E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Drachenerwachen
Zinck Drachenerwachen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7336-5093-3
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Drachenerwachen
ISBN: 978-3-7336-5093-3
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Valija Zinck wurde 1976 geboren, studierte zeitgenössischen Tanz und Improvisation und arbeitete zunächst als Choreographin und Lehrerin für kreativen Kinder- und Jugendtanz. Als sie selbst Kinder bekam, entdeckte sie das Schreiben fantastischer Abenteuerbücher für sich. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern und leider ganz ohne Tiere lebt sie in Berlin.
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25 Zu kurz
Es dauerte eine Weile, bis Johann Frau Tossilo klargemacht hatte, was es mit dem Raumen auf sich hatte.
»Es funktioniert ähnlich wie bei anderen Programmen: Markieren. Löschen. Einfügen«, erläuterte er. Und um das Ganze anschaulich zu machen, sprintete er kurzerhand in den neunten Stock hinauf und holte seinen Laptop.
Frau Tossilo nutzte die Chance und zog sich endlich an.
Wenig später war es dann so weit. Johann brachte den Rechner vor der Vitrine in Position. Er tippte. Plötzlich machte es Das kleine Kristalleinhorn war aus der Vitrine verschwunden.
»W-w-w«, machte Frau Tossilo.
Johann zog das Einhorn aus den Flusen des Teppichs heraus.
»Also doch zaubern!«, hauchte Frau Tossilo. »Ich sag es ja.« Sie streckte ihre Hand nach dem Einhorn aus, so als würde sie noch nicht ganz glauben, dass es sich dabei wirklich um ihres handelte.
Johann legte ihr die Figur in die Hände. Er zuckte mit den Schultern und grinste.
»Na ja, ein bisschen zaubern ist es vielleicht.« Dann sah er in den verhangenen Berliner Himmel hinauf und wieder auf seinen Laptop. Er schien etwas zu überlegen.
»Weshalb ploppt das so?«, unterbrach Kurmo Johanns Gedanken.
»Weil ein Vakuum, ein luftleerer Raum entsteht«, erklärte Johann sogleich eifrig. »Dort, wo das Einhorn stand, ist ja ganz plötzlich nichts mehr. Da beeilt sich also die ganze Luft drumherum hinzukommen. Und weil die Luft sich von allen Seiten gleichzeitig nähert, prallt sie in der Mitte aufeinander, und dann macht es .«
Kurmos silbrige Schwanzspitze ringelte sich um Frau Tossilos Gummibaum.
»Was ist, wenn du mich vom Himmel löschst? Nur löschst und nicht mehr hier ins Wohnzimmer einfügst? Wo bin ich dann? In deinem Rechending drin? Oder gibt es mich dann gar nicht mehr?«, fragte er und erschrak leicht, weil er versehentlich ein dickes Blatt abgezupft hatte.
Johann lächelte. »Es geht nur Löschen-und-Dort-sein gleichzeitig. Es gibt kein Dazwischen. Es gibt kein Nicht-Einfügen. Du wirst immer da sein. Keine Angst.« Kurmo wollte noch etwas erwidern, da machte Johann plötzlich einen Satz nach vorne, zurück zu seinem Laptop.
»Aber vielleicht könnte man …«, rief er, und seine Wangen wurden mit einem Mal rötlich, sein Unterkiefer zitterte, und seine Finger begannen über die Tastatur zu irren. Schnell und schneller. Ab und zu waren Wortfetzen wie »Speicherplatz unbegrenzt …«, »… wenn es ein Spiel wäre …« und »… Raumen ist heute, aber morgen …« zu hören. Dann wurde Johann still. Nur manchmal sog er hastig Luft ein.
»Den können wir erst mal vergessen«, stellte Janka nüchtern fest und pustete sich ein paar Haare aus der Stirn. Sie wusste ja, was passierte, wenn in Johann eine neue Computeridee explodierte und er sie verfolgte. Sie wusste, in welche Sphären er dann abtauchen konnte und vor allem, dass man ihn daraus nicht so leicht wieder zurückbrachte.
Aber eigentlich war es doch gerade um Kurmo gegangen. Eigentlich war es doch darum gegangen, wie er einen sicheren und unentdeckten Flug über die Stadt erleben konnte. Das musste doch jetzt erst mal organisiert werden. Da konnte man sich doch nicht einfach in die nächste Idee stürzen. Ein Glück, dass sie auch noch da war.
Janka vereinbarte also mit Kurmo und Frau Tossilo, dass noch heute Nacht der erste Flug stattfinden sollte. Bis zur Nacht hätte sich Johann bestimmt wieder beruhigt.
»Also«, wendete sie sich an den Drachen. »Jo und ich kommen um kurz vor zwei Uhr runter. Startbahn: Flauscheteppich, okay?«
Kurmo nickte, und Janka fuhr fort.
»Johann raumt dich um zwei Uhr raus, und du kannst zwei Stunden fliegen? Reicht dir das wohl?« Kurmo nickte wieder.
»Um vier Uhr musst du dich dann genau oberhalb des Fernsehturms befinden, über den Wolken natürlich, damit dich keiner sieht. Jo wird dann deine Koordinaten in den Computer eingeben und kann dich wieder hier hereinraumen. Kriegst du das hin? Ich meine, das mit der genauen Uhrzeit, dem Turm und so?«
»Natürlich bekomme ich das hin«, raunte Kurmo, und seine Schuppen zitterten leise vor Vorfreude.
Die Dämmerung kam. Auf den Kränen der Baustelle ließen sich Krähen nieder. Ehe sie die Schnäbel unter die Flügel steckten, blinzelten sie noch einmal zum Hochhaus hinüber. Es war mit erleuchteten Fenstern übersät. Je weiter der Abend vorrückte, erloschen diese Lichtrechtecke, eines nach dem anderen, bis das Haus schließlich komplett dunkel war. Die Krähen schliefen ein. So bemerkten sie nicht, dass sich mitten in der Nacht ein Fenster wieder erhellte. Die grässlichen Tüllgardinen waren zugezogen. Sie konnten nicht sehen, wie zwei aufgeregte Kinder und eine noch aufgeregtere Frau erschienen. Und ein silbrig schuppiges Geschöpf, das mit seinen Krallen in einem wuscheligen Teppich herumfuhrwerkte.
»Du musst jetzt mal stillhalten, Kurmo«, sagte Johann streng und begann zu tippen.
»Und lass doch bitte den Teppich los«, rief Frau Tossilo. »Nicht dass der noch mitgeraumt wird.«
»Ich wünsche dir viel Spaß«, flüsterte Janka und lächelte Kurmo an.
Der Drache legte den Kopf leicht in den Nacken und blinzelte den dreien zu.
Johann drückte auf . Noch im selben Moment schien die Luft Wellen zu schlagen. Es knallte. Nein, eher donnerte es. Der Flauscheteppich machte einen kleinen Satz, und dann war Kurmo verschwunden.
Die drei Zurückgebliebenen starrten auf den leeren Teppich. Bis Janka zur Besinnung kam, den Vorhang zur Seite riss und auf den Balkon stürmte. Johann und Frau Tossilo folgten ihr. Gebannt blickten sie in den nachttrüben Himmel empor. Dort war nichts zu sehen. Sie suchten den Häuserhorizont ab, schauten nach unten, aber nirgends war eine grausilberne Kreatur zu entdecken. Sehr gut. Wenn sie ihn nicht sehen konnten, sah ihn bestimmt auch niemand anderes.
Aber hoffentlich war alles gutgegangen. Hoffentlich war Kurmo heil über den Wolken angekommen.
Frau Tossilo schaute auf ihre Handyuhr. Es war immer noch zwei. Natürlich. Kurmo war ja auch eben erst verschwunden. Und trotzdem kam es ihr schon zu lange vor. Schließlich flog Kurmo jetzt ganz alleine durch die Welt. Weit weg von ihr. Um seine Nüstern wehte die Luft der Freiheit und … die Tür zum Wohnzimmer wurde geöffnet.
»Ich habe es mir anders vorgestellt«, brauste die schöne dunkle Stimme.
Janka, Johann und Frau Tossilo fuhren herum. Kurmo stand im Wohnzimmertürrahmen. Um seine Nüstern wehte lediglich die Luft aus Frau Tossilos Wohnung. »Ich habe gedacht, es gehe in die Wolken. Nicht in den Gang.«
»Oh.« Johann runzelte die Stirn. »Aber wieso?« Das Raumen hatte nicht geklappt. Jedenfalls nicht weit. Vielleicht habe ich ja etwas vergessen, dachte er und starrte auf den Rechner. Dann murmelte er: »Lass es uns doch einfach noch einmal versuchen, okay?«
Kurmo stellte sich also wieder auf den Flauscheteppich, und Johann konzentrierte sich noch mehr als beim ersten Mal. Er tippte jede Zahl, jedes Zeichen, jede Leerstelle mit Bedacht.
Wieder schlug die Luft Wellen. Wieder donnerte es. Wieder verschwand Kurmo. Und diesmal tauchte er auch nicht wieder auf dem Gang auf. Dafür aber hinter dem Gummibaum. Johann raufte sich die Haare und drückte erneut auf . Kurmo erschien neben dem Sofa wieder.
»Meine Damen und Herren, das Internet transportiert nicht nur Daten, es transportiert jetzt auch Masse«, rief Janka. »Ab jetzt können Sie einen kompletten Meter online zurücklegen und brauchen ihn nicht mehr selbst zu gehen. Gepriesen sei die Technik!«
»Halt die Klappe!«, zischte Johann. »Ich finde schon noch raus, woran es liegt und wie ich die Strecke hinbekomme!« Er ärgerte sich. Nicht nur darüber, dass das Raumen nicht wirklich funktionierte, sondern vor allem über sich selbst. Weshalb hatte er nie versucht, die Dinge weiter weg erscheinen zu lassen? Jankas Bettdeckenberg und das kleine Einhorn hatte er im selben Zimmer wieder auftauchen lassen. Und alles andere, mit dem er geübt hatte, ebenfalls. Er war einfach davon ausgegangen, dass er die Dinge problemlos auch weiter wegschicken konnte. Nein, eigentlich war er nicht davon ausgegangen, er hatte einfach gar nicht daran gedacht.
Wütend gab Johann ein weiteres Mal seine Berechnungen ein. Er ersetzte eine Null durch eine Eins und drückte auf . Kurmo verschwand und tauchte auf. Auf dem Kunstrasen des Balkons. Die kalte Berliner Nachtluft umschlang seinen Körper und strich lockend über die silbrigen Schuppen. Kurmo dachte nicht mehr daran, dass ihn vielleicht jemand würde sehen können. Zu stark entfachte die Luft seinen Freiheitsdrang. Mit einem Satz sprang er auf das Balkongeländer, stieß sich ab und schwang sich in den grauen Wolkendunst empor.
»Kurmo!«, rief Frau Tossilo ihm nach und stürzte nach draußen. »Kurmo!« Doch der Drache hörte sie nicht mehr. Zu weit war er schon gestiegen. Er flog höher und höher und schneller, und jeder Flügelschlag fächelte Glück durch seinen warmen Leib. Schon durchbrach er die Wolkendecke. Ein fast voller Mond begrüßte ihn. Weißsilbernes Licht überall und ferne Sterne, die zu lachen schienen. Kurmo bremste scharf und warf sich herum. Dann legte er die Flügel eng an den Körper und ließ sich wieder fallen. Die vorbeirasende Luft berauschte ihn. Jede Schuppe, jeder Muskel, jede einzelne Zelle vibrierte vor Lebendigkeit. Er breitete die Flügel wieder aus, fing den Sturzflug ab, stieg abermals und pustete seinen Drachenatem in die Nacht hinaus.
Später legte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Nur hin und wieder...