E-Book, Deutsch, 247 Seiten, eBook
Adamczyk / Gostmann Polen zwischen Nation und Europa
2007
ISBN: 978-3-8350-9674-5
Verlag: Deutscher Universitätsverlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zur Konstruktion kollektiver Identität im polnischen Parlament
E-Book, Deutsch, 247 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-8350-9674-5
Verlag: Deutscher Universitätsverlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Soziologischer Tradition gemäß ordnen Grzegorz Adamczyk und Peter Gostmann die Vielfalt der unterschiedlichen Identitätsentwürfe zwischen Nation und Europa, welche die gegenwärtige polnische Politik prägen. Sie bieten eine Basis, ihre Hintergründe 'deutend zu verstehen und dadurch in ihrem Ablauf und ihren Wirkungen ursächlich zu erklären'. Im Zentrum ihres Buches stehen die Ergebnisse einer empirischen Studie, für die Abgeordnete des polnischen Parlaments interviewt wurden. Die Analyse der qualitativen Interviews vermittelt ein ebenso facettenreiches wie präzises Bild davon, welches Selbstverständnis die unterschiedlichen Akteure des gegenwärtigen politischen Polen leitet.
Dr. Grzegorz Adamczyk ist Dozent für Soziologie an der Katholischen Universität in Lublin sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Meinungsforschungsinstitut GfK-Polonia in Warschau, Polen.
Dr. Peter Gostmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Professur für Wissenschaftstheorie und Logik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main.
Zielgruppe
Research
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Vorwort;6
2;Inhalt;8
3;1 »Wir waren immer in Europa«;9
3.1;Einleitung;9
4;2 Die narrative Konstruktion kollektiver Identität;15
4.1;Theoretische Grundlagen;15
5;3 Europäische und nationale Identität;33
5.1;Zwei story-lines und ihre Entwicklung;33
6;4 Kollektive Identitäten in Polen;53
6.1;Die Entwicklung der polnisch-europäischen story und die gegenwärtige parteipolitische Konstellation;53
7;5 Forschungsdesign und Verlauf der Untersuchung im Sejm;81
8;6 Polen zwischen Nation und Europa;93
8.1;6.1 Europa und die Europäische Union;95
8.2;6.2 Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit Europas;113
8.3;6.3 Europas Zentren und Polen im europäischen Raum;127
8.4;6.4 Europas Grenzen und die Welt dahinter;145
8.5;6.5 Polen und die europäischen Nationen;166
8.6;6.6 Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit Polens;199
8.7;6.7 Weltanschauliche Prämissen;215
9;7 Die polnisch-europäische story heute;233
9.1;Zur Verknotung der Erzählfäden;233
10;8 Literaturverzeichnis;245
«Wir waren immer in Europa».- Die narrative Konstruktion kollektiver Identität.- Europäische und nationale Identität.- Kollektive Identitäten in Polen.- Forschungsdesign und Verlauf der Untersuchung im Sejm.- Polen zwischen Nation und Europa.- Die polnisch-europäische story heute.
1 »Wir waren immer in Europa« (S. 1)
Einleitung
Die Aussage in der Titelzeile stammt aus einem der Interviews, die im Jahr 2005 im Rahmen des im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführten Forschungsprojekts über »Nationalismus und kulturelles Gedächtnis: Polen und die Osterweiterung der Europäischen Union« mit Mitgliedern des polnischen Parlaments geführt wurden. Nach unserem Eindruck hätte der Satz in dieser Form in jedem der Interviews enthalten sein können, zumindest dürfte ihm keiner der Gesprächspartner widersprechen.
Formuliert vor dem Hintergrund des Beitritts der Rzeczpospolita Polska zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 bringt er zum Ausdruck, dass nunmehr kraft eines formalen Akts eine Selbstverständlichkeit nachvollzogen wird: Polen war schon europäisch, bevor es Mitglied der EU wurde, es wäre auch dann europäisch, wenn es nicht zum Beitritt gekommen wäre.
Dieser Übereinstimmung zum Trotz scheinen angesichts der europäischen Frage die Konflikte innerhalb der politischen Szene Polens geradezu zu kulminieren. Agnieszka Magdziak-Miszewska hat bereits 1998 in einem Artikel für die Monatszeitschrift Wi einen »seltsamen polnischen Dialog« vermerkt, bei dem sich zwei »Seiten [...] gegenseitig mit ungewöhnlicher Verbissenheit bekämpfen «. In diesem Zusammenhang hat sie darauf hingewiesen, dass gemeinsam mit der europäischen Frage in Polen unweigerlich die nationale die Bühne des Dialogs betritt.
Während auf der einen Seite »die Verteidiger Europas [...] mit einem Eifer, der seinesgleichen sucht, den Wert der polnischen nationalen Tradition in Frage stellen«, gehe auf der anderen Seite mit der Ablehnung der heutigen Gestalt Europas »eine Mischung von Xenophobie und Antisemitismus, ein auf der Pflege leerer Rituale beruhende[r] Katholizismus [...] und de[r] falsche Kult selbsternannter Propheten des Nationalgedankens« einher.
Diese Beobachtung trifft sich mit sozialwissenschaftlichen Expertisen, denen zufolge allgemein in den EU-Beitrittsstaaten eine grundsätzliche »Ambivalenz zwischen einer pro-westlichen Identifikation und einer anti-westlichen Abwehrhaltung « vorherrsche. So sei für die einen, die sich mit den »demokratischen und individualistischen, liberalen und zivilen und auch konsum- und wohlfahrtsorientierten Werten Westeuropas« identifizieren, die EU ein »säkulares, ökonomisches und politisches Modernisierungsprojekt«.
Den anderen hingegen gehe es um »die Abwehr der westlichen materialistischen, konsumorientierten, kapitalistischen und säkularisierten Zivilisation« und um »die Verteidigung der eigenen Religion, Kultur und Identität«. Seit 1998 hat sich dieser Konflikt, der zwischen Nation und Europa spielt, zugespitzt, was angesichts der näher rückenden Entscheidung über den Beitritt der Rzeczpospolita zur EU nicht weiter verwunderlich ist.
Dies illustriert auch die Metaphorik, mit der die Beitrittsverhandlungen der seinerzeitigen Regierung von oppositioneller Seite begleitet wurden. Der Anspruch, dass die 2000 im Vertrag von Nizza festgeschriebene Gewichtung der Stimmen im EU-Ministerrat unbedingt zu verteidigen sei, womit Polen das annähernd gleiche Stimmvolumen wie Deutschland oder Frankreich zukommen sollte, wurde zu der martialischen Formel Nicea albo smierc (›Nizza oder Tod‹) zugespitzt.
Auch wenn die Staatengemeinschaft als »paneuropäische Kolchose« charakterisiert und der Beitritt mit Polens »staatlichem Selbstmord« gleichgesetzt wird, belegt dies die Fortdauer jener ungewöhnlichen Verbissenheit, die Magdziak-Miszewska diagnostiziert hatte, ebenso wie der Vergleich der »Stimme Brüssels« mit der »Stimme des Kremls«, der jene folgen würden, die im Lande »nicht an die Kraft der polnischen Nation [glauben]«.