Amann / Lavant / Strasser | Erzählungen aus dem Nachlass | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 4, 828 Seiten

Reihe: Christine Lavant: Werke in vier Bänden

Amann / Lavant / Strasser Erzählungen aus dem Nachlass

Mit ausgewählten autobiographischen Dokumenten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8353-4232-3
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit ausgewählten autobiographischen Dokumenten

E-Book, Deutsch, Band 4, 828 Seiten

Reihe: Christine Lavant: Werke in vier Bänden

ISBN: 978-3-8353-4232-3
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe enthält 15 Erzählungen aus dem Nachlass, die hier größtenteils erstmals gedruckt werden. Eine einzigartige Entdeckung. Vierzig Erzählungen etwa hat Christine Lavant geschrieben, aber viele davon zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht. Aus Scheu, zu viel von sich preiszugeben, hielt sie den Großteil ihres Prosawerks zurück. Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe versammelt fünfzehn Erzählungen aus dem nachgelassenen Bestand. Nur zwei davon, 'Das Wechselbälgchen' und 'Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus', sind in den letzten Jahren schon veröffentlicht worden, alle anderen werden hier erstmals gedruckt. Außerdem enthält der Band lebensgeschichtliche Dokumente wie Briefe und eine Selbstdarstellung für den Rundfunk, die nicht nur einen intimen Einblick in ihr Leben, ihr Denken und Empfinden erlauben, sondern in erstaunlichem Maße die literarischen Texte des Bandes biographisch befestigen und beglaubigen. Christine Lavant erzählt von dem, was sie am besten kennt: von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von feinen und weniger feinen gesellschaftlichen Unterschieden, von Armut, Krankheit und Außenseitertum, von Bigotterie, Wunderglauben und von den Irrwegen religiöser Erlösungshoffnungen; aber immer wieder auch von weiblichem Begehren, vom Rebellieren und von der befreienden Kraft der Fantasie und der Liebe. Vor allem aber erzählt sie - auch in allerhand Verkleidungen - von sich. Und sie zeigt sich dabei völlig ungeniert, schonungslos und ungeschützt. Ihre Prosa aus dem Nachlass ist eine singuläre Entdeckung. Sie ist formal souverän, inhaltlich kompromisslos und oft unerhört komisch.

Christine Lavant, (1915-1973), geb. in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag. Klaus Amann, geb. 1949, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Wien, war bis 2014 Professor für Geschichte und Theorie des Literarischen Lebens und Leiter des Robert Musil-Instituts Klagenfurt. Er publizierte u.a. Bücher über Adalbert Stifter, Robert Musil und Ingeborg Bachmann und ist Mitherausgeber der kommentierten digitalen Gesamtausgabe von Robert Musil.
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Das Wechselbälgchen


Wrga die Einäugige hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüsste und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, dass der Name eigentlich eine Strafe sei, weil die verräterische Königin so geheißen hat und wenn es ein Bub wäre müsste es nach dem verbrecherischen Kaiser Napoleon heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen, wo es um eine große Sünde ging und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat, ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war gerecht und wenn er mit seiner eigentümlichen schwarzen Kappe durch das Dorf ging legte er immer die Hände auf den Rücken, verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so dass er sie beim besten Willen nicht mehr voneinander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch solche unbegreifliche Einfälle, nicht wahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, dass unter diesen Kindern welche dabei sind, denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger und ungekämmter als die anderen sind und die zum Schluss dann doch ganz unschuldig sagen, dass sie Zitha oder Napoleon heißen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst und so wollten sie lieber ganz und gar ungeküsst bleiben als solches auf sich nehmen. Aber deshalb braucht es noch immer nicht wahr zu sein, dass er – wie die Leute sagten – Vögel unter seiner schwarzen Kappe hätte. Er war einfach gegen die Sünde und für die Gerechtigkeit und wenn er allein herumging beredete er das mit sich und wurde wohl auch manchmal ein bisschen laut dabei und dachte vielleicht, er sei auf der Kanzel – mein Gott, was ist auch dabei? Ein Pfarrer kann schließlich reden wo und wann er will und wenn die Leute dann behaupten, er hätte auch noch ein Spinnrad unter seiner Kappe, so war das nicht nur erlogen, sondern auch unmöglich. Aber so sind die Menschen. Da gehen sie her und streuen unwahre Reden über einen aus und wenn sie dann einmal so oder so in Not sind, dann gehen sie wohl am Ende gerade zu diesem einen, von dem sie eben noch Ungeheures behauptet haben und bekommen gleich im Voraus schon beim Frühbirnenbaum vor dem Pfarrhof Tränen in die Augen und Kummerfalten um den Mund und sagen drinnen dann Hochwürden hin und Hochwürden her und wie schön er beim letzten Hochamt wieder gesungen hätte, so recht zum Herzergreifen und wenn sie dann fortgehen, haben sie das Geld für einen Anzug oder eine Nähmaschine oder was sie halt sonst unbedingt gebraucht haben. Und oft ist es sogar so, dass von dem Geld ausgerechnet eine Zitha oder ein Napoleon ein Paar Schuhe bekommt zum Schulanfang. Denn die Gerechtigkeit hat zwei Seiten und Willibald der Pfarrer muss mit seinen Händen immer wieder daran herumdrehen und dabei werden sie alt und fangen an zu zittern. Seine Kappe und sein Anzug werden dünn und sein Atem kurz. Nur bei der Taufe wagt er nicht an der Gerechtigkeit zu drehen, da bleibt er unerbittlich, auch wenn es noch solche Kämpfe gibt.

Bei Wrga hatte es keine Kämpfe gegeben. Sie hatte das Kind selbst zur Taufe getragen, weil sie niemanden belästigen wollte und vielleicht auch, weil sie es niemandem sagen wollte, woher sie das Kind genommen hat. Und als er sie um der Gerechtigkeit willen strafen musste, begriff sie es gar nicht und geriet vor Freude über diesen feinen Namen außer sich und ihr gewöhnliches Auge erstrahlte fast so schön wie das gläserne. Was hätte er da anderes sagen sollen als einfach: »Gehe hin und sündige nicht wieder!« Ach nein, das wollte sie gewiss nicht, denn zwei Mädchen können nicht Zitha heißen und Napoleon gefiel ihr nicht und einen Vater würde sie kaum je haben, wo sie doch bloß eine alte einäugige Kuhdirn war.

Vielleicht wäre sie nie in ihrem Leben daraufgekommen, dass sie ein Bälgchen hat, wenn nicht Lenz der tüchtige Knecht gekommen wäre. Er kam von den gläsernen Grenzbergen herauf und wusste vielleicht deshalb schon um so viel mehr in allem Bescheid als die anderen Leute. Er hatte mehr mitgemacht als hunderttausend Pfarrer zusammen. Ein ganzes Jahr lang war er zum Beispiel mit der Hacke des Wilden Jägers im Kreuz herumgegangen, hatte dabei seine Arbeit so gut wie jeder andere gemacht, hatte überdies in den Mondnächten den Kampf mit der Truta mora aufgenommen, immer so mit einem aufgestellten spitzen Messer zwischen den gefalteten Händen und den uralten Abwehrspruch auf den Lippen. Und nichts hatte sie ihm anhaben können, nicht das Geringste! Und pünktlich nach einem Jahr war er wieder im Hohlweg zwischen den Radspuren gelegen und der Wilde Jäger hatte voll Freude gesagt: »Da liegt der Klotz ja wieder, in dem ich ferten mein Hackl vergessen hab!« Ja, der Lenz kannte sich in allem aus. Er wusste wie man den Blitz bannt, kannte den Weg zum Schwundweiblein und wer in den Nächten von Verstorbenen heimgesucht und geplagt wurde, brauchte sich bloß an ihn um Hilfe zu wenden. Und als er genau drei Tage beim Feidel-Peter in Dienst war, konnte er es Wrga schon sagen, dass ihr Kind ein Wechselbalg sei.

»Lass mich in Ruh, du Lotter!« sagte diese zwar und wendete ihm ihr gläsernes Auge zu, dass es nur so funkelte, aber das half ihr nicht im mindesten. Er nahm ihr den schweren Futterkorb ab und war überhaupt voll Güte und Mitleid: »Tu einmal hinterdenken, Weibsbild, hast es gar immer einmal allein wo liegen lassen draußen?« … Über so viel Dummheit hatte sie hellauf lachen müssen und ganz vergessen, dass man ihre Schelchzähne dabei sehen konnte. »Ja glaubst denn, ich habs wie eine Stadtmadam in einem Seidenwagen herumführen können? Alle Sommer ist es allein im Baumgarten und tut beim Brunngrabn spielen, wenn nicht grad die Keuschen-Kinder nachschaun kommen. Glaubst ich kann mir eine Kinderdirn halten?«

Nein, das glaubte er natürlich nicht, aber er wunderte sich nun auch über nichts mehr. Ausgerechnet beim Brunnen, wo die alten Wechselbälger ihr Unwesen am liebsten treiben! … »Und wahrscheinlich noch bei diesem Brunnen da, was? Kann mirs denken, kann mirs denken! Und die Stinkwurzn unds Hexenkraut! Ja denkst du denn gar nichts, du Weibsbild du. Wird dir nichts andres übrigbleiben jetzt, als neunmal schlagen. Was denn auch? Neunmal schlagen und zwar so grob, dass es ganz jämmerlich schreit. Dann wird der alte Wechselbalg daherkommen und wird sagen: Ich hab deins gradelt und badelt, hab ihm neunmal ein Mehlmus kocht, du aber hast meins neunmal ghaut! … und wird dann dein Kind wieder dalassen und seins mitnehmen. Aber tu’s gleich und neunmal und sehr grob. Verstehst?!«

»Lass mich aus mit deine blöden Faxen!« hatte sie bloß gesagt und ihm auch noch das Glasauge entzogen. Ja ja, Undank ist der Welt Lohn … Aber beim Essen dann in der Leutstube hatte er wieder damit angefangen: »Schau nur wie es frisst!« hatte er gesagt. Nun ja, es hatte eine gewisse absonderliche Art zu essen, das hatte Wrga selbst schon bemerkt. Wenn es mit beiden Fäustchen die fetten Nudeln in den Mund schob und dazu schmatzte und zischte, so war es fast genauso wie bei den kleinen Schweinen. Aber was ist schon dabei? Bei einem Herrentisch kann ein Dirnkind so nie essen. »Ja glaubst, Dienstleut sind keine Menschen und uns grausts vor gar nichts?« hatte die Weiddirn gesagt und dabei dem Lenz Augen gemacht. Er aber war nicht darauf eingegangen trotzdem sie noch recht jung war und hatte erklärt, dass es gar nicht von wegen dem Grausen sei, aber man soll eben bloß nicht leichtsinnig sein und dulden, dass ein Wechselbalg aufgeziegelt wird. »Hat es nicht Augen wie zwei schwarze Glaskugeln und ist es nicht rot und weiß wie’s Schneebittchen?« Doch, das mussten sie der Einäugigen lassen, ja, es war eigentlich lieb anzuschaun und gar nicht wie ein richtiger Wechselbalg. Aber das merkt man eben oft erst mit der Zeit und wenns schon zu spät ist. Und Wrga würde bis zu ihrem Tod sich schinden müssen, bloß um den Balg da anzufüttern. Wie alt war es jetzt? Was, vier Jahr schon?! Und hatte es je ein Wort geredet? Also bitte, was will man noch mehr an Beweis? … »Nein, da musst du schon alle Möbel in Bewegung setzen, dass du es wieder los wirst!« sagte er voll Ernst. »Wieso Möbel und ich hab ja gar keine?!« sagte Wrga, aber da wurde er wild und sagte: »Tu was du willst. Vielleicht heißts auch Hebel, aber der Alte vom Gutshof hat immer so gesagt, wenn was hat sein müssen und das da muss halt sein. Vielleicht probiersts mit Eierschalen, wenn dir das neunmal Schlagen so hart ankommt?« Aber sie fragte ihn gar nicht mehr, was er mit den Eierschalen meine und selbst trug er ihr auch nichts mehr an, beleidigt wie er war.

So hatte das Bälgchen lange noch Ruhe und Frieden gehabt und heimlich hatte es Wrga immer noch dann und wann mit Stolz Zitha genannt und so getan als hätte sie keine Furcht einen Wechselbalg und Vielfraß aufzuziehen.

*

Zitha das Bälgchen hatte ein wunderbares Leben. Niemand war da, der es schlug. Wohl waren welche da, die das Recht dazu gehabt hätten. Zum Beispiel der alte Bauer. Aber dem lag wohl nichts daran ein Kind zu schlagen, wenn es auch bloß ein Dirnkind war. Vielleicht hatte er auch bloß zu viele Gedanken, so dass es ihm einfach nicht einfiel. Ach, er hätte fast ein Bruder vom alten Pfarrer sein können, wie er so dahinging und immer etwas mit sich selbst auszureden hatte. Er redete zwar nicht...


Lavant, Christine
Christine Lavant (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.

Strasser, Brigitte
Brigitte Strasser, Studium der Germanistik und Pädagogik an der Universität Klagenfurt, Hochschullehrgang Kulturmanagement an der Johannes Kepler Universität Linz. 2006-2018 Mitarbeit an der Werkausgabe Christine Lavant, Mitherausgeberin der Bände 2 und 4 (Erzählungen).

Amann, Klaus
Klaus Amann, bis 2014 Professor fu¨r Neuere Deutsche Literatur, Gru¨nder und langjähriger Leiter des Robert-Musil-Instituts fu¨r Literaturforschung der Universität Klagenfurt sowie des Kärntner Literaturarchivs. Zahlreiche Buchpublikationen und Aufsätze. Mitherausgeber der Gesamtausgaben von Robert Musil und Christine Lavant.



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