Zirfas / Jörissen Phänomenologien der Identität
2007
ISBN: 978-3-531-90676-8
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen
E-Book, Deutsch, 266 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-90676-8
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Grundidee des Buches besteht darin, strukturelle Dimensionen der Identitätsvorstellungen auf phänomenologische und anthropologische Sachverhalte zu beziehen, d.h. nicht die Frage nach der Identität zu stellen, sondern diejenigen Themenfelder zu rekonstruieren, die als konstitutiv für den Identitätsbegriff betrachtet werden müssen. Identität erscheint in diesem Sinne weniger als ein fest umrissenes Konzept oder Modell, sondern als ein phänomenologisches Prisma, ein problematisierendes Diskursfeld: Denn es sind die Schwierigkeiten des modernen Lebens, die es notwendig erscheinen lassen, auf den Gedanken der Identität zu rekurrieren.
Prof. Dr. Jörg Zirfas ist am Lehrstuhl für Pädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig.
Dr. Benjamin Jörissen arbeitet am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Zielgruppe
Research
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;I. Zur Aktualität und Geschichte eines Phänomens;7
2.1;1 Die Frage nach der Identität;7
2.2;2 Ein phänomenologischer Zugang;11
2.3;3 Das Ich in der Moderne;15
2.4;4 Identität als kulturhistorisches Phänomen;20
3;II. Bildung, Entwicklung und Sozialisation;48
3.1;5 Psychosoziale Entwicklungsgeschichten;48
3.2;6 Mimetische Identität(en);58
3.3;7 Pragmatische Identität;65
3.4;8 Bildung als Rückweg, Fiktion und Entfremdung der Identität;73
4;III. Körper, Geschlecht und Inszenierung;84
4.1;9 Der Hermaphrodit, der Homosexuelle und der Transsexuelle;84
4.2;10 Ritual und Performanz: Geständnis und Bekenntnis;93
4.3;11 Körperidentitätspolitik;101
4.4;12 Vom Image des ästhetischen Selbst und vom unscheinbaren Ich;112
5;IV. Zugehörigkeiten;122
5.1;13 Das Ich als Wir;122
5.2;14 Die Identität des Fremden und die Selbstfremdheit;132
5.3;15 Das übersetzte Selbst: Hybridität, Transkulturalität und Globalität;145
6;V. Medialitäten und Technologien;156
6.1;16 Selbstbilder, Fremdbilder und Bildstörungen;156
6.2;17 Biographische Identität: vom Konsistenzzwang zur narrativen Ästhetik des Selbst;165
6.3;18 Mediale, simulierte, virtuelle, reale Identität?;178
6.4;19 Identität im Gehirn;191
7;VI. Grenzgänge;203
7.1;20 Der Narziss, das menschliche Chamäleon und andere Persönlichkeiten;203
7.2;21 Von der existentiellen über die ethische zur dekonstruktiven Identität;217
7.3;22 Negative Identität und Unsagbarkeit;231
8;VII. Identität als Gleichheit, Ähnlichkeitsidentität oder Ähnlichkeit als Identitätsersatz;241
9;VIII. Literaturverzeichnis;251
Zur Aktualität und Geschichte eines Phänomens.- Bildung, Entwicklung und Sozialisation.- Körper, Geschlecht und Inszenierung.- Zugehörigkeiten.- Medialitäten und Technologien.- Grenzgänge.- Identität als Gleichheit, Ähnlichkeitsidentität oder Ähnlichkeit als Identitätsersatz.
IV. Zugehörigkeiten (S. 123-124)
13 Das Ich als Wir
„Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist." Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes Wenn es in jüngster Zeit eine Denkrichtung gab, die den fundamentalen Zusammenhang von Identität und Gemeinschaftlichkeit behauptet hat, so war dies der Kommunitarismus.1 Die Debatte um den Kommunitarismus hat u.a. deutlich gemacht, dass die Frage nach den sozialen und moralischen Motiven und Bindungen, die als hinreichend und notwendig angenommen werden müssen, um die freiheitsverbürgenden, liberalen Institutionen überhaupt am Leben erhalten zu können, nicht letztlich gelöst scheint, motivational betrachtet scheint sicher zu sein, dass die Bürger eines Gemeinwesens die bzw. ihre Institutionen als ein kollektives Gut zu schätzen wissen müssen, so dass sie das Maß einer bloß individuellen Orientierung auf das gemeinsame Gut hin zu einer kollektiven Identität überschreiten können. So lässt sich auf den ersten Blick der Kommunitarismus als Theorie zusammenfassen, die das richtige gemeinschaftliche Leben im falschen gesellschaftlichen wiederentdeckt zu haben glaubt.
Das richtige Leben ist für ihn das Leben in und für die Gemeinschaft, mit einer Vielzahl an gemeinsam geteilten Ge- und Verboten, einem System moralischer Werte und gemeinsamer Lebenserfahrungen. Diese sollen zugleich Grund und Ausdruck von „Herzensgewohnheiten" (Bellah) der einzelnen sein und zum anderen die für die soziale Praxis und die sozialen Probleme notwendigen Handlungsmaximen und Tugenden formulieren, nämlich Gemeinsinn, Solidarität, Mitmenschlichkeit und Verantwortungsbereitschaft, mit einem Wort: Wir-Gefühle, die zu einem unmittelba ren gemeinsamen Denken und Handeln und zu einer tief empfundenen kollektiven Identität führen.2 Aus der Sicht des Kommunitarismus ist das falsche Leben jener moderne Liberalismus, der die Rechte aus der Sicht der Individuen so forciert hat, dass daraus eine Gesellschaft von zynischen Subjekten wurde, die auf der Basis von utilitaristischen Kosten-Nutzen-Analysen permanent Rechte gegenüber der Gesellschaft geltend machen, während sie die sozialen und moralischen Pflichten dem Staat überantworten. Das heißt: Aus der Sicht des Kommunitarismus hat der Liberale vor allem eines: Ich-Gefühle.
Die Folgen dieses Liberalismus beschreibt der Kommunitarismus wie folgt: auf Seiten der Individuen konstatiert er Konsumorientierung, verantwortungslosen Hedonismus, Habgier und pflichtvergessenes Anspruchsdenken, auf Seiten der Gesellschaft Separatismus, Gleichgültigkeit, Kälte und moralischen Pluralismus, kurz, den bellum omnium contra omnes, der wiederum zu exzessiver Gewalt, Beliebigkeit im Umgang mit der Sexualität und zu Unsicherheiten in Fragen der Moral, der Erziehung und des sozialen Miteinander führt. Der Kommunitarismus lässt sich mithin als eine Theorie moderner liberaler Gesellschaften begreifen, die zunächst die isolierten und autonomen Individuen auf die Problematik schwindender politischer, sozialer und moralischer Bindungen aufmerksam macht.
Zum zweiten sollen dann über den Appell an die soziale Verantwortlichkeit der einzelnen und ihre Zivilcourage sowie über die Reorganisation pädagogischer Institutionen die civil virtues rekonstruiert und reetabliert werden, was dann drittens die Bedingung dafür wäre, dass sich die einzelnen wieder mit der Gemeinschaft identifizieren bzw. identifizieren können bzw. sollen (Zirfas 1999). Kurz: Der Kommunitarismus ist in vielen seiner Ansätze eine anamnetische Theorie, die die Einzelnen auf ihre fundamentale Verbindung in diversen Gemeinschaften aufmerksam macht und die Identität dieser Einzelnen nicht anders als genuin kollektiv denken kann. Daher erscheint er gelegentlich als eine strikt rückwartsgewandte, romantische Idealisierung von Gemeinschaft, die mit den zukunftsorientierten, dynamischen Entwürfen moderner Gesellschaften nicht Schritt halten kann und auch nicht will.