Wenke Windmühlen auf dem Wedding
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944576-39-8
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-944576-39-8
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Astrid Wenke, geboren 1961, ist mit Wind, Regen und dem weiten Blick über die Endmoränenlandschaft Schleswig-Holsteins aufgewachsen. Seit sie eingesehen hat, dass ein Großteil ihres Lebens der Existenzsicherung geweiht ist, experimentiert sie mit Erwerbstätigkeiten, die mit ihrem Freiheitsdrang und dem Wunsch, sinnstiftend tätig zu sein, vereinbar sind - Schreiben zum Beispiel oder Taxifahren. Gelegentlich ist sie auch als Stadtführerin in Berlin unterwegs. Seit zehn Jahren verdient sie den Großteil ihres Unterhalts als Lebenskundelehrerin an einer Grundschule. Astrid Wenke lebt im Berliner Wedding. 'Windmühlen auf dem Wedding' ist nach 'Eine Milliarde für Süderlenau' ihr zweiter Roman.
Autoren/Hrsg.
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Erstes Kapitel,
in dem die Leserschaft Sybilla Kischotta, Martha und die Martin-Opitz 5 kennenlernt.
Es gibt Anzeichen von Bedrohung, und die Kischotta schreitet zum ersten Gefecht gegen das Spekulantenpack.
Sybilla Kischotta, lang und hager, betrat den Hof. Es war einer jener Höfe, wie sie vor anderthalb Jahrhunderten nach der Genehmigung des Hobrechtplanes die Stadt durchwuchert hatten. Die Höfe waren damals eng gewesen, zu eng, um das ferne Licht des Himmels und seine blaue Luft hereinzulassen, und die Vogelmiere, die es vermocht hatte, sich in einer Mauernische zu verwurzeln und von mageren Sonnenstrahlen zu ernähren, war Sinnbild für Lebensmut und Hoffnung geworden. Das war nicht Hobrecht anzulasten. Der hatte den Verlauf der Straßen und Baublöcke festgelegt, nicht aber vorgesehen, die Blöcke bis in den letzten Winkel mit Höfen und Hinterhöfen zu bebauen. Hobrecht hatte im Gegenteil gefordert, mit baupolizeilichen Verordnungen für gesunden, den Menschen würdigen Wohnungsbau zu sorgen.
Die Baupolizei sorgte sich jedoch nur wegen der Feuergefahr. Die Feuerwehrwagen brauchten Platz, um in den Höfen wenden zu können, genau gemessen fünf Meter vierunddreißig im Quadrat. Näher durften die Hausmauern sich nicht kommen, das hatten die Bauherren zu respektieren. Wenn der rote Hahn dann wahrhaftig im Dachstuhl saß, mussten die Feuerwehrleute zur Dachrinne hoch, bevor der Brand auf Nachbarhäuser übergriff und ganze Viertel in schwarzes Gebälk verwandelte. Die Leitern ließen sich nur auf zwanzig Meter ausfahren, und das war der einzige Grund dafür, dass die Traufhöhe Berlins zweiundzwanzig Meter nicht überschreiten durfte. Aus Angst vor dem Feuer ist die Zweiundzwanzig in Berlin eine magische Zahl geblieben. Berliner Architektur nach europäischem Maß tritt noch im Nachmauer-Berlin an der Zweiundzwanzig zum ideologischen Kampf gegen die Architektinnen und Architekten einer Weltstadt an, obwohl Feuerleitern längst an Wolken kratzen könnten.
Die Höfe haben sich geweitet, aufgesprengt in den Bombenhageln der vierziger Jahre, und heutzutage findet man anspruchsvolles Wohnen und attraktive Kultur- und Shoppingorte darin vor. Zille war einmal: Im Hof der Martin-Opitz-Straße wächst an Stelle einer Miere ein Ahornbaum, von dessen weit ausgebreiteten Zweigen die Baumwanzen zu ihrem Flug auf die Fenstersimse starten.
Sibylla Kischotta, Weddinger Stadtbilderklärerin, war an Architektur und Stadtgeschichte flammend interessiert, nicht jedoch in diesem Moment, in dem sie das Geländer ins Visier nahm, welches die Außenstiege zum Keller abschirmte – ein Geländer, einst grau gestrichen, von dem jedoch seit Jahren die Farbe abblätterte, so dass sich an vielen Stellen Rost in die nackte metallene Oberfläche gefressen hatte.
An dieses Geländer war, da ein Fahrradständer fehlte und es auch sonst an Möglichkeiten mangelte, Sybillas Rad gekettet. Auf dem Hof fand alltäglich ein bitterer Kampf um die wenigen sicheren Parkgelegenheiten statt, und es war – Sybilla verzog missmutig das Gesicht – wiederum zu einem Übergriff gekommen: An der Strebe direkt vor dem Vorderrad ihres treuen Drahtesels war ein weiteres Gefährt befestigt worden, das sie anheben und seitwärts zerren musste, um an ihr Kettenschloss zu gelangen.
Martha hatte das Fenster ihrer Hinterhofwohnung weit geöffnet und die fülligen Arme auf einem Kissen gebettet, welches sie der größeren Bequemlichkeit halber auf die Fensterbank gelegt hatte. Vor allem weil ihr der Blick auf das Straßenleben verwehrt blieb, bedauerte Martha, nicht mehr im Vorderhaus zu wohnen. Als sie Sybilla den Hof erstürmen sah, dachte sie wieder einmal darüber nach, dass diese mit ihrem Balkon, von dem der Blick nicht nur zur Straße hinunter, sondern zu dem Haus gegenüber und in eine Vielzahl von Loggias, Balkonen und Fenstern schweifen konnte, wenig mehr anzufangen wusste, als dort zu sitzen, zu lesen und zu denken. Weiter überlegte Martha, dass es immer schon zwei Sorten Menschen gegeben hatte – solche, die im Vorderhaus wohnten, und gewöhnliche wie sie. Hätte Sybilla von Marthas Gedanken geahnt, hätte sie all ihre Glieder in Bewegung gesetzt, um diese mit einem Wortschwall wegzuschwemmen, zu verwirbeln, besser noch zu zerstäuben, obwohl sie selbstverständlich wusste, dass Marthas Sicht der Dinge durchaus begründet war. Nur wohnte die Kischotta, ihren prekären Verhältnissen zum Trotz, nun mal nach vorne raus und Martha hinten.
An diesem Vormittag, den draußen auf der Straße und oben auf Sybillas Balkon die Maisonne wärmte, hatte Martha dennoch nicht zu klagen. Es war einiges losgewesen im Hinterhof – zwei dicke Menschen, einer männlich, weißhaarig, weichgesichtig, der andere jünger – knapp über fünfzig, mutmaßte Martha –, weiblich, mit groben Gesichtszügen, vollen Lippen, großer Nase, patrouillierten seit bald einer Stunde zwischen Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus, klopften gegen Hauswände, begutachteten den bereits erwähnten Ahorn, der es sich hoch oben im vierten Stock gut und grün ergehen ließ, während seine Wurzeln längst die Versiegelung des Hofes teils durchbrochen, an anderen Stellen aufgewölbt hatten, so dass es angeraten war, beim Gang über den Hof, vor allem des Nachts, auf einen sicheren Tritt zu achten.
Die dicken Menschen waren die Kellertreppe hinabgestiegen, hatten Martha den Blick von oben auf lichte weiße Strähnen über blasser Schädelhaut und dichtes zauseliges Grauhaar gegönnt und waren dann hinter der Tür verschwunden, an der die Warnung vor dem ausgelegten Rattengift prangte. Martha fragte sich, ob der eingetrocknete Kadaver eines der Opfer dieser in regelmäßigen Abständen erfolgenden Vernichtungsaktionen noch auf dem Boden des Kellergangs lag, dort hingekehrt vermutlich von jemandem, der ihn im eigenen Keller gefunden und sich, nachdem der Leichnam glücklich außerhalb des privaten Verschlages geschafft war, nicht weiter zuständig gesehen hatte.
Martha war vor etwa zwei Monaten das letzte Mal in den Keller gestiegen und hatte einige Zeit damit verbracht, das tote Vieh mit einer Mischung aus Grauen und Faszination zu betrachten. Tatsächlich war es nicht Faulheit, die lag ihr fern, sondern die Unfähigkeit, sich ganz von dem Anblick dieses konservierten Todes zu trennen, die sie zu ihrem eigenen Erstaunen, und obwohl sie ihre Untätigkeit missbilligte, davon abhielt, die Ratte in eine Mülltonne zu verfrachten.
Als die Dicken geraume Zeit später den Keller verließen und die Treppe heraufkeuchten, war Martha das als passende Gelegenheit für einen Gruß erschienen, in der Hoffnung, damit ein Gespräch eröffnen und Neuigkeiten erfahren zu können. Der Weißgesträhnte hatte den Weg in ihre Augen gefunden und höflich einen guten Morgen gewünscht, während die Frau es bei einem unwilligen Nicken beließ und, so schien es Martha, und damit lag sie vollkommen richtig, geradezu vermied, sie anzusehen.
Martha hatte die Ereignisse der vergangenen Wochen längst miteinander abgeglichen – die schriftliche Aufforderung, die Miete künftig auf das Konto einer neuen Eigentümerin zu überweisen, den Aushang im Hauseingangsbereich mit der Telefonnummer einer neuen Hausverwaltung, die kräftigen Kerle, die seit einigen Tagen in den lange schon leerstehenden Wohnungen im zweiten und dritten Stock rumorten und von dort allerlei Balken und Gerümpel zur Straße schleppten, wo direkt vor der Martin-Opitz-Straße 5 ein Container Aufstellung genommen hatte, der sich rasch zu füllen begann und schon das Interesse eines Schrottsuchers geweckt hatte. Der kam seither täglich vorbei. Nun waren noch die beleibten Personen im Hinterhof aufgetaucht.
Seit dem Erscheinen von Sybilla wartete Martha gespannt, wie diese auf die Besucher reagieren würde, denn die fortschreitende Gentrifizierung des Wedding, wie Sybilla es nannte, war deren Lieblingsthema. Seit Jahren empörte sie sich gegen die schleichende Umwandlung ihres ›Heimatbezirkes‹, wie sie den Wedding nannte, war schon vor Jahren aufgeschreckt, als die Kunstszene die Stadtmitte verlassen hatte und von der Rosenthaler herkommend demonstrativ die Brunnenstraße hochmarschiert war. Selbst die Bernauer hatte sie gequert, jene legendäre Straße, die man noch vor einem halben Jahrhundert nur durch den Sprung aus dem Fenster, später dann durch heimlich gegrabene Tunnel hatte über- oder besser unterwinden können und die nun die Grenze zwischen der zentral gelegenen bürgerlichen Wohngegend und dem prolligen Wedding im Norden markierte. Im Norden, so hatten die Künstler und Künstlerinnen angekündigt, würden sie sich nunmehr in Wohnungen und Ateliers ausbreiten, bis auch dieses frisch kolonialisierte Gebiet durch sie und ihr Gefolge so weit aufgewertet wäre, dass es auf ihre Pioniere verzichten konnte und die weniger erfolgreichen unter ihnen mit hohen Mieten weiter hinaus an den Stadtrand katapultierte.
›Aufgewertet‹, hatte Sybilla gewettert, ›als wäre deren Kunst das Maß aller kulturellen Werte‹, und wieso das mit breitem Klebeband an die Außenwand des in der Gerichtsstraße befindlichen stillgelegten Weddinger Stadtbades getapte Bild eine wertvollere Lebens- und Ausdrucksform darstellen sollte als die gesellige Skatrunde im Magendoktor.
Allerdings blieb die Kischotta trotz ihres lautstarken Einsatzes für die Traditionen des Arbeitslosenbezirkes als Weddingerin fragwürdig. Obwohl sie seit einem Vierteljahrhundert in der Gegend lebte, kannte sie neben Rosa, Karin, Martha und den Leuten aus dem Dralle keine Menschenseele, kaum dass sie die Nachbarn auf der Straße grüßte. Ihre Freundinnen wohnten anderswo in Berlin, und zum Ausgehen reiste sie nach Prenzlauer Berg, Charlottenburg,...