E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Yunkaporta Sand Talk
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7518-0347-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0347-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie indigenes Wissen die Welt retten kann. Eine Erzählung der Welt aus Sicht der Aborigines.
'Sand Talk' beschert dem Leser nichts weniger als einen Wechsel der Perspektive, von der aus wir die Krisen der modernen Welt betrachten und neu beurteilen können. Tyson Yunkaporta, Angehöriger des im australischen West Cape York beheimateten Apalech-Clans und Professor für Indigenes Wissen, vermittelt in diesem an Geschichten reichen Buch das tiefe, komplexe und prozesshafte Wissen der Aborigines. Ein Wissen, das aus der innigen und symbiotischen Beziehung zum Land und zu den Ahnen besteht und auf dem Denken in Geschichten und dem Erkennen von Mustern beruht. Es ist flüchtig wie die Zeichnungen, die bei den Zwiegesprächen oder den Unterhaltungen in der Gruppe in den Sand gezeichnet werden, und zugleich umfassend wie die Traumzeit. Es ist aber auch ein Wissen, das durch die westliche Zivilisation verheert wurde, die die weiten Gebiete Australiens ausgeplündert und die Kultur der Aborigines, die sich als Hüter des Landes verstehen, marginalisiert und verstümmelt hat. Yunkaporta macht dieses verschüttete Wissen lebendig und sucht in den Mustern der indigenen Kultur nach Möglichkeiten, die Moderne auf den Weg der Nachhaltigkeit zu führen.
Tyson Yunkaporta ist Wissenschaftler und Kunstkritiker. Er ist Angehöriger des im äußersten Norden des australischen Queenslands beheimateten Apalech Stammes. Er schnitzt traditionelle Werkzeuge und Waffe und unterrichtet als Professor für Indigenes Wissen an der Deakin University in Melbourne.
Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Weinhändler. Synchronschreiber. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen u.a. seine Übersetzung von Jason Moores Kapitalismus im Netz des Lebens sowie sein mit Martin Burckhardt geschriebener Essayband
Alles und Nichts.
Weitere Infos & Material
Albinojunge
Uns-zwei gehen mit Cancy McKellar, dem Wangkummarra Song-Mann, die Traumpfade entlang. Das sind uralte Traumpfade, die in Gesang und Geschichten in die Landschaft geätzt und in unseren Köpfen und Körpern und Beziehungen mit allem, was uns umgibt, kartiert sind: Wissen, das in jedem Gewässer und jedem Fels gespeichert ist. Wir wandern durch das Corner Country, wo Queensland, South Australia und New South Wales zusammentreffen. Cancy macht meine Ahnenlinien ausfindig und zeigt mir, wo sich deren Geschichten mit den seinen verbinden. Keiner von uns ist besonders dunkelhäutig, und vielleicht deshalb streicht er die Albino-Charaktere in seinen Überlieferungen besonders heraus. Eine weiße Eulenfrau mit heller Haut und blondem Haar, die eine Gubbiwarlga wird, eine weise Frau, und sich schließlich in einen Quarzbrocken verwandelt. Ein Albinojunge, der in seiner Gemeinschaft durch ihm übel Gesinnte erst geächtet und schließlich verbannt wird. Als wir an die Stelle mit Steinen kommen, die von dem Albinojungen aufgestellt wurden, verschlägt es mir den Atem. In seiner Verbannung ließ er den Kopf nicht hängen, sondern arbeitete hart und mutete sich einiges zu. Überall sind massive, behauene und glatt geschliffene Felsbrocken zu sehen, die der Junge auf aufrecht stehenden Steinen platziert und ausbalanciert hat, zu losen Pulks gestapelt oder zu Prozessionen aufgereiht. An dieser gewaltigen Stätte, zu der auch ein die Jahreszeiten und die Bewegungen der Himmelskörper anzeigender Sonnenuhrkalender gehört, stehen mehr Steine, als uns-zwei zählen können. Es ist mir unverständlich, warum ich bislang noch nie von diesem Ort gehört habe, warum er nicht so berühmt ist wie Stonehenge. Als ich meine Hand auf einen der Steine lege, spüre ich ein tiefes duum aus ihm aufsteigen, das, aus dem Boden kommend, durch meine Schulter bis hinunter in meine Eingeweide nachdröhnt, und denke, damit eine Antwort auf meine Frage erhalten zu haben. Dies ist keine archäologische Stätte, an der Grabungen und Forschungen vorgenommen werden. Der Ort ist immer noch bewohnt. Der Junge ist nach wie vor da, und er wird keinen Wert auf uneingeladene Besucher legen. Der Ort ist kein Monument. Er lebt. Jeder Stein ist lebendig, ein fühlendes Wesen – in unserer Weltsicht gilt dies freilich für alle Steine. Weit weg von hier gibt es eine geheime Höhle, auf deren Boden eine Miniaturreplik dieser Stätte nachgebaut ist. Menschen, die wissen, wie man mit den Steinen dort umgeht, können angeblich in der Zeit eines Wimpernschlags zwischen den beiden Stätten hin- und herreisen. Zudem stehen die beiden Orte mit Steinformationen auf dem ganzen Kontinent in Verbindung. Später, während der Tagundnachtgleiche, stehe ich am Wurdi Youang in Victoria: eine C-förmige Steinformation, die die Bewegung der Sonne im Laufe des Jahres nachzeichnet. Ich schaue von dem hangabwärts liegenden Aussichtsstein zu, wie die Sonne am höchsten Punkt der Formationen hinter einem Zeigerstein untergeht, wie der Mond genau hinter mir aufgeht und sich Venus, Jupiter, Saturn und Mars entlang derselben Achse reihen. Es geht hier nicht nur um den Augenblick, an dem die Himmelskörper eine ordentliche Schlange bilden, sondern auch um Tausende verschiedene Geschichten, die zusammenlaufen, sowie um das Muster, das sie in einem Dialog zwischen Erde und Himmel und mir kreieren. Die Art, in der eine Person diese Geschichten kennt, ist subjektiv – wie sie zu dieser Zeit und an diesem Ort von dieser Person gewusst werden, stellt einen einzigartigen Blickpunkt dar, der heilig ist, eine Kommunikation zwischen dem Erdcamp und dem Himmelscamp, zwischen den Menschen und einem fühlenden Kosmos. Uns-zwei sind beide zugegen, aber wir sehen verschiedene Geschichten. Die über mir fliegenden Vögel sind in diesem Augenblick Teil des Schöpfungsgesangs. Ein Satellit. Ein Flugzeug. Im Norden zwei Wolken, die sich wie Schlangen in seltsamen Spiralen ringeln. Wir nennen das »Etwas«, ein Zeichen oder eine Botschaft von unseren Ahnen. Ich denke an die Zwei-Schlangen-Geschichte und wo ich sie zum ersten Mal gehört habe, als ich von Gundabooka im Nordwesten von North South Wales an die Küste reiste. Über mir sehe ich Mars und Venus und kenne sie als die Augen des Schöpfers, der in vielen Gebieten im Süden tagsüber durch die Augen des Adlers und nachts durch diese Planeten sieht. Nahe der Grenze zwischen New South Wales und Queensland werden regelmäßig Zeremonien abgehalten. Dorthin bringen Murris roten Opal aus Quilpie und blauen Opal aus Lightning Ridge, einen aus dem Norden und einen aus dem Süden, um Mars und Venus als Augen des Schöpfers zu vereinen. Daran denke ich und an die Stelle weiter südlich, in der Nähe von Walgett, wo die Adleraugen zwei tiefe Löcher im Fels sind. Ich denke an die totemistische Beziehung, in der meine Frau zum Adler steht, und wie sie diese Verbindung verkörpert. Dieses Netz aus Verbindungen zwischen Gemeinschaften auf der Erde und dem Land im Himmel erweitere ich Zug um Zug. Lebende Felsen gibt es dort oben wie hier unten, und die dunklen Gebiete zwischen den Sternen sind kein Vakuum, sondern festes Land, das Masse besitzt und empfindungsfähig ist und in dem sich Orte und Zeiten auf der Erde widerspiegeln. Ich erkenne das Muster – bis zu dem Moment, da ich es aufzuschreiben versuche und es sich in Rauch auflöst. Oberflächlich betrachtet ist das alles von geringem Nutzen. Wir können uns sagen: »Seht doch, wir sind schon seit Tausenden von Jahren Astronomen, das heißt, unser Wissen ist etwas wert. Und ihr, ihr Bastarde, habt alles kaputt gemacht.« Aber welches Wissen haben wir sonst noch zu bieten, das in Sachen Nachhaltigkeit und anderen komplexen Fragen erhellend wäre? Juma Fejo sagt, dass in der Schöpfung alles mit der Traumzeit verbunden sei, sogar Scheibenwischer und Mobiltelefone, warum aber sollte dann unser Schöpfungswissen als Artefakt in der Zeit eingefroren werden? Steine auf der Erde und im Himmel, all diese Geschichten und ihre Verbindungen haben uns mehr mitzuteilen als die bloße Tatsache, dass sie bereits soundso viele Jahrtausende existieren. Sie können uns sagen, wie wir mit den Komplikationen und der Zerbrechlichkeit menschlicher Gesellschaften verfahren sollen, wie wir zerstörerische Exzesse in diesen Systemen eingrenzen und vor allem wie wir mit Idioten umgehen sollen. Um dieses Wissen aufzuspüren, müssen wir praktisch vorgehen. Versuchen wir es vielleicht mit einem Sand Talk und betrachten zunächst eines von Oldman Jumas Symbolen. Die beiden Symbole innerhalb des Hexagons haben unterschiedliche Bedeutungen, die über ihre heutige mathematische Bedeutung hinausgehen. Getrennt betrachtet, handelt es sich jeweils um ein Zeichen für Beuteltiere (<) und eines für Vögel (>) als verschiedene totemistische Kategorien für Fleisch. Die Zeichen erklären sich aus der Richtung, in der diese Tiere am Knie ihre Beine abwinkeln. Zusammengenommen (<>) stehen sie für die beiden einzigen auf dem Kontinent heimischen Plazentatiere, Menschen und Dingos. Sie ergeben eine Form, die die Heiratsregeln in einem Verwandtschaftssystem aufzeigt; aus einem anderen Winkel gesehen, können sie als Zeichen für die Angelegenheiten der Männer gelesen werden. Sie zeigen zudem einen Einschlagpunkt, einen Schöpfungsmoment im Zusammenhang mit dem Sternbild des Orion (der immer und überall auf der Welt ein Jäger oder Krieger ist), einen Urknall, der aus einem Kampf zwischen dem Ameisenigel und der Schildkröte hervorgegangen war. Das traumatische Ereignis führte dazu, dass sich das Erdcamp und das Himmelscamp trennten und das Universum sich in tiefen Zyklen auszudehnen und wieder zusammenzuziehen begann wie ein Atmen und in einem Muster, das allem Gestalt gab. Das Muster des Urknalls, dieses anfänglichen Einschlagpunkts, tritt nicht nur in der gewaltigen Größenordnung des Universums auf, sondern wiederholt sich unendlich in all dessen Ländern und Teilen. Auf diesen Einschlagpunkt, der häufig mit einem Stein im Zentrum von Ort und Geschichte bezeichnet wird, beziehen sich zahlreiche Schöpfungsgeschichten. Uluru ist der Stein im Zentrum der diesem Kontinent innewohnenden Geschichte, ein Muster, das sich in den miteinander verknüpften und unterschiedlichen Geschichten vieler kleinerer Gebiete wiederholt, sich in unseren Körpern am Nabel und dann in immer kleineren Teilen bis hinunter auf die Quantenebene unserer Kosmologie reflektiert findet. In dieser Form des Wissens gibt es keinen Unterschied zwischen einem selbst, einem Stein, einem Baum oder einer Verkehrsampel. All diese Elemente enthalten Wissen, Erzählung, Muster. Wenn wir uns auf diese Erzählung einlassen, wenn wir das Muster erkennen wollen, müssen wir uns zunächst der Untersuchung von Gesteinen widmen. Die Aussage »Granit ist ein kristalliner, aus Quarz, Glimmer und Feldspat bestehender Mix magmatischen Ursprungs« wäre dabei kaum hilfreich. Ebenso wenig hilfreich wäre es, mit einem Batikhemd angetan, Felsen zu umarmen und sie zu bitten, ihre Geheimnisse auszuplaudern, indem sie mit uns über...