E-Book, Deutsch, Band 23, 153 Seiten
Reihe: erleben & lernen
Bedacht / Streicher / Fengler Beinahe schiefgegangen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-497-62007-4
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Risiken und Fallstricke in der handlungsorientierten Pädagogik
E-Book, Deutsch, Band 23, 153 Seiten
Reihe: erleben & lernen
ISBN: 978-3-497-62007-4
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Bedacht, München, Dipl.-Soz.päd., Traumaberater, ist nach langjähriger Leitung einer außerschulischen Bildungseinrichtung als freiberuflicher Referent im Bereich Erlebnis- und Umweltpädagogik, politische und kulturelle Bildung und in der Hochschullehre tätig. Bernhard Streicher, Anger, Dr. habil., Dipl.-Psych., war als Universitätsprofessor mit Forschungsschwerpunkt Risiko und in der ZQ Erlebnispädagogik tätig. Er ist wissenschaftlicher Berater, Autor und Forscher mit Fokus auf Risikokultur sowie Mitglied der Sicherheitskommission des Deutschen Alpenvereins.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1 Vom Wert der Risikokompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2 Risikokultur als Rahmenmodell handlungsorientierter
Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1 Das Risikokulturmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Struktur des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Anwendung des Risikokulturmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.2 Risiko- versus Sicherheits- und Eventkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3 Belastungs- und traumasensible Erlebnispädagogik. . . . . . . . . . . . 39
3.1 Die Teilnehmenden im Blick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.2 Lernvorstellungen im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.3 Nur die Krise ist wirklich sicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
3.4 Das richtige Maß der Herausforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Leitgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Die Fürsorge der Veranstalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.5 Belastungssymptome rechtzeitig erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.6 Interventionen in belastenden Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Ein Ereignis, zahlreiche Beteiligte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Externe Unterstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Individuelle Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Mitbetroffen: Die Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Wieder arbeitsfähig werden - reflexive Leitungskultur. . . . . . . . . 63
4 Von der Idee zum Plan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4.1 Planungsgrundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
4.2 Planung nach dem Zwiebelprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
5 Fallstricke und Fälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
5.1 Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
5.2 Fälle mit Wahrnehmungsfallen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Orientierungsprobleme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Keine Spuren im Schnee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Der Berg spricht nicht immer für sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Es lockt der falsche Weg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Steinschlag beim Pinkeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Gewitter am Kletterturm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
In die Kamera gelaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Warum steigt sie nicht aus? Kenterung am oberen Tarn. . . . . . . . . . 88
Plötzlich ungesichert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Kinder im Vorstieg: Was tun, wenn das Seil blockiert?. . . . . . . . . . . 95
Flashback beim Gurtanziehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Flussfahrt mit Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Belastungs- und traumasensible Erlebnispädagogik
3.1 Die Teilnehmenden im Blick
H. hängt in der Turnhalle in 2,50 Meter Höhe mit verkrampften Armen und rotem Kopf am Tau und schreit: „Ich komme hier nie wieder runter.“ Als er sich nicht mehr halten kann, rutscht er schmerzhaft ab.
Bei einer einfachen Wanderung wechselt B. im leicht geneigten Abstieg vom kontrollierten Gehen in das Rutschen auf dem Hosenboden und ist kaum mehr zum Aufstehen zu bewegen.
O. erstarrt beim Toprope-Klettern vor dem Ablassen, die Beine zittern unkontrollierbar, während sich die Hände krampfartig an die Griffe klammern.
Irgendwann bemerkt eine Kursteilnehmerin, dass K. fehlt. Sie verbringt schon eine dreiviertel Stunde auf der Toilette, während der Rest des Ausbildungskurses am frühen Vormittag die Materialien für die Raftingtour einlädt.
Den routinierten Praktiker:innen sind solche und ähnliche Ereignisse sicher bekannt. Begegnet man ihnen erstmalig, sind Leitung und Teilnehmende manchmal überrascht und verunsichert. Manches Verhalten erscheint kaum nachvollziehbar.
2,50 Meter über dem Boden am Tau sind schließlich kein Grund zur Beunruhigung. Oder doch? H. zumindest empfindet Angst, die Höhe erscheint ihm gefährlich, er hat Herzrasen, ihm ist schwindlig.
B. war auf einem feuchten Wegstück ausgerutscht, hatte kurz die Kontrolle verloren und ist nun so verunsichert, dass er glaubt, nicht mehr aufstehen zu können. Er befürchtet, wieder zu fallen und dass sich dann Schlimmeres ereignen würde.
O. hat die sieben Meter hohe Kletterwand bravourös gemeistert, aber der Wechsel zum Abgelassen werden bedeutet, sich an eine andere Person auszuliefern und das löst Panikgefühle bei ihr aus.
K. hat kaum geschlafen. Je näher die Bootsfahrt heranrückt, desto bedrohlicher wirkt der nahe Fluss, dessen Rauschen für sie in der Nacht immer lauter wird. Ihre Angst vor dem bevorstehenden Bootsausflug manifestiert sich gastrointestinal.
Menschen ordnen ein und dieselbe Situation unterschiedlich ein, die individuelle Ereigniswahrnehmung und -bewertung bestimmt unsere Gefühlslage und unsere Verhaltensmöglichkeiten. Wir reagieren, je nach Lebenslage, Situation und Vorerfahrung anders: überlegt, distanziert, impulsiv, überwältigt oder ängstlich. In den vier skizzierten Situationen hängt der weitere, gelingende Verlauf entscheidend von den Interventionen der Leitung ab: Wie kann H. nach dem Abrutschen am Tau so begleitet werden, dass er sich nicht als Versager vor der ganzen Klasse fühlt? Wie gelingt es, mit B. den restlichen Abstieg nach unten zu meistern? Mit welcher Hilfestellung kann O. gut auf dem Boden der Kletterhalle ankommen? Welche Unterstützung braucht K., um ohne Gesichtsverlust die Bootsfahrt auslassen zu können, oder ließe sie sich vielleicht doch noch motivieren?
Ängste, Blockaden, Panik oder psychosomatische Reaktionen mit und ohne vorausgegangene Traumatisierung treten in unterschiedlichem Kontext und mit allen Alters- und Zielgruppen auf. Bei Exkursionen mit Studierenden, kooperativen Übungen in der Freiwilligenausbildung, bei den Walderlebnistagen der Kindergruppe oder Touren im schulischen oder außerschulischen Kontext. Entscheidend ist, als Leitung in Gruppen souverän und zugewandt damit umzugehen (für ein Beispiel s. Fall Flashback beim Gurtanziehen). Der zeitliche Verantwortungshorizont der leitenden Personen beginnt beim Vortreffen, umfasst die eigentliche stunden- oder tageweise Durchführungsphase mit allen Interventionen und endet – falls nötig – mit der Nachsorge für die direkt Betroffenen und Beteiligten.
In den Fällen von H., B., O. und K. stellen sich u.a. die Fragen: Welche Sicherheiten, welchen Schutz und welche Fürsorge benötigen H. und die Gruppe? Mit welcher Betreuung können B. und O. die Wanderung bzw. die Toprope-Klettertour möglichst gelingend abschließen? Welche Vorbereitungen bei Treffen und Abfragen gingen der Bootsfahrt voraus? Wie ist die Atmosphäre in der Gruppe von K.: verständnisvoll, unterstützend oder verärgert? Um diese naheliegenden Fragen sinnvoll beantworten zu können, müssen wir zunächst etwas ausholen. Denn die Antworten, was in den einzelnen Situationen konkret zu tun ist, basieren sowohl auf unseren Vorstellungen von Lernen und Veränderung als auch den psychologisch-physiologischen Bedürfnissen der Teilnehmenden. H., B., O. und K. werden uns später im Laufe des Kapitels wieder begegnen.
3.2Lernvorstellungen im Wandel
Einhergehend mit einem veränderten Lernverständnis wurden seit den 1980er Jahren auch im deutschsprachigen Raum Kurse und Seminare zunehmend nach draußen verlegt, um statische Lernformen abzulösen oder zu ergänzen. Eine Überzeugung dabei: Alltagsferne, unmittelbare Erlebnisse, das Verlassen der vertrauten Räume und Abläufe schaffen Rahmenbedingungen, in denen neue Orientierungen und Wege möglich werden. Um individuelle Entwicklungsprozesse zu initiieren und Lebenskompetenzen zu stärken, sollen gezielte Herausforderungen der sozialen und körperlichen Fähigkeiten und der psychischen Verfasstheit bedeutsame Erfahrungen ermöglichen. Die Lernprozesse sollen in einem Rahmen hoher objektiver Sicherheit stattfinden und subjektiv spannend sein.
Soweit die theoretischen Grundannahmen. Die Praxis allerdings entzieht sich auch bei bester Vorbereitung häufig den zugrunde gelegten Vorstellungen. Weder Prozesse noch Ergebnisse lassen sich minutiös inszenieren oder herbeiführen. Auch kann es nicht Anspruch sein, den Teilnehmenden ein durchgängiges positives Erleben zu gewährleisten – und das ist gut so. Das Lernpotenzial des handlungs-, projekt- und prozessorientierten Lernens zeichnet sich ja gerade durch ein erhebliches Maß an Unplanbarkeit und Improvisation an den gewählten Orten aus. Ängste vor Höhe, Tiefe, Dunkelheit, Ausgesetztheit, Tieren oder gruppendynamischen Ereignissen sind mögliche Begleiterscheinungen, wenn Menschen sich entscheiden, den Alltagshorizont zu verlassen und sich auf Neues einzulassen. Den leitenden Personen fordert der Lernansatz einiges ab: sicherheitstechnische, instrumentelle, kommunikative und gleichzeitig gruppendynamische Kompetenzen, um die Ernsthaftigkeit realer Begebenheiten konstruktiv gestalten zu können. Insbesondere wenn nicht alles „glatt geht“, sind diese Fähigkeiten gefragt. Im professionellen Lernkontext geht es nicht darum, unangenehmen Empfindungen und Reaktionen aus dem Weg zu gehen und alle auslösenden Situationen zu vermeiden. Stattdessen steht eine Begleitung im Vordergrund, mittels derer die Betroffenen eigenverantwortlich Strategien zur Lösung aversiver Erfahrungen entwickeln. Angst zu haben ist normal und überlebenswichtig, darf aber nicht dauerhaft gefangen nehmen. Unsere vier Protagonisten erleben unterschiedliche unangenehme Zustände: Herzklopfen, Schwindel, Atemnot, Kontrollverlust, Verletzungs- oder Todesangst.
Was geht Panikattacken, psychischem Stress, Überforderung oder Angst voraus? In Abhängigkeit von ihrer biografischen Erfahrung, ihrem jeweiligen kulturellen Kontext, aber auch ihrer Tagesform, reagieren Menschen sehr unterschiedlich auf die selbst oder ihnen gestellten Herausforderungen. Gelingt es, – alleine oder mittels Begleitung – sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen und Möglichkeiten zu finden, mit ihnen entsprechend umzugehen oder sie gar zu überwinden, weichen negative Empfindungen einem Lustgefühl, das uns animiert, über davor empfundene Grenzen hinauszuwachsen – ein alter Topos der Menschheit. „Zwischen Furcht und Verlangen …“, so beschrieb Leonardo da Vinci seine ambivalenten Gefühle in der Naturbeobachtung (Klüver 2019). Die konstruktive Auseinandersetzung mit erlebten Einschränkungen im eigenen Explorationsverhalten (Kowald/Zajetz 2015) kann der Persönlichkeitsentwicklung und dem Selbstwert ungeahnten Auftrieb verleihen, gerade wenn die Übertragung einer isomorphen – kurz gefasst: ähnlichen – Erfahrung in den Alltag gelingt: „Jetzt, wo ich die angstbesetzte Route geschafft habe, sollten auch die Prüfungen im Studium zu schaffen sein.“ Soweit der erwünschte positive Lernverlauf.
3.3 Nur die Krise ist wirklich sicher
So wie die Überschrift lautete auch der Titel einer Fortbildungsreihe zu Prävention und Notfallmanagement in den 1990er Jahren. Misserfolge, Fehleinschätzungen und Krisen können massive Überforderungszustände oder Retraumatisierungen im Rückgriff auf frühere belastende Erfahrungen auslösen. Anlässlich der globalen Fluchtbewegungen erfuhr der Begriff einer traumasensiblen Erlebnispädagogik in der Fachdiskussion verstärkte Aufmerksamkeit (Thiesen/Kremer 2017). Viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hatten in ihrem Herkunftsland oder auf ihrem Weg nach Europa Krieg, Folter und sexuelle Gewalt er- und überlebt, daran hat sich auch in der Gegenwart wenig verändert. In und nach der sogenannten Inobhutnahme durch staatliche Jugendhilfeeinrichtungen stellt(e) sich neben Clearing und dem Erwerb von Sprachkompetenz die Frage,...