E-Book, Deutsch, Band 001, 125 Seiten
Reihe: Bibliothek César Aira
Aira / Laabs Wie ich Nonne wurde
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-123-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 001, 125 Seiten
Reihe: Bibliothek César Aira
ISBN: 978-3-95757-123-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alles beginnt mit einem Erdbeereis, das so widerlich schmeckt, dass es dem kindlichen Erzähler buchstäblich im Halse stecken bleibt. Sein Vater bringt den Eismann kurzerhand um. Ein Mord, der eine Kette von Ereignissen in Gang bringt, die in ihrer schicksalhaften Unvermeidbarkeit eine groteske Tragik entwickeln. Die verstörende und unentwirrbare Ebenenverschiebung treibt die Erzählung in hoher Geschwindigkeit voran. Das Karussell kindlicher Boshaftigkeitenruft auf geniale Weise die wundersame Welt der Heranwachsenden und deren brutale Gewalt in Erinnerung. Nachdem der Vater durch eine bewusste Falschaussage des Erzählers statt zu 15 zu 25 Jahren Haft verurteilt wird, kommt es zu einer letzten Wendung, als die Ehefrau des Eismanns ihren Auftritt bekommt. Atemlos am Ende der Erzählung angelangt, beginnt die Suche nach einer Nonne. Finden wird sie nur, wer zwischen den Zeilen lesen kann.
César Aira, geboren 1949 in Coronel Pringles, veröffentlichte bisher über 80 Bücher: Romane, Novellen, Geschichten und Essays. Darüber hinaus übersetzt er aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen und lehrt an den Hochschulen von Rosario und Buenos Aires, wo er heute lebt. Aira gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren der Gegenwart - und als ihr raffiniertester. Seine Texte überraschen durch Genresprünge, aberwitzige und riskante Erzählkonstruktionen und Plots. 2016 erhielt er den Premio Iberoamericano de Narrativa Manuel Rojas.
Weitere Infos & Material
1
Meine Geschichte, die Geschichte, »wie ich Nonne wurde«, begann sehr früh in meinem Leben, und zwar kurz nach meinem sechsten Geburtstag. Den Auftakt markiert eine lebendige Erinnerung, die mir noch bis ins kleinste Detail vor Augen steht. Davor ist nichts; alles hingegen, was danach kam, einschließlich der Zeiten, in denen ich schlief, bildet eine fortlaufende und ununterbrochene, einzige lebendige Erinnerung, bis ich in den Orden eintrat. Wir waren nach Rosario umgezogen. Meine ersten sechs Lebensjahre hatten wir, Papa, Mama und ich, in einem Ort in der Provinz Buenos Aires verbracht, von dem sich in meinem Gedächtnis keine Spur mehr findet und in den ich später auch nie wieder zurückgekehrt bin: Coronel Pringles. Die große Stadt (als die mir Rosario erschien im Vergleich damit, wo wir herkamen) machte auf uns einen gewaltigen Eindruck. Und mein Vater brauchte kaum mehr als zwei Tage, um ein Versprechen zu erfüllen, das er mir gegeben hatte: mit mir Eis essen zu gehen. Es würde mein erstes sein, in Pringles gab es keins. Er, der als junger Mann Städte kennengelernt hatte, war mehr als einmal in Lobeshymnen auf diese Köstlichkeit ausgebrochen, die seiner Erinnerung nach eine Feiertagen vorbehaltene Delikatesse war, auch wenn es ihm nicht recht gelang, ihren Zauber in Worte zu fassen. Völlig zutreffend hatte er sie mir als etwas dem Uneingeweihten Unvorstellbares beschrieben, und dies genügte, das Eis in meiner kindlichen Vorstellung Wurzeln schlagen und es darin so lange wachsen zu lassen, bis es mythische Dimensionen annahm. Wir liefen zu einer tags zuvor entdeckten Eisdiele und traten ein. Für sich bestellte Papa einen Eisbecher zu fünfzig Centavos: Pistazieneis mit Amerikanischer Schlagsahne und in Whisky eingelegten Kumquats; und für mich eine Kugel Erdbeereis zu zehn. Schon die rosa Farbe gefiel mir ausnehmend gut. Ich war positiv voreingenommen. Ich bewunderte meinen Vater, und alles, was von ihm kam, betete ich an. Wir setzten uns auf eine Bank auf dem Bürgersteig, unter den Platanen, die damals in Rosarios Stadtzentrum standen. Ich beobachtete genau, wie Papa in Sekundenschnelle mit seiner grünen Eiscreme fertig war. Ich lud mit äußerster Behutsamkeit etwas von meinem Erdbeereis auf den Löffel und führte es zum Mund. Es genügte, dass die ersten Kristalle auf meiner Zunge zergingen, und ich fühlte mich vor Widerwillen krank. So etwas Widerwärtiges hatte ich noch nicht im Mund gehabt. Zugegeben, ich war schon immer ein bisschen mäkelig und konnte, wenn ich etwas nicht mochte, aus meinem Widerwillen ein echtes Drama machen. Dies nun aber überstieg alles, was ich je erlebt hatte. Die schlimmsten Übertreibungen, sogar solche, die ich mir sonst nie erlaubt hätte, erschienen mir hier mehr als angebracht. Für einen Sekundenbruchteil hatte ich noch überlegt, ob ich mir besser nichts anmerken lassen sollte. Papa hatte sich so darauf gefreut, mich glücklich zu sehen, wie man es selten bei diesem barschen, groben Mann erlebte, der nie eine Zärtlichkeit zeigte, und es musste eine Sünde sein, eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Mir ging die grauenvolle Möglichkeit durch den Kopf, das ganze Eis nur ihm zuliebe herunterzuwürgen. Es war die kleinste Portion, die es gab, ein »Fingerhut« für die Kleinen, mir kam es jetzt aber vor, als wenn sie eine Tonne wog. Ob ich so weit gegangen wäre und mir den »Fingerhut« heruntergewürgt hätte, weiß ich nicht, ich konnte meine Heldenhaftigkeit nicht einmal auf die Probe stellen. Schon das erste bisschen Eis in meinem Mund hatte auf meinem Gesicht unwillkürlich eine Grimasse des Ekels hervorgerufen, die Papa nicht entgangen sein konnte. Die Grimasse war schon fast übertrieben, in ihr verband sich die physiologische Reaktion mit den sie begleitenden Gefühlen von Enttäuschung, Angst und der traurigen Tragik, Papa nicht einmal auf dem Weg der Genüsse folgen zu können. Es wäre sinnlos gewesen, hätte ich es vor ihm zu verbergen gesucht; ich könnte es heute noch nicht, die dazugehörige Grimasse hat sich mir für immer ins Gesicht gegraben. »Was ist los mit dir?« In seinem Ton lag bereits alles, was noch folgen sollte. Unter normalen Umständen wäre ich in Tränen ausgebrochen, und die Antwort wäre mir erspart geblieben. Wie so viele überempfindliche Kinder hatte ich nah am Wasser gebaut. Doch wegen des grauenvollen Geschmacks, der mir inzwischen in die Kehle gedrungen war und der wie durch einen Peitschenhieb jetzt wieder hochkam, brach es unvermittelt aus mir heraus. »Ärcks …« »Waaas?« »Es schmeckt … furchtbar.« »Wie, bittschön?« »Furchtbar!«, schrie ich verzweifelt. »Das Eis schmeckt dir nicht?« Mir fiel ein, dass eine der vielen auf dem Hinweg von Papa geäußerten freudigen Erwartungen gelautet hatte: »Wollen wir doch mal sehen, ob dir das Eis auch schmeckt!« Natürlich hatte er das gesagt, weil er selbstverständlich davon ausging, dass es so sein würde. Denn aßen nicht alle Kinder gern Eis? Für manche Erwachsene ist die Erinnerung an die Kindheit kaum mehr als eine immerwährende Bettelei um Eis. Darum schwang in seiner Frage nun ungläubige Schicksalsergebenheit mit, so als sagte er: »Ich kann es nicht fassen, sogar darin enttäuschst du mich.« Ich sah, wie sich in seinen Augen Empörung und Verachtung aufbauten, doch noch konnte er sich zurückhalten. Er war entschlossen, mir eine zweite Chance zu geben. »Nun iss schon. Es ist köstlich«, sagte er und schob sich wie zum Beweis einen Löffel voll von seinem Eis in den Mund. Es gab kein Zurück mehr für mich. Die Sache war entschieden. Und eigentlich wollte ich auch nicht zurück. Mir war klar geworden, dass ich nur noch darauf hoffen durfte, Papa zu überzeugen, dass, was er in der Hand hielt, wirklich ungenießbar war. Voller Angst schaute ich auf das rosa Eis. Die Komödie färbte auf die Wirklichkeit ab. Schlimmer noch, die Komödie wurde zur Wirklichkeit, vor meinen Augen, durch mich selbst. Mir wurde schwindlig, doch ein Rückzieher war ausgeschlossen. »Es schmeckt abscheulich. So ein säuisches Zeug!« Ich wollte mich in einen Zustand der Hysterie hineinsteigern. »Es ist abscheulich!« Er sagte kein Wort. Mit ins Leere starrenden Augen schlang er sein Eis hinunter. Wieder hatte ich es falsch angestellt. Verwirrt änderte ich überstürzt die Taktik. »Es ist bitter«, sagte ich. »Nein, es ist süß«, erwiderte er angestrengt sanft, doch mit drohendem Unterton. »Es ist bitter!«, schrie ich. »Es ist süß.« »Es ist bitter!!« Papa hatte schon jede Hoffnung, die er sich vielleicht von dem Spaziergang mit mir, von der gemeinsamen Freude am Eisessen und von unserem Zusammensein versprochen hatte, aufgegeben. Die Gelegenheit war dahin. Was bin ich naiv gewesen, musste er nun denken, dass ich es überhaupt für möglich hielt! Trotzdem, und nur, um sich noch mehr Salz in die eigene Wunde zu streuen, unternahm er einen weiteren Versuch, mich von meinem Irrtum zu überzeugen. Oder sich davon zu überzeugen, dass der Irrtum ich sei. »Die Eiscreme ist schön süß, mit Erdbeergeschmack, ganz und gar köstlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein? Was für einen Geschmack hat es denn sonst?« »Es schmeckt grauenvoll!« »Ich finde, es schmeckt köstlich«, sagte er ruhig und verspeiste einen weiteren Löffelvoll von seinem Eis. Mehr als alles andere schüchterte mich seine Ruhe ein. Auf verquere, für mich sehr typische Weise versuchte ich, Frieden zu schließen. »Ich staune, wie dir dieses säuische Zeug schmecken kann.« Dabei bemühte ich mich, einen bewundernden Unterton in meine Stimme zu legen. »Eis essen alle gern«, sagte er, leichenblass vor Wut. Die Maske der Geduld fiel von ihm ab, und ich weiß nicht, wie ich noch immer die Tränen zurückzuhalten vermochte. »Alle, außer dir, du Missgeburt.« »Nein, Papa! Ich schwöre …« »Iss dein Eis.« Kalt und schneidend. »Dafür habe ich es dir gekauft, du kleine Missgeburt.« »Ich kann nicht!« »Iss endlich. Koste wenigstens. Du hast ja noch nicht mal gekostet.« Als er meine Ehrlichkeit in Zweifel zog (ich hätte ein Ungeheuer sein müssen, dass ich aus purer Lust die Unwahrheit gesagt hätte), riss ich die Augen auf und schrie: »Ich schwöre, es schmeckt grauenvoll.« »Von wegen grauenvoll. Koste!« »Ich habe gekostet! Ich kriege es nicht...