Zweifel / Pfister | Shades of Sade | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 351 Seiten

Zweifel / Pfister Shades of Sade

Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-127-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade

E-Book, Deutsch, 351 Seiten

ISBN: 978-3-95757-127-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Marquis de Sade, Urvater und Namensgeber des Sadismus, sein Schädel wurde aufgespalten, seine Perversionen bleiben unsterblich' Es gibt im deutschen Sprachraum wohl kaum intimere Kenner des Werks D.A.F. de Sade als Stefan Zweifel und Michael Pfister. Seit 30 Jahren übersetzen sie seine Texte und setzen sich mit seinen Vorstellungen von Gesellschaft, Erotik, Religion, Philosophie und Moral auseinander. In 'Shades of Sade' ziehen sie nicht nur die Summe ihrer Auseinandersetzung mit diesem monumentalen und erratischen Jahrtausendwerk sondern bieten auch eine Einführung und Leseanleitung zugleich. Ihr kenntnisreicher und sehr persönliche Zugriff ermöglicht in Kombination mit den im Buch abgedruckten wichtigsten Stellen aus dem Sade'schen Werk dem Leser eine offene und zeitgemäße Begegnung mit dem verstörenden Werk. Zweifel und Pfister legen seinen bis heute aktuellen radikalen Bruch mit allen gesellschaftlichen, religiösen, moralischen und erotischen Tabus offen, sie betten zudem die Sade'schen Schriften in die Umstände ihres Entstehens ein und zeigen deren Sprengpotenzial für den heutigen Leser auf. Die heutigen Bildwelten von S/M im Internet haben Sades Entdeckungen vermarktet und ihnen den Stachel des Widerstandes gezogen, 'Shades of Sade' schützt Sade vor diesem Erfolg seiner Abziehbilder. Stefan Zweifel: 'Die ?Sub? presst im Millionenerfolg bei Bondage aus jedem Körperglied den sexuellen Mehrwert und wir alle tragen unseren Körper auf den Markt. Vielleicht ist Sade wieder so aktuell, weil wir gerade in seine Welt eintauchen.'

Stefan Zweifel, geboren 1967 in Zürich, studierte Philosophie und Ägyptologie. Er arbeitet als Übersetzer (Blaise Cendrars, Jean-Jacques Rousseau, Raymond Roussel), Moderator (Schweizer Literaturclub bis 2014) und Kurator (zu Dada, Surrealismus und Situationismus). Zur Zeit leitete er den Pavillon Suisse von Pro Helvetia als Kollateralevent zur Kunstbiennale in Venedig. Michael Pfister, geboren 1967 studierte Philosophie und Germanistik. Er arbeitete als Moderator, Universitätsdozent und Gymnasiallehrer. Nach zwei Jahren in Mexiko-Stadt lebt er nun wieder in Zürich. Zuletzt erschienen: 'Das Kind in der Philosophie' (Bern 2011). Donatien Alphonse François, Marquis de Sade (1740-1814) war ein französischer Adeliger und Autor von ebenso pornografischen wie philosophischen Romanen. Er erregte zu Lebzeiten Anstoß durch sein freizügiges sexuelles Verhalten und seine freizügigen Schriften und verbrachte deshalb Jahrzehnte in Gefängnissen und Irrenanstalten, in denen seine Werke entstanden.
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1. Vorspiel


Fifty Shades of Sade

Ah, wenn doch die ganze Pracht seiner Männlichkeit nicht immer aus dem gleichen »Zipper« und Wortschlitz springen würde, ehe Anastasia Steele, stets empfänglich, diese Allpracht mit einem Ah! in ihren Mund nimmt, um dann ganz lustrund Oh! zu stöhnen, während ihre »innere Göttin«, ihr verdrängtes Gegen-Ich, in den immergleichen Wendungen »vor Lust zersplittert«, sobald sie sich von ihm, ihrem reichen Herrn, quälen lässt, der wie ein Helikopter in seiner mannmännlichen Selbstherrlichkeit über ihr kreist, während sie gefesselt ist, sich im Pain Room windet, ein Lüstchen für den Tag, ein Schmerzchen für die Nacht. Ganz entfesselt und gefesselt zugleich, in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten ganz ihm ausgeliefert, ihm, dem armen reichen Mann, der als Kind von seiner blonden Mutter missbraucht wurde und sich nun bei Bondage-Spielen an den blondierten Frauen seines Harems abreagieren muss, die ihm als Sekretärinnen dienen, oder eben an ihr, Anastasia, bei der er zufällig am Anfang des Romans ein Hanfseil kauft, mit dem er sie gängeln wird, bis ihre Liebe, grenzenloser noch als ihre Lust, ihn bezwingen, zähmen, heilen und in den hehren Hafen der Ehe führen wird, wo bei S/M-Spielen die Harmlosigkeit des Konsumismus zelebriert und aus jedem Körperglied der Mehrwert gepeitscht wird — ach, man wünscht den beiden als Hochzeitsgeschenk, abgesehen von einem Penisring an den Finger, nichts so sehr wie eine Gesamtausgabe des Marquis de Sade, oder zumindest: 50 Seiten Sade.

Abgehackte Kuhfüße vor Schlachthöfen, gewaltige Blutstriemen am Boden, hingepinselt nicht von Francis Bacon, sondern von anonymen Metzgergesellen, dann große Zehen von Menschenfüßen, die unsere verdrängte Unbeholfenheit und Hässlichkeit illustrieren sollten, oder ersterbende Fliegen, die als dunkle Wolke des Todes auf Klebepapier wimmeln — zwischen all diesen Ekelerregungskunststücken tauchte in Georges Batailles Zeitschrift DOCUMENTS 1929 die Photographie eines Manuskriptes auf: Die Rolle der »120 Journées de Sodome«, jene schauerliche Abrechnung mit dem Projekt der Aufklärung, die der Marquis de Sade 1785 verfasste, ein Schriftstück, das noch weit mehr als die verhackstückte Tier- und Menschenmaterie das absolute Grauen symbolisiert, den namenlosen Schrecken und das Unsägliche, zu dem der Mensch fähig ist.

Mit dieser von den Surrealisten als Fetisch verehrten Rolle wollte Bataille seine Theorie des »Unförmigen« illustrieren: Kuhfüße und Schriftrolle sind gleichermaßen Elemente, die aus dem Chaos der sogenannten »niederen Materie« auftauchen, aus jenen Niederungen, die keinen Sinn machen, sich nicht durch Vernunft erklären und beherrschen lassen, sondern dem systematischen Zwang zur Homogenisierung als das Heterogene gegenüberstehen und als das ewig unzähmbare andere, als zerfetzte Glieder des zerstückelten Dionysos, andeuten, aus welchem Abgrund von Weh und Trauer der schöne Schein unseres »normalen« Lebens auftaucht.

Diese Rolle also, von Sade aus kleinen Papierstreifen zusammengeklebt, diese über 12 Meter lange, mit winziger Schrift beschriebene Rolle, die er im Kerker der Bastille in Mauerritzen vor den Augen der Zensur verstecken musste, diese Rolle, auf der 600 menschliche Perversionen verzeichnet sind und die er nicht nur in den Löchern der Mauer versteckte, sondern, in ebenhölzerne Dildos eingerollt, eben auch in seinen eigenen Hintern steckte, aus dem sie während seiner einsamen Automasturbation »unter spitzen und hohen Schreien« auftauchte, wie die Gefängniswärter in Sades Akte notierten — dieses Manuskript, für das seine Frau Renée-Pélagie ein so großes »Futteral« kaufen musste, dass man sie für »eine Verrückte« hielt, dieses »Anuskript« wurde 2004 in der Fondation Bodmer in Cologny bei Genf zum ersten Mal vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet und, zehn Jahre später, für 7 Millionen Euro nach Paris verkauft, wo es 2014 im Musée des Lettres et des Manuscrits endlich wieder in jener Stadt ans Licht gelangt, in der Sade nach dem Sturm auf die Bastille 1789 »blutige Tränen« vergossen hatte, weil er sein Un-Werk in den Trümmern dieser Zwingburg des Ancien Régime nicht mehr finden konnte.

Seit die Handschrift der »120 Journées de Sodome« um 1900 in Berlin wieder aufgetaucht war, wurde sie in endlosen Kommentaren von Interpreten wieder und wieder entrollt und als Nachtseite der optimistischen Aufklärung ausgelegt. Die vier Erzählerinnen, die 600 Perversionen herunterbeten, hat Alberto Giacometti einst im gleißenden Gegenlicht erblickt, als er 1946, am letzten Abend, bevor es geschlossen wurde, in sein Lieblingsbordell »Le Sphinx« ging, und sie dann 1950 als »Quatre figurines sur socle« verewigt; in der Version des Zürcher Kunsthauses sind die Augen der vier Frauen schwarz-blau angelaufen, Blutstriemen überziehen die Körper, als wären es jene erstarrten Leichen, die Giacometti in einer selten zitierten Notiz aus seiner Genfer Zeit eigentlich als »Sandwich« verspeisen wollte — ferne und karge Erinnerung an die Feten in der Villa Noailles bei Hyères an der Côte d’Azur, wo Man Ray 1929 seinen Film »Les Mystères du Château de Dé« drehte. Der Vicomte Charles de Noailles und seine Gattin, die Sade-Urururenkelin Marie-Laure de Noailles, finanzierten auch Luis Buñuels epochales Werk »L’Âge d’Or«, wo zuletzt die vier Lüstlinge aus Sades Roman über eine Schlossbrücke wanken, der letzte, ein Schauspieler, der auf Jesusfiguren spezialisiert war, kehrt noch einmal um, um ein Opfer seiner Gelüste abzustechen, mit einer Zerstümmelungswut, bei der nicht nur Augen zerschnitten, sondern auch ganze Beine ausgerissen werden, wie bei Giacomettis riesiger Skulptur, die er für den Garten der Villa Noailles konzipiert hatte — ach, ewig könnte man diese dunkle und verdeckte Gegengeschichte der Avantgarde rund um Sade ausbreiten, aber uns geht der Atem aus.

Legen wir uns also in die Sonne, auf der bienensummenden Wiese der Hochebene hinter der Ruine von Sades provençalischem Stammschloss Lacoste, dessen Zacken sich schauerromantisch vor den glühenden Feuerball am Himmel schieben. Doch die Sonne Sades verweist auf jenen schwarzen Fleck, der sich einstellt, wenn man zu lange ins Licht der Sonne geblickt hat, jene Flecken, die über Nietzsches Netzhaut wanderten, nachdem er wieder und wieder so lange in den »Licht-Abgrund über mir« geschaut hatte, bis ihm Tränen aus den Augen liefen. Lange schon vor Nietzsche hat der Marquis de Sade, als genialer Genealoge der Gewalt, ganze Bibliotheken aufklärerischer Traktate verschlungen und sich intensiv der Strahlkraft der »Lumières« ausgesetzt, doch er ließ sich vom Licht der »Aufklärung« nicht blenden, sondern umriss die Konturen jenes rotglühenden Flecks, den die Sonne auf der Retina hinterlässt, wenn man sie lange fixiert hat und die Augen schließt — es sind die Konturen jener Öffnung, die von der sogenannten Hochaufklärung so gewissenhaft verdrängt wurde, jener »anus solaire«, durch den laut Georges Bataille das heterogene Wissen ausgeschieden wird, welches für den »Fortschritt« des Menschen nicht weiter verwertbar ist. Jener schwarze Punkt also, wo die reine Vernunft in das unreine andere der Vernunft umschlägt.

BDSM als Zähmung des Unzähmbaren

Die anhaltende Faszination für Sade, der die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Autor geprägt hat, speist sich aus seinem schwarz-romantischen Leben und seinen unverdaubaren Texten.

Dabei zeigt sich, wie unzeitgemäß Sade geblieben ist. Denn so sehr heutige Literatur wie die Roman-Trilogie der britischen Autorin E. L. James (Erika Leonard), »Fifty Shades of Grey« (2011–12), in die Tiefe unserer soziologischen Sphären verweist und im Sadomasochismus ungelöste Spannungen der Gegenwart zu lösen scheint, weil »BDSM eine brillante Lösung für die strukturelle Instabilität von Liebesbeziehungen ist« (Eva Illouz), so bleibt das massentaugliche Alltagsritual des BDSM in seiner Regelstarre dem Sade’schen Sadismus und Masochismus fremd. Unter der »Kontrolle« des Schmerzes und dem »Konsens« des Vertrags kristallisieren sich abermals klar definierte Rollen in einer Gesellschaft, in der sich die Rollenbilder der Geschlechter aufgelöst haben. Der Bastelkeller-Masochist lässt sich auf die Streckbank fesseln wie Odysseus an den Mastbaum. »Der gefesselte Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer«, schreiben Horkheimer und Adorno, »nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, dass er als Verfallener ihnen nicht verfällt.« In der »Dialektik der Aufklärung« erscheint Odysseus als Prototyp des modernen Subjekts, das sich kraft der List der instrumentellen Vernunft der mythischen Kraft des Schicksals und der eigenen Zwiespältigkeit unterwirft, um sie letztlich zu unterjochen. Doch »seit der glücklichmissglückten Begegnung des...


Stefan Zweifel, geboren 1967 in Zürich, studierte Philosophie und Ägyptologie. Er arbeitet als Übersetzer (Blaise Cendrars, Jean-Jacques Rousseau, Raymond Roussel), Moderator (Schweizer Literaturclub bis 2014) und Kurator (zu Dada, Surrealismus und Situationismus). Zur Zeit leitete er den Pavillon Suisse von Pro Helvetia als Kollateralevent zur Kunstbiennale in Venedig.
Michael Pfister, geboren 1967 studierte Philosophie und Germanistik. Er arbeitete als Moderator, Universitätsdozent und Gymnasiallehrer. Nach zwei Jahren in Mexiko-Stadt lebt er nun wieder in Zürich. Zuletzt erschienen: "Das Kind in der Philosophie" (Bern 2011).

Donatien Alphonse François, Marquis de Sade (1740-1814) war ein französischer Adeliger und Autor von ebenso pornografischen wie philosophischen Romanen. Er erregte zu Lebzeiten Anstoß durch sein freizügiges sexuelles Verhalten und seine freizügigen Schriften und verbrachte deshalb Jahrzehnte in Gefängnissen und Irrenanstalten, in denen seine Werke entstanden.



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