Wonneberger | Mission Pflaumenbaum | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 190 Seiten

Wonneberger Mission Pflaumenbaum

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-99014-301-8
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 190 Seiten

ISBN: 978-3-99014-301-8
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Das Buch Ein Dorf, irgendwo im ehemaligen Osten, dreißig Jahre nach der Wende. Kramer, ein Bibliothekar Mitte fünfzig, ist soeben angekommen, um seine Tochter Justine zu besuchen. Seit Jahren ist das Verhältnis zwischen ihnen nicht das beste. Mit ihrem Mann hat Justine ein altes Haus gekauft, einen wunderschönen Obstgarten inklusive, wäre da nicht der abgestorbene Pflaumenbaum. Auf dem Weg zum Haus, dort, wo einmal die Bandweberei gestanden hat, lässt sich Kramer von einem alten Kauz, Rottmann, in ein Gespräch verwickeln, das ihn sogleich tief in die Dorfgeschichte hineinzieht. Rottmann klagt über alles und jeden, auch bei ihren weiteren Begegnungen, nicht selten mit Argumenten, die Kramer von den Pegida-Demonstrationen zu kennen glaubt. Dennoch beginnt er sich für das Leben des Alten und das Dorf zu interessieren. Beim Zuhören merkt er, wie wenig er von seiner Tochter und sie von ihm weiß. Durch Rottmann angeregt, fängt auch er an zu erzählen ... 'Mission Pflaumenbaum' ist Jens Wonnebergers bisher politischstes Buch. Es wäre freilich nicht Wonneberger, wenn die Worte nicht kostbar gewebt und von großer Poesie wären. Eine Dorfgeschichte der subtilsten Art!'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'
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1

Kramer hatte den Mann an diesem Nachmittag zuerst gesehen, sah, wie er auf der Bank saß, unentwegt die Lippen bewegte und offenbar mit sich selbst sprach. Er hätte es wissen müssen, er hätte nicht so lange hinsehen dürfen, hätte, nachdem auch der Mann ihn bemerkt hatte, dessen bellendes He du da! ignorieren und einfach nur, den Blick stur auf die Bordsteinkante gerichtet, weitergehen müssen. Zu spät, er war in die Falle getappt, war, als der Ruf ihn erreichte, sogar stehengeblieben, hatte sich als Zeichen einer stummen Frage mit dem Finger auf die Brust getippt und sich nach allen Seiten suchend umgeschaut, obwohl er längst ahnte, dass nur er gemeint sein konnte. Na komm schon, glotz nicht so blöd, rief der Mann mit einer Mischung aus altväterlicher Aufmunterung und einem schroffen, Kramer dann doch entwaffnenden Befehlston und rückte auch gleich ein Stück zu Seite. Er klopfte mit der flachen Hand mehrfach auf den nun frei gewordenen Platz und legte den Arm dann auf die Lehne, so dass Kramer, während er, noch immer zögernd, auf die Bank zuging, überlegte, ob er den Mann nicht einfach nach dem Weg fragen und weitergehen, oder wie er, man will ja nicht unhöflich sein, den angebotenen Platz neben dem Fremden einnehmen sollte, kurz, nur ganz kurz, ohne Gefahr zu laufen, den Arm des Mannes schon bald auf seiner Schulter zu spüren. Also blieb er vor dem Mann stehen, Kramer schätzte ihn auf mindestens siebzig, der nun tatsächlich seinen Arm von der Lehne zurückzog, ihn anhob und die flache Hand gegen die Sonne stellte, die Finger auffächerte, um Kramers Gesicht im blendenden Gegenlicht besser sehen zu können. Und?, fragte Kramer. Was und?, blaffte der Alte zurück, und Kramer würde sich später fragen, warum er nicht spätestens jetzt einfach weitergegangen war und sich stattdessen doch auf die Bank gesetzt hatte, seinen Rucksack vorsichtshalber zwischen sich und dem Mann. Der lehnte sich im sicheren Gefühl, sein Ziel vorerst erreicht zu haben, befriedigt zurück, vergrub die Hände in den Taschen seiner weiten, braunen Manchesterhose und sagte vorerst kein Wort mehr.

Kramer sah ihn von der Seite an, er kannte den Mann nicht, vielleicht erkannte er ihn auch nur nicht wieder. Er war noch nie zuvor in diesem Ort gewesen und doch, dieses hohlwangige Gesicht, besonders die markante, wie von einem schlecht verheilten Bruch gekrümmte, spitz zulaufende Nase und das wie im Gegensatz dazu stark fliehende Kinn erinnerten ihn an jemanden, Kramer wusste nicht an wen, es war etwas Vogelhaftes in diesem Profil, was ihm aber auch nicht weiterhalf, weil er sich eines Menschen mit so einem vogelhaften Kopf im Moment nicht erinnern konnte. Der Kopf jedenfalls schien ihm ziemlich klein, unterhalb des leicht entzündeten Auges war die Haut runzlig und von Flecken übersät, vielleicht war es ein Zuviel, vielleicht ein Zuwenig an Pigmenten. Das spärliche Haar, wirr und grau, umkränzte den kahlen Schädel wie ein Flaum, ein Geier, dachte Kramer, oder nein, ein Marabu, aber der Mann war frisch rasiert, unterhalb des Ohres, aus dem ein dickes Büschel Haare quoll, klebte noch ein Rest getrockneter Schaum. Er sah müde aus, doch erst als Kramer des Gehstockes gewahr wurde, eines altertümlichen Knotenstockes, den der Alte neben sich an die Bank gelehnt hatte, fragte er den Schweigenden etwas hilflos, ob er vielleicht Hilfe brauche. Rottmann, sagte der, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, Paul Rottmann, aber hier im Dorf nennen mich alle nur den Webervogel, vielleicht weil ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Kramer, sagte Kramer, obwohl ihm diese Vertraulichkeit eigentlich schon zu weit ging. Der Mann lächelte, als wisse er Bescheid. Na dann, sagte Kramer und wollte sich erheben, doch da zog Rottmann plötzlich seine Hände aus den Taschen, packte trotz des Rucksacks zwischen ihnen mit der Linken entschlossen Kramers Arm und tastete mit der Rechten nach seinem Gehstock. Kramer ließ sich erschrocken wieder auf die Bank fallen, der feste Griff des Mannes duldete keinen Widerstand, und er sah, wie Rottmann den Stock nahm und damit, fast hätte er Kramer mit der eisernen Spitze getroffen, mit einer fahrigen Bewegung einen weiten Bogen schlug. Hier hat sie gestanden, sagte er, genau hier. Was?, fragte Kramer. Na was schon, unsere Gurtweberei natürlich! Kramer starrte verblüfft auf die Brachfläche, auf die Rottmann mit dem Gehstock gezeigt hatte und in deren Mitte die Bank stand, erst jetzt fiel es ihm auf, die Bank stand inmitten einer Brache, die sich in einem Zustand zwischen Ödnis und Verwilderung befand, der sowohl von natürlicher als auch künstlicher Art war. Während auf der einen Seite vor einer von Salpeter zerfressenen Ziegelwand junge Birken und Eschen eine vermutlich vor Jahren gerodete Fläche erneut zu überwuchern begonnen hatten, man sah knapp über dem Boden noch die armdicken Stümpfe, erhob sich im Zentrum der Freifläche ein riesiges, aus Granit gemeißeltes Denkmal, dessen Betonsockel, obwohl offenbar noch recht neu, schon verwittert war und zu bröckeln begann. Das Denkmal, Kramer vermochte die technisch anmutende Skulptur nicht zu deuten, stand inmitten eines von verwilderten Rosenstöcken und kniehohen Taxushecken gebildeten Rondells. Zwischen den aufgeschossenen Brennnesseln flatterten etwas verloren die Reste eines rot-weißen Absperrbandes. Von diesem Rondell zweigten sternförmig vier mit hellem Waschkies bestreute Wege ab, deren Betreten allerdings das hier zwischen Metallstäbe gespannte Absperrband verbot. Was ist das?, fragte er. Sie nennen das Dorferneuerung, sagte Rottmann verächtlich und spuckte in Richtung des Steins, ein Weberschiffchen soll das sein, dagegenschiffen müsste man!

Kramer, der an diesem Nachmittag, es war ein Freitag, gerade mit dem Bus angekommen und auf dem Weg zu seiner Tochter war, wo er das Wochenende verbringen wollte, wusste zwar, weil er es irgendwo gelesen hatte, dass man mit einem Weberschiffchen den Schussfaden durch die Kettfäden treibt, aber noch immer nicht, warum der Mann ihn zu sich gerufen hatte. Vielleicht hatte er ihn wirklich nur einen Moment zu lange angesehen, oder aber der andere hatte ihm aufgelauert. Seine Tochter, sie würde sicher schon auf ihn warten, war vor ein paar Wochen mit ihrem Mann hierher aufs Dorf gezogen, sie schwärmte vom ländlichen Leben, wie sie es in den Sommerferien im Haus seiner Eltern früher erlebt hatte. Kramer war damals nicht verborgen geblieben, dass sie seine Eltern, als sie noch lebten, besonders seinen Vater, ihm vorgezogen hatte. Und umgekehrt, ihm hatte der Vater nie etwas von sich erzählt, ihr hingegen alles. Bei Problemen hatte seine Tochter meist seinen Vater, nicht ihn um Rat gebeten, und vor ein paar Minuten, als er aus dem Bus gestiegen war, hatte er daran gedacht, dass auch ihre Entscheidung für dieses Haus hier auf dem Land eine Entscheidung gegen ihn gewesen sein könnte, der das Dorf seiner Kindheit einst im Groll verlassen und das Vaterhaus seinem Bruder überlassen hatte. Seine Tochter hatte das nie verstanden und jetzt, je älter er wurde, bereute er es manchmal selbst. Sein Verhältnis zu ihr war eigentlich nicht schlecht, sie telefonierten in letzter Zeit oft, sahen sich zuweilen, aber eine wirkliche Nähe war nie entstanden, immer gab es einen Rest von Vorsicht und Scheu, der beide daran hinderte, sich dem anderen zu öffnen. Im Grunde führten sie seit Jahren einen Kampf, ein stummes, im Untergrund geführtes Ringen, das weder einen Sieger noch einen Verlierer kannte, schon deshalb nicht, weil es keine verbindlichen Regeln gab und keine Kriterien dafür, was als Sieg oder Niederlage zu gelten hatte. Vielleicht war es dieser Gedanke, der ihn auch jetzt zögern ließ, seinen Weg fortzusetzen, anstatt sich hier den Launen dieses merkwürdigen Vogels auszusetzen, eilig jedenfalls hatte er es nicht.

Und hier hat also eine Fabrik gestanden?, fragte Kramer, etwas ungläubig zwar, aber doch um einen Tonfall bemüht, der keine allzu große Neugierde verriet. Ja, unsere Gurtweberei, sagte Rottmann, erst wurde sie geschlossen, dann wurden die Fenster eingeschlagen und die Wände beschmiert, von den Jugendlichen natürlich, jeder schleppte aus der Fabrik, was er brauchen konnte, Feuerholz vor allem und Altmetall, sogar Türklinken, regelrecht ausgeweidet hat man sie, schließlich wurde sie abgerissen, vor Jahren schon, aber mir kommt es so vor, als sei es erst gestern gewesen. Aber hier oben ist alles noch drin, sagte er und tippte sich mit der Hand gegen den Kopf, erst an den Kopf, und dann trommelte er sich mit der Faust gegen die Brust, auch da ist alles noch drin, im Herzen. Ich kann es noch hören, sagte er, dieses Stampfen der Webstühle, dieses rhythmische Klatschen, das Scharren und Klappern, das Klicken und Rasseln, du denkst vielleicht ich übertreibe, aber ich übertreibe nicht, es war die Hölle, wenn ich zu laut spreche, dann liegt es an diesem Lärm, der das Gehör ruiniert hat, das Gehör und die Knochen und die Lungen dazu. Rottmann hatte wieder den Knotenstock gehoben, vorsichtig diesmal, wie ein Dirigent um Ruhe bittet, doch es war nur das höhnische Gezänk der Spatzen zu hören, die im benachbarten Gebüsch schimpften. Ratsch, ratsch, machte er, klick, klick, Speichel spritzte aus seinem Mund, er ließ den Stock nun hin und her schwingen, bewegte ihn von unten nach oben, schlug damit in die Luft, dass es leise surrte, man müsse, sagte er, sich das alles gleichzeitig vorstellen und lauter natürlich, viel lauter und schneller, aber er sei nun mal keine Maschine, und nicht nur gleichzeitig, von überall her müsste der Lärm kommen, von rechts und links, von vorn und hinten, von unten auch, vor allem von unten, denn der...



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