E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Zeuch Menschen wie ich du er sie es
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-6104-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geschichten mit und ohne Kopf
E-Book, Deutsch, 166 Seiten
ISBN: 978-3-7583-6104-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit humorvoller Leichtigkeit schreibt Christa Zeuch durchaus tiefsinnig über Menschen wie ich du er sie es. Während ihrer 35 Berufsjahre als Kinder- und Jugendbuchautorin wurde sie zu unzähligen Lesereisen eingeladen. Dabei traf sie höchst unterschiedliche kleine und große Menschen, mit denen sie heitere, kuriose, aufregende, beeindruckende und auf jeden Fall erzählenswerte Situationen erlebte. Neben frei Erfundenem lässt sie ebenso in selbst Erfahrenes blicken. Wie man allerdings weiß, erweist sich Erinnertes gern als löchriger Strumpf, den die Fantasie zu reparieren oder weiter zu stricken sucht. Doch in jedem ihrer Texte stecken Ursprung und Kern einer wahren Begegnung oder eines ganz persönlichen Anliegens.
Christa Zeuch Seit 1984 sind von ihr über 60 teils ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher in bekannten Verlagen erschienen (Anrich, Arena, Carlsen, Oetinger, ArsEdition, Elefanten-Press/Bertelsmann, Ravensburger). In den letzten Jahren hat sie sich mit ihren Veröffentlichungen der Edition Gegenwind angeschlossen, einer Gemeinschaft anerkannter Autorinnen und Autoren, Illustratoren und Illustratorinnen, die der Schriftsteller Ulrich Karger ins Leben gerufen hat. Ihr Gesamtwerk umfasst ebenso eine umfangreiche Sammlung Kinderlieder und -gedichte. Ganz nebenbei entstehen lyrische Texte sowie Kurzgeschichten für Erwachsene. In den 28 Storys dieses Buches führt uns die Autorin zu fiktiven sowie real erlebten Schauplätzen mit sehr unterschiedlichen Menschenbildern. Mit ihrem Mann lebt sie in einem Dorf nahe Eckernförde an der Ostsee und freut sich stets über Besuch ihrer großen Familie. Sie ist Mutter von zwei, Großmutter von vier und Urgroßmutter von bisher fünf Kindern.
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Das eine Leben
Nicht zu wissen, mit welcher Art Menschen ich im selben Hausaufgang lebe, erscheint mir unvereinbar mit meinem Bedürfnis, mich als friedliebende Nachbarin in eine ebensolche Nachbarschaft zu integrieren. Um etwas an der Anonymität meines Hinterhauswohnens zu ändern, werde ich mir ein Herz fassen und den Klingelknopf im Parterre drücken. Ich könnte den alten Herrn ja einfach mal fragen, ob ich ihm etwas aus der Stadt mitbringen soll. Aber das wird nicht meine einzige Frage bleiben, denn ich fange an, mich für ihn zu interessieren. Oder eher für etwas, das er kurz an-, nicht aber ausgesprochen hat. Was es damit auf sich hat? Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich bin Alleinbewohnerin der Mittelwohnung im ersten Stock des Hinterhauses Moosbachstraße 7, zu dem ich durch den Flur des Vorderhauses und eine missratene Grünanlage im Zwischenhof gelange. Wer zu mir will, klingelt bei A. Schüller. Eine bröckelnde, efeubewachsene Backsteinmauer trennt die linke Hofseite vom Städtischen Kindergarten, die rechte grenzt an ein Freiluftlager für Kistentürme leerer Bier- und Wasserflaschen. Der großflächige Hofkindergarten bietet, da dort kein Hinterhaus Platz wegnimmt, etwa achtzig kleinen Kraftbotzen genügend Freiraum zum Toben und Schreien. Auf der anderen Seite wird mir, bevor ich aufstehen muss, eine Kakophonie unerwünschter Morgenmusik zugemutet. Früh um sieben geht das Scheppern leerer Flaschen los, dazu das Gedonner der zum Abtransport auf Lastwagen gewuchteten Kisten. Die Geräuschkulisse von beiden Hofseiten könnte extremer kaum sein. Doch wenn ich auch wegen des Lärms oft für geschlossene Fenster sorgen muss – missen möchte ich mein Hinterhofdomizil nicht! Etwa achtzig Personen leben in Vorder- und Hinterhaus, junge, alte, weibliche, männliche, diverse, tätowierte, kopfbetuchte, manche mit farbiger, andere mit heller Haut. Leider treffe ich selten jemanden aus den Nachbarwohnungen. Wie Geister huschen sie früh zu ihren Brotverdienplätzen, für mich unsichtbar, weil mein Berufstag erst um zehn Uhr an der Ladenkasse der Boutique Jordan beginnt, ganz hinten am Ende der Moosbachstraße. Bis jetzt kenne ich die Wenigsten, wobei Kennen nicht über kurzes gegenseitiges Erkennen hinausgeht. Die Kinder springen meist grußlos die Stufen rauf oder runter, andere Hausbewohner drücken sich an mir vorbei und murmeln, wenn’s hoch kommt, Tach. Was ich betont freundlich erwidere. Anfangs habe ich es mit Hallo, Moin oder Tachchen versucht, wobei es meinem Sprachgefühl am ehesten entspricht, einen guten Tag zu wünschen. Inzwischen steigere ich mein Bemühen um Kontaktaufnahme, indem ich hinzufüge: Ein wirklich schöner Tag heute, was? Oder: Ziemliches Mistwetter, aber zum Glück gibt es ja Schirme. Damit kann ich nichts falsch machen. So kommt es, dass ich neuerdings jeden anspreche, der mir als dem Haus Zugehöriger verdächtig erscheint. Erstaunlicherweise ist es am heutigen Dienstag bereits die dritte Begegnung, und mit dem Mut, eine etwas familiärere Hinterhausgemeinschaft entstehen zu lassen, frage ich die junge Frau mit dem kurzen roten Rock und den ganzarmigen Rosen-Tattoos: „Hallo, na wie geht’s?“ „Ganz okay.“ Husch ist sie treppab verschwunden. Doch der Zufall beschert mir, kaum dass ich das Haus verlassen will, in der Eingangstür eine Frau, einen Mann und zwei ihrer Ableger. Damit mir keiner auf die Füße trampelt, trete ich einen Schritt zurück. „Guten Tag, ich bin Andrea Schüller. Sagen Sie, wohnen Sie nicht direkt über mir? Ich meine im zweiten Stock?“ Das hätte ich nicht zu fragen brauchen, über meinem Schlafzimmer scheinen die Kinder für Fußballturniere zu trainieren. „Wieso, is was?“, reagiert der Kindsvater. „Nein, nein, überhaupt nichts. Ich dachte es mir nur, ich höre mitunter die Kinder über mir.“ „Haben Sie was gegen Kinder?“ „Das wollte ich damit nicht gesagt haben.“ „Dann is ja gut.“ Diese Begegnung erweist sich gesprächsmäßig als unergiebig, schon gar nicht Nachbarschaft fördernd. Aber ich bleibe auf der Lauer und erwische eine ältere Dame mit Mischlingshund sowie einen etwa fünfzehnjährigen Jungen, der sie begleitet. „Guten Tag, geht’s gut?“ „Man lebt.“ Sie sieht mich nicht an, ist mit dem Hund beschäftigt, den sie mit einem Fuß in den Hof zu schieben versucht, wogegen er sich doof glotzend sträubt. Der Junge fragt unverhohlen: „Wieso woll’n Sie das von meiner Oma wissen?“ Wieder ein verfehlter Treffer. Dann! öffnet sich im Parterre eine Wohnungstür, aus der ein älterer Herr tritt, den ich bisher nur wenige Male zu Gesicht bekommen habe. Gewissenhaft schließt er sie ab, hängt sich einen Regenschirm in die Armbeuge, dreht sich um und gewahrt mich, die ich im Hausflur vor den Briefkästen lungere. Er nickt mir knapp zu, müht sich etwas gehbehindert fünf Treppenstufen runter. Zückt einen kleinen Schlüssel und entnimmt seinem Briefkasten eine Postnachricht. Schließt gewissenhaft wieder zu. Sein Gesicht legt sich in Unmutfalten, was sich anscheinend auf den Absender des Briefs bezieht. „Guten Tag. Alles in Ordnung?“ Er scheint mich erst jetzt als menschliches und somit lebendiges Wesen wahrzunehmen, schüttelt den Kopf, wobei er vage mit dem Poststück wedelt. „Oje, sieht nach ’ner schlechten Nachricht aus“, sage ich mitfühlend. „Wird sich raus stellen.“ Der alte Herr steckt den Umschlag in seine Jackentasche, geht an mir vorbei und wendet sich dem Hof zu. Ich bin sofort verstummt mit dem Gefühl, unsensibel in seine Privatsphäre eingegriffen zu haben. Er dreht sich aber noch einmal um und wirft mir einen Blick zu, als wüsste er über die ganze Welt Bescheid und ich so wenig wie ein Neugeborenes. „Tja, das eine Leben. Oder glauben Sie, wir kriegen ein zweites?“ Das ist starker Tobak für ein gerade entstehendes nachbarschaftliches Hinterhauskennenlernen. Über eine Antwort zu solch einer Frage habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, geschweige denn sie mir überhaupt gestellt. Im selben Moment geht mir auf, dass ein zweites Leben wohl kaum zu haben ist, außer ich werfe alle bisherigen Lebenserfahrungen und meine daraus resultierende Weltanschauung über den Haufen. Ich stehe noch immer vor den Briefkästen, die in Reih und Glied sämtliche Parteien des Hinterhofhauses vertreten, und lese sein Namensschild: Rokowski. Herr Rokowski also, soeben durch die Tür zum Innenhof entschwunden, hinterlässt mir eine lebenswichtige, philosophische, wenn nicht spirituelle Fragestellung, nämlich die, ob ich mir ein zweites Leben, ganz allein für mich, vorstellen könnte. Kann ich nicht, was ich bedaure, denn ich weiß, andere Menschen glauben an eine Chance, im nächsten Leben Wesentlicheres, Sinnvolleres zustande zu bringen, etwas, das ihnen ihr derzeitiges Erdenleben bisher vorenthalten hat. Eins steht für mich sofort fest: Ich muss Herrn Rokowski noch einmal sprechen. Das kann er doch nicht einfach so daher sagen: Oder glauben Sie, wir kriegen ein zweites … Ich werde ihm auflauern, auf der untersten Stufe sitzend. Der Erfolg erfüllt sich nach einer halben Stunde. Mit einem ausgebeulten, vollen Einkaufsbeutel kehrt er zurück, den Schirm hat er irgendwo stehen lassen. „Ach, Sie sind das wieder.“ „Ich habe auf Sie gewartet. Mich interessiert, was Sie meinen mit: das eine Leben.“ Er setzt seine Stofftasche auf einer Treppenstufe ab und legt den Kopf schräg. „Was denken Sie denn?“ „Ich nehme an, dass wir keine Zeit verplempern sollten mit allem, was wir vorhaben. Dass wir uns beeilen müssen, um nichts zu versäumen. Wo wir doch bloß das eine Leben haben.“ „Nicht schlecht“, sagt Herr Rokowski. „Aber beeilen trifft es nicht. Wir müssen im Gegenteil uns verlangsamen. Der Zeit Zeit lassen. Ist genug von da, konstant und verlässlich. Nur das Beste und Wichtigste reinpacken, den Rest mit Muße genießen. Und wenn’s geht, nicht so viel jammern und andern die Schuld geben für das, was wir selber nicht hinkriegen.“ „Und wer sagt uns, was das Wichtigste und Beste ist?“ „Unser Verstand. Augen, Ohren, Gefühle und so weiter. Gibt leider einen Haufen Strohköpfe, die sie nicht benutzen. Wie heißen Sie überhaupt?“ „Andrea Schüller.“ „Sie könnten mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht, meine Tasche mal die Stufen rauf tragen.“ Nachdem ich Herrn Rokowski vor seiner Wohnung verabschiedet habe, steige ich hinauf in meine. Das eine Leben … Ich denke an meins. Würde ich es wünschenswert finden, ein zweites in Aussicht zu haben? Sogar ein drittes, das ich eigenständig...