Zimmermann | Der Amisbühl | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Zimmermann Der Amisbühl

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7296-2010-0
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



«Menschen, Zeiten, Landschaften. Diesem Dreiklang hört Katharina Zimmermann in ihrem neuen Buch zu, aufmerksam, gewissenhaft, liebevoll. ‹Der Amisbühl› ist eine Familiengeschichte, genauer: die Geschichte des Grossvaters mütterlicherseits der Autorin, seiner Angehörigen, seiner Umwelt, seines Alltags. Dieser Grossvater war Schullehrer auf dem Beatenberg. Zusammen mit seiner aus der Stadt stammenden Frau baut er das niedergebrannte Restaurant ‹Amisbühl› zum Hotel aus, ist erfolgreich damit – bis der Erste Weltkrieg ihn und die Seinen an den Rand desRuins bringt. Was folgt, sind Jahre der finanziellen Bedrängnis, sind auch Krankheit, Leiden, Tod. Kurz: Im kleinen Leben dieser Leute von Beatenberg spielt sich beispielhaft und beeindruckend ab, was seit je auch die Grundthematik der sogenannten grossen Leben ist.»
Charles Cornu
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Autoren/Hrsg.


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I – Siehst du ihn? – Wo? – Dort oben. – Über dem Wald? – Pass auf, ein Auto! In Bern fahren keine mehr. Doch hier gibt es Militärautos. Unterseen ist voller Soldaten. Ich schaue wieder hinauf. – Ein Hotel? – Ja, sagt meine Mutter, das ist der Amisbühl. Ich mag den Klang ihrer Stimme, wenn sie das Wort Amisbühl ausspricht. Eine Mischung aus Stolz und Heimweh schwingt mit, nein, kein Weh, eher Glück, eine Art Heimglück. Die kleine Episode und viele andere fallen mir ein, während ich in der Waldegg aus dem Postauto steige. Das Atmen macht mir wieder Mühe, besonders jetzt im Winter. Unter der Nebeldecke in Bern habe ich heute früh an den Beatenberg gedacht, bin hinauf gefahren, aber nicht bis vorn ins Dorf. ‹Vorne› war für meine Mutter immer eine andere Welt gewesen. Der echte Beatenberg lag hinten, in der Waldegg. Diese Sicht hat sie mir vererbt. Meine Beschwerden werden, wie schon oft, beim Aufstieg zum Amisbühl verschwinden. Jedenfalls wärmt hier die Sonne, und der Schnee blendet. Ich stapfe zum Weg, den unser Grossätti vor hundert Jahren für seine ausländischen Hotelgäste angelegt hatte. Er war gesäumt von Bäumen, die zur Sommersaison Schatten warfen auf die lustwandelnde Hautevolee aus ganz Europa. Grossätti Bänz hatte sie eigenhändig gepflanzt. Jetzt sind sie kahl, tragen aber schon Knospen. Ich bewundere diese Baumkraft, die Generationen von Menschen überdauert hat. Im Alter lebte Grossätti Bänz oft bei uns in Bern und half meinen Eltern, mich zu erziehen. Heute begreife ich sein Missfallen über die Enkelin, die sich jeweils mit einem Buch versteckte, statt ihre berufstätige Mutter zu entlasten. Er sorgte sich um seine Tochter. Die Anrede in seinem letzten Brief an sie lautet: Mein herzliebes Kind. Für sie und ihre drei Geschwister hat er nach dem frühen Tod seiner Frau gelebt. Ihm war das Helfen schon als Kind selbstverständlich gewesen. Drüben im Spirenwald wuchs er auf, in der Mitte der langen Beatenberg-Terrasse. Sein Ätti wirkte dort als Lehrer und sein Müeti, das Sundlauenen Änni, blieb etwas fremd auf dem Berg. Es war unten am See aufgewachsen, als einzige Tochter von Fischersleuten, die alt und älter wurden, und hätte ihnen helfen wollen, konnte aber nur selten von der Familie weg. Diese Sorge nahm ihm sein Ältester, der junge Bänz, ab. Sooft er konnte, ging er hinunter, den Grosseltern zu Hilfe. Ich bleibe stehen, suche zwischen den kahlen Alleebäumen auf der Terrasse drüben den Fitzligraben, jene Schlucht, die, von Tannen umsäumt, steil zum See hinabführt. Bänz, der Schulbub, mied den Zickzackweg, stieg lieber in den Fitzligraben, ins Bachbett, das nach einem Regen überschwemmt, jetzt aber trocken war, und kletterte an die Sundlauenen hinab. Seine Grosseltern versuchten eben, den schweren Kahn an Land zu ziehen, aber die Kräfte der beiden Alten reichten nicht aus. Und die Stange unter dem Dach war ihnen zu hoch geworden, die Fischnetze hingen noch nicht daran, sie lagen nass am Boden. Mit der Kraft eines Oberschülers legte sich Bänz ins Zeug, half – und machte sich dann in der Dämmerung durch den Graben wieder hinauf auf den Berg. Grossätti wanderte zeitlebens mühelos in den Bergen, machte, siebzigjährig, eine Fussreise allein von Saanen durch die ‹Hintere Gasse›, Trütlisbergpass, Hahnenmoos, Bonderchrinde, Hohtürli, Sefinenfurgge, Kleine und Grosse Scheidegg, bis Meiringen. Einmal nahm er mich auf eine Bergtour mit. Ausser einem Maggi-Suppenwürfel wurde kein Picknick eingepackt. Es war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Brot, Käse, Fleisch waren rationiert und reichten knapp für den Alltag. Grossätti band die verrusste Gamelle auf seinen Rucksack. Dann hiess es wandern, lang und mühsam, und immer wieder täuschte der Gipfel, erwies sich, war man oben, nur als Vorgipfel, endlos ging es weiter, immer Grossätti nach, der bedächtig Fuss vor Fuss setzte und keine Klagen zuliess. Gegen Mittag suchte er nach einem geeigneten Plätzchen in der Nähe eines Alpsees, holte Wasser, steckte zwei Gabelstecken ein, legte einen darüber und hängte die Gamelle daran. Ich hatte dürre Äste unter den Bergtannen gesammelt, er gab Meta-Tabletten dazu, und das Feuer begann zu züngeln. Dann warf er den Maggiwürfel ins kochende Wasser. Die Suppe schmeckte ausgezeichnet nach Rauch und Berg und Grossätti, der hier oben mit seiner schwarzen Pelerine und dem klobigen Bergstock zu Hause war. In der Stadt, in Bern, fiel Grossätti auf. Sah ich ihn zufällig auf dem Weg zu uns, genierte ich mich. Seine Pelerine – ein weiter Umhang, den keiner sonst trug –, der schwarze Hut, der weisse Stehkragen, die genagelten Bergschuhe, seine ganze Erscheinung hatte etwas gespenstisch Überaltertes. Er kam daher wie aus längst vergangener Zeit. Mitten in Grossättis Baumreihe steht die erste Tafel des Vita-Parcours, angelegt für die Bedürfnisse heutiger, auf Fitness bedachter Feriengäste. Darüber hätte sich nun der Vorfahre meiner Grossmama gefreut. – Das ist mein Urgrossvater, sagte meine Mutter, als sie mir, dem Kind, auf der Kleinen Schanze in Bern den Stein mit dem Kopf obendrauf zeigte. Dieser Kopf, hoch über mir, hatte etwas Bedrohliches. – Es ist der Turnvater Niggeler, fügte sie voll Stolz hinzu. Ich studierte am Wort Turnvater herum. – Niggeler war der Grossvater meiner Mama, erklärte sie, und wie immer, wenn sie von ihrer früh verstorbenen Mama sprach – unserer Grossmama Wilma, die wir Kinder nicht gekannt hatten –, horchte ich auf. Ihre Stimme wurde dann weich und traurig. Später wollte ich einmal nachschauen, ob die Büste meines Vorfahren noch am selben Ort stehe. Tatsächlich, da stand sie. Feuerrot. Der Bronzekopf unter dicker Farbschicht. Über der Inschrift auf dem Marmorsockel ‹Der schweizerische Turnverein seinem Turnvater› klebten eingetrocknete Farbtropfen. Die Jugend der 80er-Jahre hatte dem Turnpapa aus dem vorigen Jahrhundert, hinter dem sie nichts als militärischen Drill vermutete, eins ausgewischt. Hundert Jahre zuvor war das Denkmal für ihn eingeweiht worden. Bund und Kanton waren durch hohe Persönlichkeiten vertreten, und aus der ganzen Schweiz kamen Turner angereist und gaben dem unlängst Verstorbenen die Ehre. Niggeler hatte sich als junger Turnlehrer am Staatsseminar eingesetzt für Bewegung und Sport an den Schulen im Kanton Bern, wo die Kinder bis anhin nur still auf den Bänken zu sitzen, das Abc und Einmaleins zu lernen und fromme Sprüche von der Wandtafel abzuschreiben hatten. Doch die radikale Regierung, die seine Ansicht unterstützte, wurde abgewählt. Eine konservative kam ans Ruder, und Niggeler wurde – zusammen mit dem Seminardirektor – fristlos entlassen und erst nach Erfolgen in andern Kantonen zurück nach Bern berufen. Die junge Wilma stand mit ihren Eltern und Brüdern bei der Einweihung des Denkmals in der vordersten Reihe. Sie hatte sich die Stirnfransen mit der Brennschere gekräuselt und trug das neue Samtmieder mit den modischen Puffärmeln, war etwas zu leicht angezogen für den nebligen Tag. Während der Ansprachen segelten Blätter aus den Bäumen auf der Kleinen Schanze herab. Wilma hörte den Reden aufmerksam zu. Als Schülerin der Handelsschule konnte sie auch jenen aus der französischen Schweiz folgen. Der Lebenslauf ihres Grossvaters, den sie geliebt hatte, interessierte sie. Aber sie verstand nicht, warum er sich nur für die Buben eingesetzt hatte. Alle ihre Brüder trieben Sport. Jules, der älteste, der Medizin studierte, war ein guter Reiter. Sie hatte sich heimlich immer ein Pferd gewünscht, wobei sie nie an den Damensitz dachte, nein, in der Grätsche hätte sie reiten wollen, was leider unmöglich war mit den verflixten Bändern am Unterrock. Jeden Morgen machte sie in ihrem Zimmer die Kerze und den Purzelbaum auf dem Teppich vor dem Bett. Manchmal durfte sie mit einem der Brüder tanzen gehen. Mehr Bewegung war nicht möglich für das Mädchen aus einer Villa an der Erlachstrasse in Bern. Gut erhaltene Fotos zeigen die junge Wilma hübsch frisiert und geschmückt. Hochgestecktes Haar mit gekräuselten Stirnfransen, Ohrringe und eine Brosche unterhalb des Spitzenkragens. Sie hätte mich vermutlich nicht vor dem Spiegel gewarnt, so wie es Grossätti getan hat. Als Sechsjährige betrachtete ich mich oft und ausgiebig vor dem Spiegelschrank. Eines Tages überraschte mich Grossätti dabei. Was ich da mache, sei gefährlich, sagte er streng, das gebe rote Augen. Fortan mied ich die Spiegel, blickte selten ganz kurz hinein und sah gleich voll Schreck, wie sich meine Augen zu röten begannen. Im tiefen Schnee vor dem Brücklein auf Grossättis Weg bleibe ich wieder stehen und versuche, drüben, auf der Beatenberg-Terrasse, hinter...


Katharina Zimmermann
Geb. 1933 und aufgewachsen in Bern. Seminar Marzili, Musikakademie Detmold. 1964–79 Entwicklungsarbeit in Indonesien, Redaktorin bei Radio Kalimantan und einer indonesischen Frauenzeitschrift. Seit 1980 wieder in Bern.


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