E-Book, Deutsch, 203 Seiten
Woolrich DIE PHANTOM-LADY
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7554-2130-6
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Thriller-Klassiker!
E-Book, Deutsch, 203 Seiten
ISBN: 978-3-7554-2130-6
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach einem Streit mit seiner Frau verlässt Scott Henderson seine Wohnung und begegnet in einer Bar einer fremden Frau. Sie beschließen, die Nacht gemeinsam zu verbringen, aber sich nicht ihre Namen zu verraten. Als Scott schließlich nach Hause kommt, erwartet ihn dort die Polizei: Seine Frau wurde ermordet - und er bräuchte ein Alibi. Doch niemand, der ihn zusammen mit der fremden Frau gesehen hat, will sich an die Frau erinnern... Die Phantom-Lady von Cornell Woolrich war im Jahr 1942 der erste Roman, den der Autor unter dem Pseudonym William Irish veröffentlichte. Der Roman gilt bis heute als eines der großen Thriller-Meisterwerke von Cornell Woolrich. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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ERSTER TEIL
Der 150. Tag vor der Hinrichtung 6 Uhr abends Die Nacht war jung, und er war es auch. Doch in seinem Gesicht stand ein mürrischer, verdrossener Ausdruck. Und das war schade. Denn es war einer jener warmen Maiabende, an denen sich die Stadt zu ihren Rendezvous zusammenfindet. An denen die eine Hälfte der Bevölkerung unter Dreißig sich ein letztes Mal das Haar zurückschniegelt und seine Brieftasche auffüllt, während die andere Hälfte letzte Hand an ihr Make-up gelegt, sich ihr bestes Sommerkleid angezogen hat und voller fiebernder Ungeduld auf eben jenes gleiche Rendezvous wartet. Und dann ist es immer das alte. »Da bin ich. Hast du schon lange gewartet?« »Du siehst heute wieder bezaubernd aus. Wo gehen wir hin?« Solch ein Abend war es. Der Himmel im Westen hatte sich tiefrot gefärbt, als ob auch er sich für ein Rendezvous schmücken wollte, und entlang den Straßen flammten die Neonlichter auf, als wollten sie mit den Vorbeiflanierenden flirten. Die laue Abendluft schien erfüllt von Champagner, mit einem Hauch von Coty, und wenn man nicht achtgab, stieg es einem in den Kopf. Oder es griff einem ans Herz. Und da ging dieser junge Mann und trübte mit seiner finsteren Miene die romantische Szenerie des Abends. Es schienen nicht seine finanziellen Verhältnisse zu sein, was ihn bedrückte, denn er trug einen auf Maß geschneiderten, saloppen Anzug. Er war auch nicht etwa krank. Jeder, der mit so kräftigen, weitausgreifenden Schritten da hergeht, kann sich nur bester Gesundheit erfreuen. Der strotzenden Gesundheit eines Dreißigjährigen. Wenn er die Dreißig überschritten hatte, dann höchstens um Monate. Der Sommermantel, der ihm über der Armbeuge hing, wippte im Takt seines Schrittes. Der Hut saß ihm zu weit hinten auf dem Kopf und hatte den Kniff an der falschen Stelle, so als ob sich der Mann nicht die Mühe gemacht hatte, ihn vor dem Spiegel zurechtzusetzen. Er hatte sicher nicht die Absicht gehabt, dort einzukehren, wo er schließlich hineinging. Man merkte dies an der jähen Art, mit der er seinen Schritt verhielt, als er daran vorbeikam. Es war, als ob ihn jemand bremste; sicher hätte er die Bar gar nicht bemerkt, wenn nicht gerade in diesem Augenblick deren Neonlichter aufgeflammt wären. Anselmo's stand in geraniumroten Leuchtbuchstaben über dem Eingang zu lesen, und der Schein davon fiel über den Gehsteig, als ob jemand einen Kübel Ketchup darauf ausgegossen hätte. Der Mann betrat die Bar und kam in einen langen, niedrigen Raum, drei, vier Stufen unter der Höhe des Gehsteigs. Es war keine sehr große Bar, und sie war, im Augenblick wenigstens, auch nicht sehr voll. Entlang der Wand standen in kleinen Nischen Tische, doch der Mann beachtete sie nicht, sondern trat direkt an die halbkreisförmige Theke. Er sah sich nicht um, wer daran saß oder ob überhaupt jemand daran saß. Er warf seinen Mantel über einen der hohen Hocker, warf den Hut darauf, und es war offensichtlich, dass er hier die Nacht, oder zumindest den größten Teil davon, zu verbringen beabsichtigte. Ein weißes Jackett erschien verschwommen vor seinen niedergeschlagenen Augen, und eine Stimme sagte: »Guten Abend, Sir.« »Scotch«, sagte der Mann. »Und ein wenig Wasser. Wie wenig Wasser, ist mir verdammt egal.« Das Glas Scotch war längst geleert, als das Wasser immer noch unberührt dastand. Es muss wohl so gewesen sein, dass er in Gedanken nach einem Salzstangenbehälter, oder was sonst noch auf einer Bartheke herumzustehen pflegt, griff, als seine Hand eine andere, weichere berührte, die zur gleichen Zeit in den Behälter langte. »'tschuldigung«, sagte er. »Nach Ihnen.« Er wandte sich wieder seinem Whisky zu, um dann dem Mädchen doch einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Er sah sie lange an, immer noch in seiner finsteren, düsteren Art. Das Ungewöhnliche an dem Mädchen war ihr Hut. Er ähnelte sowohl in Form wie in Farbe einem Kürbis, so flammend gelb, dass einem die Augen schmerzten. Wie ein Lampion schien er den halbdunklen Barraum zu erhellen, und hinten, genau in der Mitte, stand eine Feder hoch wie der Fühler eines Insekts. Nicht einer Frau unter tausend hätte ein solcher Hut gestanden. Ihr jedoch stand er, und nicht einmal schlecht. Gewiss wirkte er auffallend, aber keineswegs komisch. Das Mädchen knabberte indessen an einer Salzstange und gab sich Mühe, seinen kritischen, düsteren Blick, mit dem er sie musterte, nicht zu beachten. Er hingegen wandte sich direkt an sie, ohne irgendeinen der üblichen Umschweife: »Haben Sie etwas vor?« »Ja und nein.« Diese Antwort war weder abweisend noch ermutigend. »Wenn ja, dann sagen Sie es. Ich will Sie nicht belästigen.« »Sie belästigen mich nicht - bis jetzt nicht.« Sie brachte es mit dem genau richtigen Tonfall heraus, dass sie sich noch kein Urteil gebildet hatte. Seine Augen suchten die Uhr über dem Spiegel hinter der Theke. »Es ist jetzt zehn nach sechs«, sagte er. Sie war seinem Blick gefolgt. »So. Und?« Er hatte inzwischen seine Brieftasche gezogen und ihr zwei orangefarbene Billetts entnommen. »Ich habe zwei ausgezeichnete Karten für die Show im Casino. Parkett, erste Reihe.« »Sie machen es ziemlich direkt.« Ihr Blick glitt von den Eintrittskarten zu seinem Gesicht hinauf. Er wusste sie zu entwaffnen. »Mir geht es darum, dass die Karten ausgenutzt werden. Wir können vorher ja eine Vereinbarung treffen. Es erleichtert die. Dinge, wenn die Show zu Ende ist.« »Das kommt ganz auf die Vereinbarung an.« »Wir sind ganz einfach zwei Leute, die zusammen zum Dinner gehen und sich hinterher eine Show ansehen. Keine Namen, keine Adressen, keine überflüssigen persönlichen Fragen.« Sie sah es ein. »Wenn es dabei bleibt, scheint es mir eine vernünftige Abmachung zu sein. Gehen wir. Ich hatte bereits vorher bezahlt und trödelte mit meinem Drink nur noch ein wenig herum.« So zahlte auch er seinen Scotch, und sie gingen. Ein Taxi brachte sie zum Maison Blanche. Am Eingang des Speisesaals empfing ihn der Oberkellner, und er bemerkte sehr wohl, dass seine unbekannte Begleiterin sich im Hintergrund hielt, augenscheinlich in der Absicht, dadurch weniger Beachtung zu finden. »Ein Platz, Sir?«, fragte der Kellner. »Nein. Ich habe einen reservierten Tisch für zwei Personen.« Und dann gab er seinen Namen: »Scott Henderson.« Der Oberkellner überflog seine Liste. »Ah, ja.« Er blickte über die Schulter des Gastes hinweg. »Sind Sie allein, Mr. Henderson?« »Nein«, gab Henderson gleichgültig zur Antwort. Es war der einzige noch freie Tisch. Er stand ganz zurückgesetzt in einer der Nischen, so dass er nur von einer einzigen Seite aus beobachtet werden konnte. Als seine Begleiterin im Eingang des Speisesaals erschien, trug sie keinen Hut mehr, und er war überrascht über die Veränderung, die dies ausmachte. Es ließ sie irgendwie alltäglich erscheinen. So als ob ohne den Hut ihre Persönlichkeit dahingeschmolzen wäre. Sie war ganz einfach nur noch eine Frau in Schwarz, mit braunem Haar; nicht groß, nicht klein, ohne Charm und Schick - eine Durchschnittsfrau, wie nur Gallup sie erfinden kann. Niemand sah ihr entgegen, als sie den Saal betrat, oder verschwendete einen zweiten Blick an sie. Der Oberkellner war gerade dabei, einen Salat anzurichten, und so musste Henderson aufstehen und sie zu dem Tisch führen, an dem er saß. Sie legte den Hut, den sie in der Hand trug, auf den dritten Stuhl am Tisch und bedeckte ihn mit einem Zipfel des Tischtuchs, wohl um ihn vor Flecken zu schützen. »Kommen Sie öfter hierher?«, fragte sie. Er war wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihre Frage zu hören. »Entschuldigen Sie«, berichtigte sie sich. »Das fällt wohl unter die Kategorie unnötige persönliche Fragen.« Der Kellner, der ihnen servierte, hatte ein Grübchen am Kinn. Henderson konnte nicht umhin, es zu bemerken. »Wollen Sie nicht Ihre Handschuhe ausziehen?«, fragte er sie, als ihnen zu dem Wiener Schnitzel die übliche Zitronenscheibe serviert wurde und sie die Scheibe mit der Gabel auszupressen versuchte. Sie streifte den rechten sofort ab. Bei dem linken zögerte sie. Dann schließlich, als ob es besondere Entschlusskraft gekostet hätte, zog sie auch diesen von der Hand. Er gab sich alle Mühe, den Ehering daran nicht zu sehen, sondern blickte über ihre Schulter in eine andere Richtung. Dennoch entging ihm der Ring nicht. Er konnte ihn einfach nicht übersehen. Sie war eine angenehme Unterhalterin, ohne aufdringlich und banal zu sein. Einmal sprach sie von der Sängerin der Show, die sie sich gemeinsam ansehen wollten: »Diese Mendoza! Als ich sie das erste Mal hörte, sang sie mit reinem Chicagoer Dialekt. Seit sich jedoch ihre Engagements vermehrt haben, wird ihre Aussprache zusehends lateinamerikanischer. Ich bin überzeugt, sie ist noch niemals südlicher als Florida gewesen.« Gegen Ende des Dinners bemerkte er, dass sie seine Krawatte fixierte. Sie war einfarbig, ohne jedes Muster. »Hat sie die falsche Farbe?«, erkundigte er sich. »Nein, es ist eine hübsche Farbe«, beeilte sie sich, ihm zu versichern. »Nur - ich weiß nicht, sie scheint nicht ganz zu Ihrem Anzug zu passen. Aber ich will durchaus nicht kritisieren...« Er tat es mit einem Lächeln ab. Sie zündeten sich Zigaretten an, nippten noch eine Weile an ihren Kognakgläsern, und dann...