahre gekommene Haflingerwallache mit mächtigen Hinterteilen, auf der Straße äpfelten. Dann galt es sich schnellstmöglich mit Eimer, Schaufel und Ascheschieber zu bewaffnen, um als Erster den Hinterlassenschaften des letzten Pferdegespanns habhaft zu werden. Denn nichts, das galt als abgemacht, war für das Wachstum von Gartengemüse und Zierblumen besser, als eine aus Pferdeäpfeln gebraute Düngerbrühe. In einer eigens bereitgestellten Zinkwanne reifte der braune Sud und bildete kleine Schaumkronen, auf denen die grünen Leiber der Fliegen schillerten wie Smaragde. Großmutter schrieb übrigens Hühnerkacke eine ähnliche Wirkung zu, allerdings sollte sich diese an menschlichem Kopfhaar entfalten, was auszuprobieren Kretschel jedoch ablehnte. Vielleicht galt er auch deshalb als stur, zumindest in den Augen von Roberts Großmutter, die in Sachen Sturheit aber auch nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt war. War es also Sturheit, dass Kretschel immer wieder die Geschichte von dem Pferdegespann erzählte, das vor langer Zeit samt seinem Kutscher in einem Moorloch am Rand des Dorfes versunken sein sollte? Immer wieder erzählte er scheinbar beiläufig und dennoch eindringlich diese Geschichte, bis die Kinder glaubten, es sei das unausweichliche Schicksal aller Pferdegespanne, eines Tages im Moorloch am Rand des Dorfes zu versinken. Und so sah auch Robert in seinen Träumen Kretschel mit seinem Pferdegespann und hochrotem Kopf durch die tiefen Ackerfurchen fuhrwerken, bis hin zum Moorloch, wo er schließlich versank. Ganz langsam ging er unter, er wehrte sich nicht, rief nicht um Hilfe, er versank nur, bis einzig der Kopf aus dem Sumpf ragte, dieser vollkommen runde Kopf, aus dem Kretschels Augen mit einem ungläubigen Staunen blickten, bis auch sie verloschen und schließlich nur noch der kleine Lederhut auf dem braunen, schlammigen Wasser schwamm.

Robert weiß nicht mehr, ob Kretschel selbst die Pferde irgendwann zum Rossschlächter brachte, oder ob er vor ihnen starb. Eines Tages jedenfalls hatte das Dorf kein Pferdegespann mehr, und Robert ist nicht sicher, ob es das Dorf nach diesem Tag überhaupt noch gab.

Obwohl in letzter Zeit von Gicht geplagt, stand Max Weinrich täglich seinen Mann. Er war Brunnenbauer, aber alle im Dorf sagten Plumpen-Max zu ihm. Er war ein äußerst vielseitiger Mann, er verstand es, mit der Wünschelrute umzugehen, züchtete Brieftauben, war ein ebenso angesehener wie gefürchteter Skatbruder, hob, und was lag näher für einen Mann mit seiner Berufserfahrung, die Gräber auf dem Friedhof aus und hatte eines Tages sogar begonnen, bei weltlichen Begräbnissen die Trauerreden zu halten, kurz, er war der letzte Universalgelehrte des Dorfes.

Er fuhr einen alten Trabant-Kombi, in dem sich neben der Wünschelrute und diversen Grab- und Maurerwerkzeugen zwei verbeulte Taubenkäfige und, für besondere Fälle, ein Hebammenkoffer mit einem schwarzen Anzug befanden. Außerdem waren auf der Ladefläche, an die Innenseiten der Radkästen merkwürdige Halterungen aus Blech angeschraubt. Wenn Plumpen-Max auf die Baustelle kam, befanden sich in der rechten Halterung drei volle Bierflaschen, wenn er abfuhr, in der linken drei leere.

Bevor er einen Brunnen baute oder ein Grab schaufelte, ging er mit der Wünschelrute übers Gelände. Wenn sie anschlug, war es für einen Brunnen ein guter Ort, für ein Grab war es ein schlechter. Hier graben wir, sagte er dann oder er sagte, hier graben wir nicht. Der arme Kerl holt sich ja sonst noch die Gicht, fügte er im letzteren Fall hinzu. Max Weinrichs Wort hatte Gewicht, geirrt hatte er sich noch nie, im Falle der Brunnen zumindest war das nachweisbar. Es war also nicht verwunderlich, wenn ein Mann wie Plumpen-Max im Leben des Dorfes eine gehobene Stellung einnahm und über gewisse Privilegien verfügte. In der Autowerkstatt zum Beispiel wurde er sofort bedient und auf dem Friedhof war der schönste Platz für ihn reserviert. Er hatte ihn sich selbstverständlich selbst ausgesucht, einen sonnigen und trocknen Platz.

Als Max Weinrich gestorben war, hoben zwei Gemeindearbeiter die Grube aus. Am nächsten Tag, das Begräbnis fand unter großer Anteilnahme der Dorfgemeinschaft statt, war die ganze Grube überschwemmt. War halt ein Witzbold, der Plumpen-Max, sagten die Leute und ließen den Sarg zu Wasser.

Es sei wie immer gewesen, sagten die alten Frauen nach dem Begräbnis des Kohlenhändlers, man hätte glauben können, dass der Kohlenhändler noch lebe und jeden Moment um die Ecke komme mit seinem Karren, dessen schwere, eisenbeschlagene Räder man ganz deutlich über den Kies habe knirschen hören können, und tatsächlich sei der zweirädrige Karren dann auch um die Ecke gebogen, gezogen von einem Mann im schwarzen Anzug, wie ja auch der Kohlenhändler immer einen schwarzen Arbeitsanzug angehabt habe, nur dass die Ladung diesmal eine andere gewesen sei, denn statt der kohlenstaubgeschwärzten Säcke habe sich der Sarg des Kohlenhändlers auf dem Karren befunden. Ein schwarzer, glänzender Sarg, sagten die Frauen, man könne sich wirklich keinen besseren Sarg für einen Kohlenhändler vorstellen. Der Karren aber habe sich viel leichter bewegen lassen, der Mann, der den Karren gezogen habe, sei aufrecht gegangen, ja geradezu, die Deichsel locker in der Hand, geschritten, während der Kohlenhändler sich mittels eines breiten, quer über die Brust gelegten Gurtes habe immer vor den Karren spannen müssen, vornübergebeugt sei er gelaufen, die klobigen Schuhe gegen den Boden stemmend oder, wenn es bergab ging, sich mit aller Kraft rücklings gegen den Karren bäumend, und dennoch habe der Kohlenhändler immer gelacht, während der Mann mit dem Sarg ein ernstes und würdevolles Gesicht gehabt habe wie bei einem Begräbnis. Es sei ja auch ein Begräbnis gewesen, nur habe man beim Begräbnis des Kohlenhändlers immer an den Kohlenhändler denken müssen; der Kohlenhändler lebe noch, habe man angesichts des Karrens immerzu denken müssen. Und man habe sich gut vorstellen können, wie der Kohlenhändler sich den Sarg auf den breiten Rücken packen und ohne zu schwanken damit die steilen Kellertreppen heruntersteigen würde, während doch die vier Männer Mühe gehabt hätten, den Sarg des Kohlenhändlers vom Karren zu ziehen, und die paar Schritte bis zur ausgehobenen Grube nur mit Anstrengung hätten zurücklegen können. Zwei, drei Doppelzentner, mehr könne so ein Sarg doch gar nicht wiegen, mutmaßten die Frauen. Schon bei seinem Begräbnis fehle der Kohlenhändler an allen Ecken und Enden, man wisse gar nicht, was denn nun werden solle. Was hätte das für ein Begräbnis werden können, hätte der Kohlenhändler noch gelebt, denn nie habe der Kohlenhändler die schweren Säcke ohne einen Scherz in den Keller getragen, ein lustiger Mensch sei er gewesen, der Kohlenhändler, sagten die alten Frauen. Er könne sich keine besseren Briketts vorstellen als seine Lungen, habe der Kohlenhändler einmal gesagt, erinnerte sich eine der Frauen, bei seiner Einäscherung, habe der Kohlenhändler gesagt, könne man sich jede Zufeuerung sparen. Es sei völlig unverständlich, dass man...



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