Bender / Kanitscheider / Ruso | Kolonisierung | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Bender / Kanitscheider / Ruso Kolonisierung

Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-7013-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-7431-7013-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kolonisierung. Die wissenschaftliche Anthologie beginnt "klassisch" mit der frühneuzeitlichen Ausbreitung der Europäer und erschließt dem Begriff dann immer weitere Themenfelder. Es geht um erschlossene Landschaften und Räume, Erschließungswege, Erschließer (menschliche Gruppen oder andere Organismen) und ihre Ziele respektive Ideen. Insgesamt dreizehn Beiträge zur Biologie, Geographie, Geschichte, Politik, Kunst, Literatur, Religion und zum (Matreier) Brauchtum werden unter kulturethologischen Gesichtspunkten zusammenführt. Sie decken Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Verläufen von Kolonisierungsprozessen auf und fördern das Grundverständnis der permanenten (Re-)Kolonialisierung unserer Welt beziehungsweise ihrer realen wie virtuellen Teilräume.

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Die ‚Melioration‘ unserer deutschen Moore


Zusammenfassung


1 Einleitung


Das Beispielsthema, das ich mir heuer zum Rahmenstichwort ‚Kolonisation‘ gewählt habe, inkludiert im Sinn unseres kulturethologischen Denkens zwei Prozesse: Zum einen geht es um den Verlauf konkreter Projektentwicklungen. Darüber hinaus werden langfristige Einstellungsveränderungen sichtbar; aufzuzeigen ist hier ein Bewertungswandel. Diesen menschlichen Verhaltensoptionen soll ferner als Drittes zuerst die natürliche Genese vorgeschaltet werden in der Stufenfolge vom Flachmoor zum Hochmoor, die man als Typen unterscheidet (Brockhaus 1991, 88f.).

Flachmoore (mindestens 20–30 cm) bilden sich seit der Nacheiszeit, wenn in einem Sumpfgebiet (staunasse Böden, hohe Niederschläge) hydrophile Pflanzen stehen, die nach ihrer Wachstumsperiode unter Wasser, das heißt bei Luftabschluss unter Sauerstoffmangel, nur unvollkommen vermodern (anaerobe Zersetzung) und sich als abgestorbene Masse langsam zu schwammigen Torfpolstern verdichten. Dazwischen bleiben stets noch unregelmäßig offene Wasseraugen zurück.

Während Flachmoore bei dieser Entwicklung ungefähr im Horizont ihrer Umgebung stillstehen, schiebt sich in Fällen feuchteren Klimas der Sedimentationsprozess trotz ärmerer Vegetation immer höher hinauf: Das Moor wölbt sich dabei im Zentrum allmählich, wie man gern sagt, ‚uhrglasförmig‘ nach oben, beginnt eines Tages als Hochmoor das Niveau seiner Ufer zu überragen und trocknet randlich etwas aus. Flachmoore brauchen hochstehende Grundwasserspiegel, Hochmoore (alle erst 2500–6000 Jahre jung) mehr zögerlich versickernden Regen von oben.

In Deutschland finden wir Flach- und Hochmoore, ohne dass beide Typen regional zuzuteilen wären, vor allem in den Niederungen Norddeutschlands, in postglazialen Urstromtälern und den Überschwemmungsbereichen der Oder und weiterer Flüsse, auf wasserstauendem Urgestein unserer Mittelgebirge, im Toteis- und Endmoränengebiet des Voralpenlands und im Ansatz letztlich an jedem See, der zu verdunsten und verlanden beginnt. Sprachlich bleibt etwas verwirrend, dass diese nach Sache recht synonymen Sümpfe dennoch in verschiedenen Landschaften oft ganz anders heißen – Fehn/Vehn (Holland), Moor (Emsland), Luch oder Bruch (zwischen Havel und Masuren), Morast, Lug, Laatze (Schlesien), Moos, Filz oder Ried (Bayern).

2 Phase 1: Moore als Orte der Angst


„O schaurig ist’s, übers Moor zu gehen…“ Ja, als Gymnasiasten lasen und lernten wir noch Gedichte. Und Annette von Droste-Hülshoffs fast unvermeidlicher ‚Knabe im Moor‘ (aus den 1842 geographisch fernab in Meersburg entstandenen ‚Heidebildern‘; 1844, 37–80) erzählte auch uns Binnenländern dabei zugleich etwas über Moore – hochemphatisch und einseitig als Natur grauslichen Schreckens. Verse als Warnung: Sich ins Moor zu verirren, ist gefährlich, man kann in diesem weichen Modder leicht unrettbar versinken. Es sind „abstoßende Orte düsterer Menschenfeindlichkeit“ (Krewerth 1982, 8). Wer in Moorgegenden aufwächst, lernt früh diese Angst – und hörte einst in nebeligen Nächten sicher oft Geschichten von Toten, die man dort später fand. Den Begriff ‚Moorleichen‘ prägte zwar erst 1871 die holsteinische Wissenschaftlerin Johanna Mestorf. Aber das Wissen, dass es derlei gibt, war damals, zumindest bei Altphilologen, schon längst verankert durch Tacitus, den römischen Schriftsteller, der 98 n. Chr. seine ‚Germania‘ verfasste (Kap. 12, 12). Aus Europa wurden bis heute über 1000 solche Moorleichen bekannt, davon aus den Sümpfen Norddeutschlands etwa dreißig, aus Oberbayern nur zwei oder drei – dabei weit mehr Männer als Frauen und Kinder. Datiert lebten diese Personen überwiegend zwischen der Eisenzeit (ab 1000 v. Chr.) und dem Frühmittelalter; jüngeres Fundgut blieb seltsamerweise rar.

Sicher war mancher derer, die im Moor ertranken und erstickten, einst schlicht nur einem Unfall zum Opfer gefallen. Doch lässt der Zustand der Leichen vielfach auch menschliche Mitwirkung erkennen, das heißt Mord und noch häufiger das Tun offenbar ritueller Justiz. Als Hinrichtungsarten sieht man Erdrosseln, Erstechen, Enthaupten; ein lebendig Versenken im Moor (), wie wir gern denken, scheint dagegen eher die Ausnahme gewesen zu sein. Liest man Tacitus, so wurden mit ‚Tod im Moor‘ insbesondere folgende Delinquenten bedroht: Feiglinge im Krieg, Unzüchtige, Ehebrecherinnen und wahrscheinlich auch Körperbehinderte. Verbotene Homosexualität als Strafgrund wird in der neueren Literatur hingegen bestritten; Tacitus habe damit lediglich einen Topos erfunden, seiner Generallinie folgend, die Welt der Germanen als heil darstellen, das homoerotische Leben der Römer gleichzeitig als verderbt und besserungsbedürftig.

Die Tötung nach einem solchen Urteil fand meist gleich unweit der Wohnplätze statt; im Normalfall hängte man die Leichen hernach öffentlich in Bäumen auf. Wurden die Leichen aber später noch ins Moor verbracht, stellte das offenbar eine zusätzliche Strafverschärfung dar, nämlich eine zeremonielle Verbannung oder, wie manche sagen, ‚Übertötung‘. Sie erklärt sich mit damals geradezu panischer Angst, dass solche Verbrecher eines Tages doch wieder auferstehen, das heißt zu ‚Wiedergängern‘ werden und neues Unheil anrichten könnten. Mit diesem Überlieferungswissen geriet der ohnehin schon abweisende Raumtyp Moor erst recht zum Mythos des Schaurigen, zum Synonym des Unheimlichen, zum phantasievoll aufgefüllten Ort wilden Gespensterspuks. Wie Goethe seine Lemuren in ‚Faust II‘, lässt die Droste sie auftreten als „Gräberknecht“, die „unselige Spinnerin“, der „diebische Fiedler“ und die „verdammte Margreth“ (von Droste-Hülshoff 1844, 79f.). Könnte man das vielleicht bereits eine durch Aberglauben erzeugte Kolonisation nennen? Das seit den 1990er Jahren frisch inszenierte Maskentreiben zu Halloween hat hier fraglos einen seiner Vorläufer.

3 Phase 2: Die Urbarmachung der Hoch- und Flachmoore im 18./19. Jahrhundert


Und wie stand es in jener historischen Frühzeit um eine wirtschaftliche Nutzung der Moore? Völlig ausgeschieden waren sie nie. Mit kleinen Dörfern dünn besiedelt waren damals zwar nur standfeste Geestinseln beziehungsweise Schotterrücken. Benachbarte Moore gehörten in der Regel nicht zum Privatland, sondern waren Allmende. Wer sich auskannte, konnte dorthin aber auf halbwegs sicheren Triften immerhin zum Beispiel Vieh zur Weide hineintreiben, zumal leichtfüßige Schafe, die mit den tückischen Mooroberflächen schon einigermaßen trittsicher zurechtkamen.

Bei diesem extensiven Zustand blieb es dann aber nicht mehr, als in der Frühneuzeit die Bevölkerungszahl stetig zu wachsen begann. Dieser Druck ließ zunehmend fragen, ob man denn nicht doch auch diese marginalen Moore höherwertiger nutzen könnte als bisher – ein Strategiewechsel, der nun unser Suchwort ‚Kolonisation‘ im Sinne von Neulanderschließung ins Spiel bringt. Der Fortschrittsgeist des Aufklärungs-, Peuplierungs- und Physiokratenzeitalters um 1800 schuf sich dafür das besondere Wort ‚Melioration‘ beziehungsweise Verbesserung – quasi als Sieg des Menschen über eine zuvor fast unbrauchbare Ödnis. Besiedlungstechnisch sollten dabei Flachmoore entwässert, Hochmoore durch Beseitigung der Torfdecke nutzbar gemacht werden. Ältere Formen sogenannter Moorbrandkultur, wo in der Asche oberflächlich abgesengter Hochmoorparzellen allenfalls sechs oder sieben Mal etwas Hafer oder Buchweizen gediehen, bald aber schon Jahrzehnte der Brache folgen mussten, zuerst in den Niederlanden angewandt, hatten sich nicht bewährt (Brockhaus 1991, 93).

Ausgehend von Holland breitete sich nun Anfang des 17. Jahrhunderts eine...



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