Kapitel 2
Nachhaltigkeit als Zukunftsfahne der politischen Vernunft
Die erste Frage ist natürlich: Weht sie überhaupt noch? Manchmal könnte man meinen, die Fahne der politischen Vernunft sei längst eingemottet. Falschmeldungen sind inflationär, Verschwörungstheorien werden immer wilder konstruiert, und der Egoismus Donald Trump’scher Art reißt auch die letzten, elementaren Hürden des Anstands.
Auch im deutschen Umfeld hat die Vernunft es schwer, wenngleich zur Unvernunft des krassen Populismus schon noch ein großer Hygieneabstand besteht. Aber überall, wo faktenfrei skandalisiert, dunkel geraunt, rassistisch geredet oder das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt wird, steht es um die Zukunftsfahne nicht gut. Zukunftsoptimistische Sorgfalt kommt dann meist zu kurz. Der vernünftige Umgang mit dem, was gehen und möglich gemacht werden könnte, braucht Geduld, Nachdenken und Erklärung. Er ist langsam. Oft steht er der rabiaten Meinungsstärke des Sofortismus sprachlos gegenüber. Auch verbündet sich das politische Handeln unter Stress nur selten mit Vernunft. Oft wird dann Schnelligkeit mit Tatkraft und Entschiedenheit mit Führungsvernunft verwechselt.
Hinzu kommt der ohnehin stereotype Vorwurf an jegliche Nachhaltigkeitspolitik, mit Energiewende & Co. gehe sie einen illusionsverliebten Sonderweg (wobei unterstellt ist, dass Sonderwege schlecht sind). Systembewahrende Bewohner des Augenblicks kritisieren Nachhaltigkeit als ein störendes, aber nur modisch-hysterisches Zeitphänomen und hoffen auf ein baldiges Verschwinden; das eher linke Spektrum sekundiert dieser Auffassung mit dem Vorwurf an die Politik, sie simuliere die Nachhaltigkeit nur; Ziele und Anliegen beschwöre man nur deshalb, um das wirkliche Tun zu vermeiden; Nachhaltigkeit sei hohl, quasi wie Opium für die Zukunft.
An beiden Kritiken stimmt in der Sache nichts und im Gefühl alles. Gegen Fakten sind sie unempfindlich. Sie verzichten auch auf die Mühe, Details zur Kenntnis zu nehmen, und befassen sich lieber erst gar nicht mit konkreten Projekten von Nachhaltigkeitsstrategien. Informationen würden sie nur verwirren. Relevant ist die Kritik, wenn wir sie als Ausdruck eines Angstgefühls sehen. Mit Schrecken schauen die Kritiker auf die schon laufenden Transformationen und erkennen sich selbst im Strom dieser Zeiten nicht. Es ist eine Angst vor dem Verlust an Kontrolle. Gegen das Gefühl von Abstieg und das Nichtdabeisein bei Aus- und Umstiegen kämpft man immer angstfixiert, verbissen und mit entfremdeten Argumenten, also anderen als jenen, um die es elementar geht.
An der Vehemenz dieser Gefühle mag auch der gängige Nachhaltigkeitsdiskurs einen gewissen Anteil haben. Zu sehr fixiert ist man auf die Nomenklatur der Verbände und Akteure, auf den Staat, das Recht und auch auf die nächsten staatlichen Finanzierungen, zu schnell sieht man sich von Leugnern oder Feinden umstellt, zu sehr liebäugelt man mit der Idee einer Kommandozentrale zur Durchsetzung von Transformationen, zu wenig werden die eigenen Zielkonflikte thematisiert.
Nachhaltigkeit passt in das Normengerüst einer modernen Gesellschaft, wenn diese es zulässt, sich dabei zu verändern. Das ist ein Kernpunkt der Idee. Auf dieses Spannungsfeld von Bewahrung und Veränderung kommt es an, weil die Idee der Nachhaltigkeit keine einfache Vorausverfügung für Zukünfte ist. Die Vorstellung, wie etwas in Zukunft sein soll und sein wird, unterscheidet sich von der tatsächlichen Erfahrung zu dem Zeitpunkt, wenn diese Zukunft eingetreten ist. Das wissen wir aus dem eigenen Leben, als gesellschaftliche Konstante muss es erst noch politische Formen finden.
Den öffentlichen Diskurs in Deutschland bestreitet heute glücklicherweise nicht jener extreme Rand, sondern die Mitte. Der Grund dafür ist, dass sich die Mitte wesentlich geändert hat. Wie kaum eine andere zeigt die jahrelange Nachhaltigkeitsdebatte das an. Die Mitte ist nicht mehr der leere Raum, der sich geometrisch zwischen den Rändern ergibt. Das unterscheidet die jetzige Situation von so mancher Vergangenheit. Die Mitte ist nicht leer. In ihr bewegt sich das Thema Nachhaltigkeit. Noch lange nicht schnell genug und mit viel zu wenig Impulsen. Aber darum geht es ja gerade. Der Begriff »Nachhaltigkeit« ist der Bewegungsbegriff schlechthin. Er gehört den Praktiker*innen, die ihn mit Inhalt aus Ökologie, Menschenrechten, Partizipation und einem nachhaltigen Wirtschaften füllen.
Im 19. Jahrhundert standen sich Kapital und Arbeit in einem unversöhnlichen Gegensatz gegenüber. Der Weberaufstand begründete die Christliche Soziallehre und förderte das Klassenbewusstsein der Arbeiter. Weitere Etappen waren die Einführung des Frauenwahlrechts und von Frauenrechten generell, Bildung für alle, die Umformung des reinen Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft, der Ausbau der Mitbestimmung und die Einführung des Mindestlohns. Sie kennzeichnen die Haltelinien der Gesellschaft, die in mühevollem Ringen zustande kamen. Sie kennzeichneten das 20. Jahrhundert und reichen weit in unsere Zeit hinein. Als soziale Frage prägte sie die Geschichte der industriellen Revolution. Sie war der zentrale Widerspruch. Heute sind die Themen und Ziele der nachhaltigen Entwicklung der wesentliche Widerspruch. Zwar steht Luxus weiter gegen Armut, oben weiter gegen unten, Vermögen gegen Hunger, Korruption gegen Fairness, aber die soziale Frage wird nun ergänzend neu interpretiert. Im Sinne einer Futuralen Frage fragt man, in welcher Zukunft wir als Gattung Mensch leben können.
Die Futurale Frage
Politische Ansätze zum Klimaschutz, die eigenen Eingriffe im Hinblick auf natürliche Ressourcen und Biodiversität lernen überall auf der Welt erst mühsam, dass die materielle Umwelt nicht so einfach planbar oder kalkulierbar ist. Vielmehr gibt es prinzipielle Unsicherheiten, Zufälle und unbekannte Wechselwirkungen, mit denen umzugehen Teil des Lernens ist. Ob es sich um Isobaren, genetische Drift, den Kohlenstoffgehalt in Böden, die Mutationen von Insekten und Viren oder um Methandepots im Permafrost handelt – für die politische Vernunft sind sie nicht oder nur eingeschränkt kalkulierbar. Selten nur gelingt der Zugriff mit einfachen Erklärungsmustern oder mit einem linearen Verständnis. Ökologische Kipppunkte, wie sie Hans-Joachim Schellnhuber beschreibt, betreffen lebende Systeme. Im Englischen wird von einem Lebenserhaltungssystem (life support system) des Planeten Erde gesprochen. Das ist nichts, das sich ein- und ausschalten lässt.
Von einer Eigenmacht des Materiellen zu reden, begründet sich in den Zufallsprozessen der Natur, in den nur als wahrscheinlich, nicht aber als sicher annehmbaren Reaktionen von Ökosystemen und in den überraschenden Nischen der Evolution. Das ist eine harte theoriegeladene und vor allem praxisrelevante Kategorie. Für den Politikbetrieb hat das erste Auswirkungen. Zunächst wirken sie als Verunsicherung, ob das, was als normal gilt, beibehalten werden kann.
Die Politik sozialisiert ihre Akteure bisher sehr erfolgreich in einer Sphäre, in der alles austauschbar ist: Personen, Parteien, Beziehungen, Interessen, Geld, Macht, Karrieren, Arbeitsplätze und Unternehmer. In diesem Verständnis ist Politik ein Tauschhandel, der dann gut ist, wenn er nachvollziehbar, ehrlich und sozialdienlich organisiert ist. Nun aber kommt ein neuer Faktor ins Spiel, der sich von allem Üblichen unterscheidet: Natur ist nicht austauschbar, Natur ist nicht vorbei (nature is not over), weil sie weder durch Technik noch durch Kapital ersetzbar ist. Natur ist auch viel mehr als das, was der Mensch Natur sein lässt. Zum Beispiel ist die Bezeichnung »Kulturlandschaft« – mit ihrer Suggestion der absoluten Kontrolle über Aussaat, Bewuchs, Wachstum und Ernte – eine Illusion. Sie übergeht geflissentlich, dass selbst hier immer auch das Nichtkontrollierbare, Zufällige, Ereignishafte zu finden ist, etwa in Form von Mutationen von Insekten, Bodentieren oder Bakterien.
Auf Zeit zu spielen und Probleme auszusitzen ist ein anerkanntes und gut funktionierendes Muster politischer Praxis, solange man in der Welt des Tauschhandels bleibt. Aber der Faktor Natur ändert das Konzept von Zeit. Er macht immer deutlicher, dass das Aufschieben von echten Maßnahmen für den Erhalt der Natur kaum wirklich funktioniert. Statt der erhofften Verschnaufpause bringt es letztlich nur die materiellen Probleme aus Erderwärmung und Naturzerstörung umso härter zurück, einschließlich der Engpässe und Nachhaltigkeitsrisiken, die das für Industrie und Gesundheit heraufbeschwört. Verschieben ist verschärfen.
Die Idee der Nachhaltigkeit wirkt hier wie ein Ordnungsruf. Aber hier ruft nicht Kassandra (obwohl es an orakelhaft vorhergesagten Menetekeln nicht mangelt), sondern die Zukunft. Die Idee mahnt, dass die Ordnung in Gesellschaften ganz wesentlich von den materiellen Grundlagen abhängt, von denen eine Gesellschaft lebt. Sie mahnt Konzepte für bedrohte Ordnungen an. Zwischen der allmählichen Anpassung, die umsichtig kleine wie große Schritte geht, und der Verhärtung in einem drakonischen Verteidigungsmodus, der womöglich in eine regelrechte Lust am Untergang ausartet, haben bedrohte Gesellschaften vieles praktiziert. Daraus lässt sich lernen. Aber man muss handelnd lernen, Differenzierungen verstehen und Bestehendes mit Werdendem verbinden können.
Transformationen sind keine Magie
Transformationen, auch große, sind für die Menschheit nichts Einzigartiges und schon gar nichts Neues. Sie sind sogar gut untersucht. Die Geschichtswissenschaften stellen die Transformation der Annahme von Kontinuität gegenüber. So zum Beispiel in der Frage, was die Völkerwanderung war, was sie auslöste und wie der übergreifende Rahmenkontext...