Zoderer | Der Himmel über Meran | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Zoderer Der Himmel über Meran

Erzählungen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7667-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7667-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Südtiroler Joseph Zoderer hat einem ganzen Land seine Stimme gegeben, eine Stimme voller Zuneigung, voller Kraft, aber immer auch kritisch, provozierend und unbequem. Der Himmel über Meran zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Könnens.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).
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Wir gingen


Mein Bruder wurde in Lackschuhen von den Onkeln und der Tante zum Zug gebracht, mit dem wir wegfuhren, und in diesen schwarzen Lackschuhen, die er immer an den Füßen der eleganten Kurgäste bewundert hatte, fror er, als wir über die Grenze, über den Brennerpaß, »heim ins Reich« gebracht wurden.

Wir waren die Kinder eines ehemaligen Hotelhausmeisters, also Hotelschuhputzers und später dann entlassenen Hilfskurgärtners.

Wir waren die Dummen, die glaubten, das Richtige zu machen, weil die meisten um uns herum im Lande so redeten. Und aus einigen von diesen wurden später auch gut funktionierende Henker oder vaterlandsliebende Mörder.

Ich höre meinen Vater schreien: Ich hab einen Bock geschossen! Ich weiß nicht, warum dieser Satz in meinem Kopf zurückblieb, einer von den wenigen Sätzen meines Vaters, an die ich mich erinnere. Ich höre meinen Vater aufschreien und höre diesen Satz und sehe eine braune Kommode mit Schubläden, sehe meinen Vater und dieses Möbelstück, das nichts mit diesem Satz zu tun haben konnte, sehe keine Zimmerwand und keinen anderen Gegenstand, sehe auch keine andere Person, obwohl wahrscheinlich andere Personen – meine Mutter, meine Geschwister – Vaters Publikum gewesen sein müssen, denn mir Vierjährigem wird er diesen Satz nicht entgegengebrüllt haben, und ich kann mich nur an diese gebrüllten Worte erinnern, an keine Gesichter, nicht an das Gesicht einer Schwester oder des Bruders, nicht an das Gesicht meiner Mutter, auch an keinen anderen Satz, der von meinem Vater oder jemand anderem noch gesagt worden wäre. Ich hab einen Bock geschossen: Diesen Satz trug ich mit mir durch das Leben, ohne mich die längste Zeit nach seinem Sinn zu fragen. Er beschwerte mich nicht, dieser Satz, eigenartigerweise vergaß ich ihn aber auch nicht. Irgendeinmal als Erwachsener verstand ich ihn, ging mir der Sinn dieses Satzes auf, mein Vater war ja nie ein Jäger gewesen, und wenn er einen Bock geschossen hatte, so meinte er damit einen schweren Irrtum, der ihm passiert war, in den er mit uns hineingerannt war: die Option für Deutschland.

Mein Bruder erzählte mir Jahrzehnte später, wie sehr der Vater diese Entscheidung bereut habe, wie groß die Enttäuschung gewesen sei, wie unglücklich der Vater und die Mutter in der Fremde, in der damaligen Ostmark des Reiches, in Graz gewesen seien.

Ich habe immer geglaubt, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Bevor mir einer der vielen Bombenangriffe einfällt, erinnere ich mich der verstaubten Brennesseln am Flußufer der Mur, die den Sommer heiß und alt machten. Nie gingen wir in diesen Fluß baden, das kalte Wasser schoß dahin und erschien uns schwarz und unergründlich tief, auch konnten wir nicht schwimmen, aber die Steine waren groß und glatt, und dazwischen lag kiesiger Sand, das Wasser kam von irgendwoher und floß irgendwohin; zum Fluß gehen war wie zum Bahnhof gehen und den abfahrenden Zügen nachsehen. Im Sommer waren wir immer barfuß unterwegs. Ich war nicht unglücklich, ich war ein Kind, ich war bewußtlos glücklich in Graz, fühlte mich wohl in der Fremde, die für mich zur Heimat wurde, ich wußte mit vier Jahren nichts von der Option, es ist mir, als hätte ich dieses Wort als Kind nie gehört, obwohl ich mir heute sage, daß zu Hause immer davon geredet worden sein muß, in Meran vor und nach der Abstimmung und in Graz während und nach dem Krieg.

Ich habe unter der Option nicht gelitten, vielleicht unter den Folgen, von denen ich als Kind nicht wissen konnte, daß sie Folgen einer politischen Entscheidung meines Vaters waren. Wir waren unerwünscht, sagte mir später mein Bruder, in Graz waren wir Eindringlinge. Wir waren Verräter, sagte mein Bruder, für die steirischen Patrioten waren wir Verräter, weil wir die Heimat verlassen hatten, weil wir deutsche Erde den Italienern überlassen hatten, und jetzt nahmen wir den steirischen Heimatbesitzern Arbeitsplätze weg und Wohnungen, wir wurden Katzelmacher, Spaghettifresser.

Ich verlor meine Freunde, erinnerte sich mein Bruder, der noch nicht fünfzehn war, als wir ins Dritte Reich auswanderten; alle seine Freunde habe er in Meran zurücklassen müssen, auch seine Lehrstelle, auf die er nur zehn Monate hatte stolz sein können, obwohl er ganz am Anfang vielleicht sogar ein wenig begeistert gewesen sei von der Aussicht, reisen zu können, in eine fremde Gegend unter ganz andere Menschen zu kommen, ganz anderes als bisher erleben zu können, und versprochen sei ja vieles geworden, das Blaue vom Himmel, das Paradies, aber zuletzt hätte er nichts mehr davon haben mögen und nur daheim bleiben wollen bei den Freunden in Meran, so daß ihn die Onkeln und die Tante zum Bahnhof hätten bringen müssen, sozusagen eskortieren, kurz vor der Abfahrt hätten sie, die nicht deutsch, sondern italienisch optiert hatten, ihn dem Vater auf dem Bahnsteig übergeben.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Graz das Wort gehört zu haben, vielleicht einmal im Streit, wenn wir, meine Freunde und ich, uns rauften, vielleicht dann: , so wie ich sie nannte, frei nach dem damals beliebtesten steirischen Getränk, dem vergärten Apfelmost. Immer hatte ich Freunde, nur in meiner Geburtsheimat fehlte ich, als heranwachsendes Kind, und so habe ich heute eine Heimat ohne Kindheitsfreunde, aber eine Heimat ohne Kindheitsfreunde ist eine halbe Fremdheit. Die längste Zeit meines Lebens habe ich das nicht bedacht, wußte ich nicht, wie wichtig Kindheitsfreunde sein können. Ich gewann Freunde in der Fremde, und deshalb träume ich noch heute von diesem Niemandsland, von dort, wohin ich glaubte zu gehören, wo meine Freunde herstammten, und lange merkte ich nicht, daß ich nicht dorthin gehörte, wohin meine Spielkameraden selbstverständlich hingehörten, und da wir nach dem Krieg wieder zurückzogen in die frühere Heimat, die für mich etwas Unbekanntes war, verlor ich auch meine Kindheitsfreunde aus der Fremde. Ich weiß heute nicht einen einzigen ihrer Familiennamen, ich erinnere nur einzelne Vornamen und Kindergesichter, und ihre Kindergesichter gibt es nicht mehr, ich könnte keinen Freund aus meiner Kindheit wiedererkennen, vielleicht bin ich an einem schon vorbeigegangen.

Als mein Vater auf dem Meraner Bahnhof stand, um mit uns wegzufahren für immer, trug er den Mantel seines Bruders, eines Priesters, einen schwarzen Mantel mit einem Samtkragen, ich erinnere mich nicht daran, aber mein Bruder beteuerte später, daß es der gleiche Mantel gewesen sei, den ich gekannt hätte, solange Vater lebte, Vaters Sonntagsmantel, damals auf dem Meraner Bahnhof war ich erst vier. Ich weiß davon fast nichts mehr, ich sehe weder mich noch meine Mutter und auch meinen Vater nicht auf dem Meraner Bahnhof stehen, und niemand weint und niemand schreit auf mich ein, niemand streichelt mich, ich sehe mich selbst nicht; mein Bruder erzählte mir später, ich hätte an diesem Jännermorgen kurze Hosen getragen und Wollstrümpfe, er mit seinen vierzehn Jahren aber lange Hosen, erdbraune Lodenhosen, von der Tante genäht, und Mama habe schon damals den knöchellangen Wollmantel gehabt mit den milchhellen Karos und den kakaobraunen Streifen, in dem sie wenige Jahre darauf mit uns in die Luftschutzkeller geflüchtet war.

Keine Aufregung in meiner Erinnerung, überhaupt nichts von einem Bahnhof, kein hin und her laufender Vater, keine Nervosität, keine Fragen, wo mein Bruder geblieben sei. Vielleicht hat mein Bruder seine Erinnerung verschönert, vielleicht hatte ihn die Aufregung nur innerlich geschüttelt, und er stand am Bahnhof zwischen Onkeln und Tante reiselustig lächelnd oder vor Kälte und Abenteuerangst bebend, und unsere Verwandten beneideten uns möglicherweise um das Neue, um die Fremde, um das versprochene Paradies, in das wir fuhren, ich weiß es nicht.

Ich fragte meinen Bruder Jahrzehnte später: Warum hast du dich nicht in ein Klo eingesperrt? Wenn du nicht wegfahren wolltest von deinen Freunden?

Ich hätte mir meinen Bruder gerne hinter einer Bretterwand hockend vorgestellt, zusammengekrümmt, ein Bündel Widerstand, wutkauend. Aber er erinnerte sich an kein Klo, an keine Wand, hinter der er sich versteckt hätte.

Ich wünschte mir, er hätte mir von den grauen Holzfasern der Bretterwand erzählen können, auf die er in der Dunkelheit seines Verstecks gestarrt habe. Doch er hatte sich vor nichts in Sicherheit gebracht, er wußte nichts von grauen Holzfasern einer Bretterwand.

Wir waren besitzlose Leute, wir fuhren ohne Möbel, wir hatten alles, was wir mitnahmen, in einigen Kisten und Schachteln verpackt, sagte mein Bruder. Wahrscheinlich fiel es meinem Vater nicht leicht, vor der Abreise die Möbel zu zerhacken, die er zur Hochzeit gekauft hatte, die Schränke und Bettgestelle, die wir von Anfang an gehabt hatten. Ich glaube, daß uns niemand auf dem Meraner Bahnhof in den Zug gestoßen hat, höchstens mich, vielleicht hat mich, der ich der Kleinste und Jüngste war, meine Mutter oder mein Vater über die Eisentreppe...


Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).



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