E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Zima Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne: Nostalgie als Kritik
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-381-12703-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-381-12703-0
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ausgehend von der Überlegung, dass die wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie (W. Benjamin, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse und J. Habermas) der sog. Frankfurter Schule im Bildungsbürgertum der liberalen Ära aufgewachsen sind, wird gezeigt, dass ihre Gesellschaftskritik von den Prämissen und Wertungen des liberalen Individualismus ausgeht. In diesem Kontext ist die Ambivalenz ihrer Kritik sowie Adornos und Horkheimers Satz aus der Dialektik der Aufklärung zu verstehen: 'Nicht um der Konservierung der Vergangenheit, sondern um der Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun.' Der nostalgische Ton, der in diesem Satz anklingt, durchzieht nahezu alle Werke der Frankfurter Philosophen. Obwohl postmoderne Autoren wie Z. Bauman, J.-F. Lyotard, M. Maffesoli und J. Baudrillard in mancher Hinsicht an die Kritische Theorie anknüpfen, verabschieden sie die aus dem liberalen Individualismus stammenden Wertsetzungen.
Prof. emeritus Dr. Peter V. Zima lehrte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist seit 1998 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London und seit 2014 Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai.
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2. Fortschritt und Nostalgie in Philosophie und Soziologie: „Die Furie des Verschwindens“
Die Wechselbeziehung zwischen nostalgischer Aufwertung der Vergangenheit und revolutionärer Gesinnung ist nicht nur ein Merkmal der Kritischen Theorie und einiger spätmoderner Soziologien (Tönnies, Simmel, A. Weber, M. Weber). Sie kann bei Rousseau und sogar bei Karl Marx beobachtet werden. Sie ist eine Reaktion auf das, was Hegel als „die Furie des Verschwindens“ bezeichnet, die als rächende Göttin (im alten Griechenland auch Erynnie genannt) das Gute mit dem Schlechten, das Wertvolle mit dem Wertlosen und das Humane mit dem Inhumanen verschwinden lässt. Sie scheint den Fortschritt zu bewegen, lässt sich dabei aber weder von der Güte noch vom Bösen leiten, sondern beseitigt wahllos Gutes und Schlechtes, um es durch etwas Neues zu ersetzen, das ebenso ambivalent ist wie das Alte. Sie folgt dem abstrakten Prinzip der Innovation, das sowohl Gutes als auch Schlechtes hervorbringt. Zu den bekanntesten Fortschrittsskeptikern gehört wohl Jean-Jacques Rousseau, der sich an einem längst vergangenen und – wie er selbst einräumt – mythischen Naturzustand orientierte, der ihm als Hauptkriterium für die Beurteilung frühmoderner Verhältnisse im 18. Jahrhundert diente. Er gibt zu, dass dieser Zustand „vielleicht nie existierte und wahrscheinlich auch nie existieren wird“: „un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais […].“ Die Syntax verrät jedoch, dass es sich um einen hypothetischen Zustand handelt, welcher der Vergangenheit angehört. An ihm wird eine Gegenwart gemessen, die Rousseau eindeutig als Verschlechterung erscheint. Während der Mensch im Naturzustand seine Einsamkeit genoss und von einer naiven Selbstliebe (amour de soi) erfüllt war, wird er in der urbanen, auf dem Privateigentum, der sozialen Ungleichheit und der Arbeitsteilung gründenden Zivilisation von einem (narzisstischen) amour propre beherrscht, der die Bewunderung aller Mitmenschen erheischt. Im Rahmen dieser Argumentation wird die Vergangenheit als einfaches Leben aufgewertet, und das Augenmerk wird auf all das gerichtet, was im Laufe der sozialen Evolution verloren ging, denn „die meisten Übel sind unser eigenes Verschulden, und wir hätten sie größtenteils vermeiden können, wenn wir uns das einfache, gleichmäßige und einsame Leben erhalten hätten, das die Natur vorschreibt“. Das Verb „erhalten“ („conserver“) ist Symptom eines Diskurses, der auf das verlorene Wohl ausgereichtet ist und schon aus diesem Grunde die aufgeklärte Moderne des 18. Jahrhunderts, die die Enzyklopädisten gegen Rousseau verteidigten, abwerten muss. Für die Moderne als Modernisierung steht metonymisch die Stadt: vor allem die Großstadt Paris, deren blühende Geldwirtschaft als Konkurrenzwirtschaft Rousseau ein Dorn im Auge ist. Das Landleben, vor allem das früherer Zeiten, erscheint ihm als Alternative. Dazu bemerkt Yves Vargas: „Der Wald evozierte die Vorstellung unschuldiger Wildheit, am anderen Ende der Skala stand die Stadt für korrumpierte Barbarei.“ Und er zitiert aus einer Antwort Rousseaus an de Bordes: „Mir wäre es lieber, die Menschen würden in den Feldern grasen, als sich in den Städten gegenseitig zu verschlingen.“ Die Aufwertung des Landlebens ist nicht neu. Sie findet sich schon in Vergils Georgica; sie wurde im Anschluss an Rousseau in der Romantik gesteigert und fand schließlich Eingang in Heftchenromane und Heimatfilme. Nicht auf sie kommt es hier an, sondern auf die Erkenntnis, dass sich Rousseaus Gesellschaftskritik an dem orientiert, was dem Fortschritt als „Furie des Verschwindens“ zum Opfer fiel. Sie hat auch der Hegel-Leser und Hegelianer Karl Marx vor Augen, wenn er die Fortschritte des Kapitalismus als von der Geldwirtschaft verursachte Verwüstungen sozialer Einrichtungen beschreibt. Freilich ist Marx nicht als Natur-Nostalgiker zu verstehen. Von Rousseau unterscheidet er sich grundsätzlich dadurch, dass er den Kapitalismus mit seiner Industrialisierung, Urbanisierung und Proletarisierung der arbeitenden Bevölkerung für ein notwendiges Zwischenstadium zwischen Feudalismus und Sozialismus sieht. Der Kapitalismus als Herrschaft eines die Gesellschaft säkularisierenden Bürgertums ist ihm Teil eines teleologisch (hegelianisch) konzipierten Emanzipationsprozesses, der in eine klassenlose Gesellschaft mündet oder münden soll. Und dennoch hat auch Marx ein Auge für das, was auf dem Weg in eine bessere Welt verloren geht, vom Fortschritt zerstört wird. So beschreibt er etwa die brutale Freisetzung von Bauern und Kirchenangehörigen für den kapitalistischen Arbeitsmarkt während der englischen Reformation mit folgenden Worten: „Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropriationsprozeß der Volksmasse im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Untersassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen.“ Selbst wenn man berücksichtigt, dass diese Passage Bestandteil eines Diskurses ist, der auf Revolution und Emanzipation zielt und den Kapitalismus als Phase des revolutionären Prozesses darstellt, wird man die negativen Konnotationen in Marx’ Darstellung nicht übersehen. Ausdrücke wie „gewaltsame[r] Expropriationsprozess“, „kolossale[r] Diebstahl“, „schleuderte […] ins Proletariat“, „raubsüchtige königliche Günstlinge“, „spekulierende Pächter“ zeugen eher von einem antikapitalistischen (moralischen) Affekt als von revolutionärer Euphorie, welche die Befreiung der Menschen aus feudalen Fesseln und die mit ihr einhergehende Stärkung des Proletariats feiern könnte. An Marx’ antifeudaler und antikapitalistischer Gesinnung ist nicht zu zweifeln. In der zitierten Passage ist jedoch bemerkenswert, dass sie sich nicht auf die Überwindung feudaler und kapitalistischer Verhältnisse konzentriert, sondern auf die verheerenden Zerstörungen, die der Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtet – auf das, was verloren geht: auf die verlorene Sicherheit in der feudalen (Kloster-) Gemeinschaft. Sollte sie nicht im sozialistischen Kollektiv aufgehoben und wiederbelebt werden? Eine Wiederbelebung der Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Beziehungen fasst jedenfalls der Marx-Leser und Marx-Kritiker Ferdinand Tönnies ins Auge, der in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft Arbeit und Arbeiterinteressen mit der Gemeinschaft, Kapital und Handel hingegen mit der negativ konnotierten Gesellschaft assoziiert. Anders als moderne Denker wie Marx, Herbert Spencer und Auguste Comte steht er als spätmoderner Soziologe und Zeitgenosse von Georg Simmel, Emile Durkheim, Alfred Weber und Max Weber (vgl. Kap. I) dem modernen Fortschrittsdenken („ordre et progrès“, Comte) skeptisch gegenüber. Im ersten Kapitel wird sich zeigen, dass die gesamte Spätmoderne, zu der auch die Kritische Theorie gehört, die Zuversicht der Moderne und vor allem deren Glauben an ein Fortschreiten der Gesellschaft zu stets höheren Stadien (vom theologischen zum metaphysischen und von diesem zum wissenschaftlichen Stadium im Sinne von Comte) nicht mehr teilt. Die Krisen des 19. Jahrhunderts schärfen den Blick ihrer Vertreter für den ambivalenten Charakter wissenschaftlich-technischer oder wirtschaftlicher Fortschritte und für das, was im Laufe der sozialen Evolution auf der Strecke bleibt. Dafür sind die folgenden Bemerkungen aus Tönnies’ Buch über Marx charakteristisch: „Die Klassenkämpfe, die Revolutionen, sind, wie Marx sie deutet, subjektive Ausdrücke solcher objektiven Widersprüche. Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten, daß sie im letzten Grunde unlösbar und unheilbar sind.“ Diese Bemerkungen sind für die Spätmoderne als selbstkritische Reflexion der Moderne charakteristisch....