Wunnicke | Wachs | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Wunnicke Wachs


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-911327-09-1
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-911327-09-1
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Liebesgeschichte, so schön, so verwegen, so gewitzt, wie nur Christine Wunnicke sie schreibt. Schauplatz ist Paris im 18. Jahrhundert, das vorrevolutionäre und das überaus revolutionäre, wo die Köpfe rollen wie abgeschlagene Blüten. Es lieben sich zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten: Marie Biheron, die schon im zarten Alter Leichen seziert, um deren Innenleben aus Wachs zu modellieren; und Madeleine Basseporte, die zeichnend die Anatomie von Blumen aufs Papier zaubert, weil Menschen eher stören und meist keine Ahnung haben.

Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München und Berlin. Sie wurde u.?a. mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt München, dem Tukan-Preis und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. Bei Berenberg erschienen u.?a. ihre Romane »Der Fuchs und Dr. Shimamura« (2015) und »Die Dame mit der bemalten Hand« (2020), der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, sowie ihre Auswahl und Übersetzung aus Margherita Costas Werk »Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht« (2023).
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Es geht die Rede


An einem Abend im November 1733, lange nach Einbruch der Dunkelheit, stapfte eine kleine Person durch die Wiese, welche die Rue des Filles Angloises von der Kaserne der Schwarzen Musketiere trennte. Nach tagelangem Regen war alles ein Morast. Die Schuhe der Wanderin versanken im Schlamm, und ihr Umhang, der ihr zu lang war, verfing sich in aufgeworfenen Erdklumpen und schlug ihr um die Beine. Unbeirrt strebte sie zur rückwärtigen Pforte der Kaserne, wo es zum Rosshof ging. Sie trug ein Licht, hatte es aber nur einen Spaltbreit geöffnet und sah kaum die Hand vor Augen. Ohne innezuhalten, in gleichförmigem Ton, als zählte sie ihre Schritte, betete sie leise vor sich hin: Verleihe, Herr, meinem Herzen wahre Buße, meinen Augen einen Wasserquell, meine Sünde stets zu beweinen. Und immer wieder von vorne.

Es roch nach Pferden. Der Untergrund wurde fester, und irgendwo war ein wenig Licht. Nach kurzem Zögern und einem tiefen Atemzug löschte sie das ihre. Sie presste die Lippen zusammen, um sich am Beten zu hindern, dann stand sie vor der Mauer und dann vor dem Tor. Es war ein großes Tor, wodurch wohl zwei Pferde passten, mit einer kleinen Schlupftür darin. Ihre rechte Hand arbeitete sich unter dem Umhang hervor. Mit großer Vorsicht, als wollte sie etwas Empfindliches prüfen, streckte sie einen schwarzbehandschuhten Zeigefinger aus und tupfte gegen das Holz. Es gab nach. Die Schlupftür war in der Tat nicht verschlossen. Nichts und niemand hinderte die Fremde daran, in den Rosshof der Schwarzen Musketiere einzudringen. Sie schlich an den Ställen entlang, an einem gewaltigen Misthaufen vorbei, der sich hier nicht an seinem vorschriftsmäßigen Platz befand, längs einer markierten Reitbahn, an einem Brunnen, einigen Pferdeschranken, der Werkstatt des Geschirrmeisters und der Wohnung des Büchsenmeisters vorbei, bis sie die Mitte der Anlage erreichte und den Durchgang zum Mittelbau und zum vorderen Hof.

Hier gab die Pforte nicht nach, als sie den Finger dagegen drückte. Sie wollte die Klinke fassen, da begann drinnen etwas zu wimmern. Es war ein miserables Gewimmer, ein helles, näselndes Klagen mit viel Luft dabei, das immer wieder abriss und mit großem Eifer neu anhob. Sie lauschte, erstarrt. Was aus den Stuben der Musketiere, die sich hoffentlich hinter dieser Pforte befanden, nachts so kläglich ertönte, erschloss sich ihr nicht. Es war wohl nicht bedrohlich genug, um deswegen umzukehren. Sie hielt die Luft an und drückte die Klinke, dann stand sie im Mittelbau.

Es wimmerte zu ihrer Rechten. Dort war eine Tür, daneben eine Luke, dahinter ein zaghaftes Flackern. Die Tür stand halb offen. Sie schlüpfte hindurch. Es ging eine Treppe hinauf und eine Treppe hinunter, und einiges Zeug war untergestellt, Gartengerät, ein Handkarren, allerlei, was wohl zu Pferden gehörte, und jemandes schmutzige Stiefel. Das Wimmern kam aus der Tiefe. Sie stieg langsam die Stufen hinab und erreichte ein niedriges Kellergewölbe. Einer stand da, von einem Talgstumpf beleuchtet, kehrte ihr den Rücken zu und war so in sein Tun versunken, dass er sie nicht bemerkte.

Es war ein großer, vierschrötiger Kadett in Hemdsärmeln, der auf der Oboe übte. Das tat er hier jede Nacht. Es klang nicht gut und wurde nie besser. Ein Schauspiel der Verzweiflung ging hier immer wieder vonstatten. Der Kadett stammte aus der Normandie, wohin er sich sehnte. Immer lachte man ihn aus und bestrafte ihn, weil er auf der Oboe so stümperte, deshalb versuchte er, heimlich besser zu werden, dass man über seine Fortschritte staune; doch wurde er nicht besser und erstaunte niemanden. Einer seiner Ahnen hatte einst in der königlichen Garde die Oboe geblasen, oder was sonst man damals zu blasen beliebte, und deshalb sollte sein Nachfahr auch blasen. Einst war er ein fröhlicher Junge gewesen. Ohne Sattel, wild wie ein Räuber, war er rund um die Burg galoppiert, worin seine Familie nicht in Reichtum lebte, und hatte zuweilen auf einem Grashalm gepfiffen. Die Mägde hatten ihn liebgehabt und die Vögel für ihn gesungen. Dann hatte ihm sein Vater alles gekauft, was ein Schwarzer Musketier brauchte, den Rappen, die Uniform, den Degen und leider auch eine Oboe. Seine Finger waren dafür zu dick und seine Lippen nicht richtig gewachsen. Man behandelte ihn schlecht. Man gab ihm gehässige Namen und ließ ihn gemeine Dienste verrichten. Der Kadett wäre gerne in den Krieg gezogen, um darin zu fallen. Jetzt spielte er eine Tonleiter. Seit zwei Stunden. Sie bestand aus fünf Tönen, und alle waren falsch, und je mehr er die Backen aufblies, desto falscher wurden sie. Eben versuchte er, der Leiter einen sechsten Ton hinzuzufügen. Er war viel zu hoch und maunzte wie ein Kätzchen, das man der Mutter entreißt.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, zirpte jemand in seinem Rücken. Der Kadett fuhr herum. Sein Mund klappte auf. Die ganze Luft, die in die Oboe gesollt hatte, strömte hinaus. Ein düsterer Zwerg stand hinter ihm. Er hatte weder Gesicht noch Beine. Wie ein pechschwarzes Dreieck stand er reglos im Schatten, wo die Treppe endete, und in einer kleinen schwarzen Hand hielt er ein ausgelöschtes Licht vor sich hin wie die Vergänglichkeit auf den Gemälden.

»Oh Gott«, entfuhr es dem Kadetten. Dann entfuhr ihm ein Fluch. Dann rief er: »Geh weg!«

»Ich bedauere aufrichtig, dass ich hier eindringe, wenn Sie doch Musik spielen wollen, aber bitte schicken Sie mich nicht fort.« Der Zwerg hatte eine kleine Stimme. Er strich seine Kapuze vom Kopf. Darunter kam ein Kind zum Vorschein, weiblich und blass und wohl kaum älter als zwölf. Unter der Kapuze trug es eine enganliegende schwarze Haube, und an deren linker Seite hatte sich eine fahle Haarsträhne befreit, die zur Seite hin abstand wie der Fühler eines Insekts.

»Ich bitte darum, mit jemandem sprechen zu dürfen, der zuständig ist«, sagte das Mädchen, und seine Stimme wurde fester, »in einer wichtigen Angelegenheit, weshalb ich rücklings mir hier Einlass verschaffte, damit man mich vorne nicht wegschickt.«

Sie betrachtete mit gewissem Interesse und, so schien es dem Kadetten, einigem Ekel die Oboe in seinen Händen.

»Ich glaube nicht, dass Sie der Zuständige sind.« Nun knickste sie und neigte den Kopf. »Einen gesegneten Abend, und danke, dass Sie mir helfen!«

»Ich habe dich nicht hereingelassen!«, rief der Kadett.

»Ich weiß. Und ich werde es jedem sagen. Sie trifft keine Schuld. Führen Sie mich zu jemandem, der die Verantwortung trägt … der Bescheid weiß in diesem …« – sie suchte nach einem Wort und setzte unentschlossen hinzu: »Unternehmen?«

»Nein!«, rief der Kadett.

»Ich wäre leiser.«

»Pardon?«

»Ich würde, wäre ich Sie, mich etwas leiser gebärden, damit nicht das ganze Haus aufwacht.«

Im Kopf des Oboisten braute sich ein Bild zusammen: ein Kadett der Schwarzen Musketiere, der nachts ein Mädchen in den Keller des Mittelbaus einschleust und hierbei ertappt wird.

»Ich habe Sie in eine missliche Lage gebracht.« In ihrer Stimme lag kein Bedauern. Sie hatte den Umhang ausgezogen und sich ordentlich über den Unterarm gelegt. »Und ich schleppe Ihnen hier all den Matsch herein.«

Sie trug ein schlichtes grauwollenes Kleid und darüber eine dunkle Hemdschürze. Um ihren Hals lag ein altmodischer weißer Kragen. Der Kadett hatte Mühe, ihren Stand zu raten. War das ein flüchtiges Nönnchen? Hatte sie den Schleier vom Kopf gerissen, als sie dem Kloster entsprang, und nur diese Haube aufbehalten? Trugen sie solche unter den Schleiern? Was passierte mit einem Kadetten, der sich nachts im Keller mit Nonnen besprach?

»Gehen wir?«, fragte das Mädchen.

»Wohin denn!« Schon wieder wurde er laut.

»Ich kann es Ihnen leider nicht sagen« – nun schwang endlich ein wenig Erbarmen mit –, »weil ich nicht weiß, wie Ihre Truppe sich gliedert. Haben Sie einen Stabsmedicus? Einen Kanzellisten? Schatzmeister? Sekretär? Einen für die Lagerbestände, für Kehricht vielleicht, oder einen Priester? Am besten wäre wohl der Generalfeldmarschall, falls Sie ihn wecken dürfen.«

»Wer?«

»Der Kapitän? Der Generalmajor? Ich weiß nicht, wie man ihn nennt. Ich meine: den Chef.« Sie lächelte. Der Kadett starrte sie an. Es war, als hätte sich die bleiche Gestalt plötzlich verwandelt. Ihr Lächeln war unschuldig, warm, ein klein wenig spöttisch; das entzückendste Lächeln der Welt.

»Wir haben hier nur einen Rossarzt«, stammelte der Kadett. »Sind Sie krank? Darf ich Sie in die Stadt begleiten?«

»Nein, danke. Möchten Sie mich nur gütigst zu jemandem bringen, der ein wenig älter ist als Sie?«

Der Oboist zog seinen Rock an und strich sich die Haare zurück. In seiner Not mit der Oboe hatten sie...


Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München und Berlin. Sie wurde u. a. mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt München, dem Tukan-Preis und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. Bei Berenberg erschienen u. a. ihre Romane »Der Fuchs und Dr. Shimamura« (2015) und »Die Dame mit der bemalten Hand« (2020), der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, sowie ihre Auswahl und Übersetzung aus Margherita Costas Werk »Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht« (2023).



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