Breitsprecher | Vor dem Morgen liegt die Nacht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Breitsprecher Vor dem Morgen liegt die Nacht


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944576-31-2
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-944576-31-2
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bei einer Theateraufführung begegnet Nina Althaus, 38-jährige West-Berlinerin, unverhofft der mondänen Maria Conti wieder - einer langjährigen Vertrauten aus ihren Kindertagen, die mittlerweile die Achtzig überschritten hat. Maria ist in Begleitung ihrer Nichte, der erfolgreichen Ost-Berliner Schauspielerin Michelle Odebrecht. Nina und Michelle kommen sich näher. Eine leise Liebesgeschichte entspinnt sich. Doch der Weg zueinander erfordert die Aussöhnung mit der Vergangenheit, die von persönlichen Enttäuschungen und politischen Umbrüchen geprägt ist. Ein einfühlsam erzählter, vielschichtiger Roman, dessen Lektüre lange nachklingt.

Claudia Breitsprecher ist 1964 in Westfalen geboren und in Berlin aufgewachsen, wo sie auch heute mit ihrer Frau lebt. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Politik an der Freien Universität Berlin und arbeitete nach ihrem Abschluss als Diplom-Soziologin im Bildungs- und Sozialbereich. Nach ersten Kurzprosa-Veröffentlichungen in Anthologien Ende der 90er Jahre schreibt sie heute sowohl literarische als auch Sachtexte. 2002 erfolgte ihr Sachbuchdebüt mit einem Band über Mutter-Tochter-Beziehungen: 'Das hab ich von dir', gefolgt von 'Bringen Sie doch Ihre Freundin mit! Gespräche mit lesbischen Lehrerinnen'. 2005 erschien ihr Debütroman, 'Vor dem Morgen liegt die Nacht', dem im Sommer 2012 mit 'Auszeit' der zweite Roman folgte. Zu Claudia Breitsprechers weiteren Veröffentlichungen gehören 'Ende der Schonfrist', eine Erzählung in der Anthologie 'Fein & gemein. Rachegeschichten' und 'Little Boy', mit der sie 2007 den 3. Preis des 6. Autorinnenforums Berlin-Rheinsberg gewann. 2011 wurde Claudia Breitsprecher von der Autorinnenvereinigung e.V. zur 'Autorin des Jahres' gewählt.

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7 Der Abend des Gründonnerstag zog sich endlos hin. Nina hatte sich darauf gefreut, Tobias wiederzusehen, aber die Umstände ihres Treffens waren denkbar schlecht. Sie hatte mit ihm allein sein wollen, aber er hatte sich standhaft geweigert, die Hochschwangere an seiner Seite auch nur für ein paar Stunden aus den Augen zu lassen. So drehte sich schließlich alles um das sehnlichst erwartete Baby, dessen Ankunft kurz bevorstand. Und Nina erfuhr bis ins kleinste Detail alles über Säuglingspflege und Ultraschalluntersuchungen, die pränatale Geschlechtsbestimmung des Fötus und die hormonellen Veränderungen während der Schwangerschaft, die der werdenden Mutter schier unbeschreibliche Momente der Euphorie und Glückseligkeit zu schenken vermochten. Die Niederkunft war schon einige Tage überfällig, und die ganze Atmosphäre war geprägt von erwartungsfroher Spannung, die eine echte Unterhaltung unmöglich machte. Der Mann, mit dem Nina vor nicht allzu langer Zeit noch Bett und Gedanken geteilt hatte, der aufmerksam gewesen war und zärtlich, bemerkte nun kaum ihre Anwesenheit, hörte nichts von dem, was sie sagte, war allein fixiert auf jene zyklisch wiederkehrenden Augenblicke, in denen sich seine neue Liebe in ihrem Sessel räkelte und mit schriller Stimme »Jetzt – jetzt – jetzt tritt er!« rief. Dann lief er eilig zu ihr hinüber, legte seine Hand auf die pralle Rundung unter ihrer Brust und verkündete rührselig: »Ja, ich kann es fühlen.« Nina sah immer häufiger verstohlen auf die schmale Uhr an ihrem Handgelenk, als wollte sie die träge kriechenden Zeiger mit ihren Blicken vorwärtstreiben. Sobald es die gebotene Höflichkeit erlaubte, brach sie unter Verweis auf den weiten Heimweg, der vor ihr lag, auf. Tatsächlich lebte Tobias in einem ganz anderen Teil von Berlin, der nichts gemein hatte mit der quirligen Gegend, in der ihr Zuhause lag. Er war weit weggezogen, als er sich mit der anderen eine Wohnung nahm. Früher waren sie oft noch spät am Abend ausgegangen, hatten eine Musikperformance in einer alten Fabrikhalle besucht oder eine Vernissage in einer provisorischen Galerie, waren anschließend durch klare Nächte geschlendert, hatten auf den Häuserwänden die in roter Farbe geschriebenen Botschaften gelesen, die zum revolutionären Kampf aufriefen, zum Widerstand gegen Abschiebungen und zum Nein zur Globalisierung. Manchmal waren sie in eine der zahlreichen Kneipen eingekehrt, um ein schnelles Bier zu trinken, und nicht selten erst im Morgengrauen heimgekehrt, beschwipst, lachend und zum Schlafen viel zu aufgedreht. Jetzt betrachtete Nina durch die Scheiben des Busses die ruhigen Straßen, die von frisch verputzten und doch grauen Fassaden gesäumt bereits im Dämmerschlaf lagen, obwohl die Dunkelheit den ausklingenden Tag gerade erst verschlungen hatte. Die Fenster der Wohnungen waren hell erleuchtet, die Bürgersteige hingegen wie leergefegt, nur eine ordentlich frisierte Rentnerin beobachtete ihren Pudel beim Verrichten seiner Notdurft und las mit einem Papiertaschentuch und spitzen Fingern das Ergebnis auf. »Fahren Sie zur Wildenowstraße?« Die schwache Stimme des gebrechlichen Greises drang in ihr Bewusstsein vor. Die Busfahrerin nickte, und der Alte erklomm mühsam eine Bank in ihrer Nähe. Nina richtete sich kerzengerade auf und war hellwach. Wildenowstraße? Bis heute hatte sie sich niemals gefragt, wie es wohl aussehen mochte, dort, wo Maria wohnte, seit sie aus ihrer Nachbarschaft fortgezogen war. Sie hatte immer geahnt, dass es eine vornehme Gegend sein musste, doch bis heute war ihre Adresse im Telefonbuch nicht mehr gewesen als eine kleingedruckte Zeile auf dünnem Papier. Jetzt aber war sie neugierig geworden, verfolgte mit wachsender Aufregung den Ablauf der Haltestellen, deren Namen eine säuselnde Automatenstimme durch leere Sitzreihen klingen ließ. Der Bus schaukelte eine Weile über schlecht ausgebesserte Straßen, bevor die Fahrerin dem Hochbetagten signalisierte, dass er aussteigen müsse. So behäbig, wie er sich gesetzt hatte, erhob er sich nun, und während seine knochigen Hände nach den Haltestangen tasteten, erblickte Nina das Straßenschild. Es war noch nicht spät, sie war noch nicht müde. Einem unwiderstehlichen Impuls nachgebend, drückte sie auf den Knopf für die hintere Tür. Noch ehe sie sich’s versah, stand sie auf der Straße und schaute den Rücklichtern des Doppeldeckers nach. Hier also lebte Maria. Ja, diese kleine Gasse am Schnittpunkt von vorstädtischer Idylle und zentrumsnahem Flair passte zu ihr. Beschauliche Vorgärten, in denen Plastik-Ostereier an knospenden Magnolien hingen, gediegene Villen mit Blick auf den Botanischen Garten, mit pedantischer Pflege heraufbeschworene Behaglichkeit, aber dennoch keine geistige Einöde, denn die Universität war nah und das Leben der Metropole nur wenige Straßen entfernt. Auf dem schmalen Gehweg schritt Nina die Häuser ab, drückte sich in den Schatten der Bäume und hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Dabei wollte sie nur einmal gucken. Nummer 15, Nummer 13, Nummer 11. Hier musste es sein. Das zweistöckige, leicht von der Straße zurückgesetzte und mit Efeu bewachsene Haus erschien ihr zu groß, um Maria allein zu gehören. Tatsächlich entdeckte Nina vier Namen auf einem blanken beleuchteten Schild neben der Gartenpforte. Sie trat einen Schritt zurück, um nicht gesehen zu werden. Eine beklemmende Illusion von Nähe breitete sich in ihr aus und beflügelte ihre Phantasie. Wo war Maria? fragte sie die stumme Fassade. Hinter welchem Fenster saß sie an ihrem Sekretär und schrieb Tagebuch? Wo stand der Sessel, in dem sie einnickte, wenn sie genug gelesen hatte? Nina hatte das früher oft beobachtet, wenn sie abends bei ihr gewesen war. Manchmal hatte sie dann vorsichtig das Buch von ihrem Schoß genommen und es fortgelegt. Aber vielleicht passierte Maria das ja gar nicht mehr. Haben nicht viele alte Menschen eher Schwierigkeiten einzuschlafen? Würde Maria heute einen Schlummertrunk zu sich nehmen, um leichter ins Reich der Träume zu finden, eine heiße Milch oder einen Kräutertee? Stand sie vielleicht gerade in ihrer Küche und bereitete ihn zu? Oder war sie am Ende gar nicht zu Hause? Die Wirklichkeit holte Nina ein. Es gab keinen heimlichen Weg in Marias Leben, keinen Zugang, der ihr die schützende Deckung ließ. Ein älterer Mercedes fuhr langsam über das holprige Kopfsteinpflaster. Der Fahrer beobachtete sie argwöhnisch, bevor er in der benachbarten Auffahrt verschwand. Sie ging ein Stück die Straße entlang, als hätte sie ein Ziel. Es begann zu regnen, und sie beschleunigte ihren Schritt, vergrub die Hände in den Taschen ihres Anoraks. Wenn doch nur dieser eine Tag nicht gewesen wäre, diese eine verfluchte Stunde vor fünfundzwanzig Jahren, die alles zerstört hatte und mit ungebrochener Macht Ninas Sehnsucht bannte, sie von Maria fernhielt und selbst auf ihren Erinnerungen an all die anderen Begebenheiten lastete, die sie mit dieser Frau verbanden und die etwas in ihr trotz allem lebendig hielt, so wie das Bild, das sich nun vor ihre Gedanken schob, schwach zunächst und unscharf, um schnell an Kontur zu gewinnen. Es war ein drückender Sommertag. Die Sonne brannte, die Luft war schwül, und kein Windstoß erfrischte die Menschen, die sich träge über den Asphalt schoben. Am Horizont türmten sich bedrohlich wirkende Gewitterwolken auf. Nina war froh, dass sie es nach der Schule noch trocken nach Hause schaffte. Ihre Mutter öffnete ihr die Tür. Sofort erkannte Nina, dass sie wieder getrunken hatte. Jetzt begann es schon am Vormittag! Und es war schlimm! Ihre Mutter schwankte bedenklich, ihre glasigen Augen stierten dumpf an Nina vorbei, und ihr Gesicht war von fahlgrüner Farbe. Mühsam lallte sie eine Begrüßung, dann taumelte sie zurück ins Wohnzimmer und fiel auf die Knie. Der Himmel hatte sich inzwischen verdunkelt. Als die ersten Blitze die schweren Wolken teilten, erbrach sie sich auf den Teppich, mit dem Donner fiel sie vornüber in den ausgestoßenen Brei. Musste es denn gerade heute sein? Nina ließ die Schultern sinken. Gerade heute, wo Gitti ihren siebten Geburtstag feierte, ihre beste Freundin, die in der Klasse neben ihr saß und so lustig aussah mit ihren Sommersprossen und den wilden rotblonden Locken. Seit Wochen schon hatte sie sich auf diesen Tag gefreut. Tina würde kommen und Schirien und Kai. Ihre Mutter hatte am Abend zuvor noch das Geschenk kunstvoll verpackt, das scharlachrote Poesiealbum mit Ninas gerade geborener Handschrift auf der ersten Seite. Das Päckchen sah toll aus, so wie alles, was die Finger ihrer Mutter zu zaubern vermochten. Nina hatte zugesehen, wie sie flink am Werk gewesen waren, das Papier falteten, die Schleife zu kunstvollen Blüten formten. ›Drück da mal drauf‹, hatte ihre Mutter sie ab und zu angewiesen, und Nina hatte ihr geholfen. Es war selten, dass sie etwas gemeinsam taten. Doch als das Geschenk fertig eingepackt war, hatten sie einander mit zufriedenem Lächeln angesehen. Ein heftiger Windstoß peitschte den Regen gegen die Fenster. Nina ging auf ihre Mutter zu, schüttelte sie und zog sie am Arm. Es dauerte lange, bis ein schwaches Murmeln zu hören war, noch länger, bis sie sich regte. Langsam, sehr langsam hob sie den verklebten Kopf, dann rappelte sie sich auf, schleppte sich zur Couch, ließ sich darauf fallen und war wieder fort. Ihren Vater konnte Nina nicht erreichen, seine Klasse hatte Wandertag. Sie sah auf ihre Mutter herab, die sich nicht rührte und keinen Laut von sich gab. Atmete sie noch? Würde sie je wieder erwachen? Würde sie Nina je wieder in die Arme nehmen? Nina lief in die Küche, riss ein paar Tücher von einer großen Rolle und eilte ins Wohnzimmer zurück. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie versuchte, die stinkende lauwarme Masse mit...


Claudia Breitsprecher ist 1964 in Westfalen geboren und in Berlin aufgewachsen, wo sie auch heute mit ihrer Frau lebt. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Politik an der Freien Universität Berlin und arbeitete nach ihrem Abschluss als Diplom-Soziologin im Bildungs- und Sozialbereich. Nach ersten Kurzprosa-Veröffentlichungen in Anthologien Ende der 90er Jahre schreibt sie heute sowohl literarische als auch Sachtexte. 2002 erfolgte ihr Sachbuchdebüt mit einem Band über Mutter-Tochter-Beziehungen: "Das hab ich von dir", gefolgt von "Bringen Sie doch Ihre Freundin mit! Gespräche mit lesbischen Lehrerinnen". 2005 erschien ihr Debütroman, "Vor dem Morgen liegt die Nacht", dem im Sommer 2012 mit "Auszeit" der zweite Roman folgte. Zu Claudia Breitsprechers weiteren Veröffentlichungen gehören "Ende der Schonfrist", eine Erzählung in der Anthologie "Fein & gemein. Rachegeschichten" und "Little Boy", mit der sie 2007 den 3. Preis des 6. Autorinnenforums Berlin-Rheinsberg gewann. 2011 wurde Claudia Breitsprecher von der Autorinnenvereinigung e.V. zur "Autorin des Jahres" gewählt.



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