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E-Book, Deutsch, Band 70, 493 Seiten

Reihe: Theorie und Gesellschaft

Buchstein Demokratie und Lotterie

Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU

E-Book, Deutsch, Band 70, 493 Seiten

Reihe: Theorie und Gesellschaft

ISBN: 978-3-593-40522-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Kann man in der aktuellen Politik bei der Lösung von Problemen das Los zur Hilfe nehmen? Hubertus Buchstein sagt ja und legt dar, dass es seit einiger Zeit eine Renaissance des Loses als Entscheidungsinstrument gibt: So werden Geschworene per Los ausgewählt und das Los entscheidet auch, welche Soldaten für Einsätze rekrutiert werden. Bereits seit der Antike gibt es Losverfahren in der Politik. Dort und auch in den folgenden Jahrhunderten wurden sie vielfältig eingesetzt, bis die Lotterie dann im 18. Jahrhundert aus dem politischen Leben verschwand. Buchstein schlägt damit in seinem Buch einen Bogen von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart. Mit Blick auf Debatten zur Reform der Europäischen Union stellt der Autor dar, wie moderne Demokratien vom geschickten Einbau von Losverfahren profitieren können.
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Inhalt

Einleitung

I. Die facettenreiche Vergangenheit des Losens

Kapitel 1: Das Los in der athenischen Demokratie
1. Der Beginn des Losens in Athen
2. Das Kleroterion - Zur Technik der Losmaschinen
3. Die Verlosung der Mitgliedschaft in der Boule
4. Wählen und Losen bei den Beamten
5. Lotterie für eine politische Reflexionsschleife: Die Dikasterien
6. Ausgeloste Gesetzgeber: Die Nomotheten

Kapitel 2: Los und Wahl in der athenischen Demokratiedebatte
1. Los und Wahl in den ältesten Verfassungsdebatten
2. Das Losverfahren als Zielscheibe der zeitgenössischen Demokratiekritik
3. Platons Demokratiekritik und das Los
4. Wahl und Los bei Aristoteles
5. Die zwei Freiheiten der Demokratie
6. Tyche und Kalkül - Die praktischen Funktionen des antiken Losens
7. Schluss

Kapitel 3: Republikanische Lotterien
1. Die ›sortitio‹ in der römischen Republik
2. Vom Kleroterion zum Klerus: Das Los in der jüdisch-christlichen Tradition
3. Die Neuerfindung der ›imborsazione‹ in den italienischen Republiken
4. Das Los und die Wahl in der Republik Venedig
5. Die Kämpfe um das Los in Florenz
6. Schluss

Kapitel 4: Das leise Ende des Losens
1. England im 17. Jahrhundert: Hobbes und Harrington
2. Frankreich im 18. Jahrhundert: Montesquieu und Rousseau
3. Das Los in der amerikanischen und französischen Revolution
4. Demokratie ohne Lotterie im 19. Jahrhundert
5. Schluss

II. Die Funktionsvielfalt des Losens

Kapitel 5: Die Lotterie und ihre Rivalen
1. Die Allokationsrivalen des Losens
2. Die Lotterie als Kombinationspartner
3. Schluss

Kapitel 6: Der Zufall, das Los und die Gerechtigkeit
1. Visionen einer ›Radikalen Lotterie-Gesellschaft‹
2. Die Lotterie in John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit
3. Zwischen Losland und Rawlsanistan
4. Gründe für Grundlosigkeit
5. Schluss

Kapitel 7: Logiken des Losens
1. Los mit Politik: Praktische Argumente für Lotterien
2. Politik statt Lotterie: Die Gegenargumente
3. Schluss

III. Lotterie und Demokratie heute
Kapitel 8: Die neue Normativität des Losens: Lotterie und deliberative Demokratietheorie
1. Die Rückkehr der Lotterie in der amerikanischen Jury
2. Das Demokratieproblem der deliberativen Demokratietheorie
3. Auf dem Weg zu einer aleatorischen Demokratietheorie
4. Schluss

Kapitel 9: Demokratie mit Lotterie
1. Das Los als Tie-Breaker
2. Kompromisserzwingung durch das Los
3. Wahltermin- und Wahlbezirksauslosung
4. Wahlbeteiligungslotterie
5. Loskammer und LosMiniLand
6. LosWahl und WahlLos
7. Schluss

Kapitel 10: Losverfahren als Instrumente einer reformierten EU
1. Die Problemdiagnose: Demokratiedefizit, Ineffizienz und Intransparenz in der EU
2. Gewichtete Lotterien für die Kommissare stellenden Länder
3. Auslosungen in den Ausschüssen im Europäischen Parlament
4. Das ›House of Lots‹ des Europäischen Parlaments.
5. Schluss

Kapitel 11: Ausblick: Das Los und die zweite räumliche Transformation der Demokratie

Literatur.

Personenregister


Einleitung

Politik und Lotterie - das sind in unserem heutigen Sprachgebrauch zwei miteinander unvereinbare Gegensätze. Wer assoziiert mit ›Lotterie‹ nicht spontan erst einmal ›6 aus 49‹, eine Tombola oder andere Glücksspiele? Politik soll demgegenüber auf dem genauen Gegenteil zum Spiel mit dem blinden Zufall basieren - sie soll im Idealfall eine Sphäre des vernünftigen Arguments und der klug abwägenden Entscheidung sein. Es ist das Ziel dieses Buches, seine Leser davon zu überzeugen, die strikte Trennungsmauer zwischen Politik und Lotterie aufzubrechen und dem Zufallsmechanismus einen sichtbaren Platz in der modernen Demokratie einzuräumen.
Dass die rigide Trennung neueren Datums ist, belegt schon die wortgeschichtliche Überlieferung von ›Lotterie‹. Denn ursprünglich wurde das Wort in einem politischen Kontext kreiert. Der Begriff ›lotteria‹ kam im 12. Jahrhundert in der oberitalienischen Stadtrepublik Genua in Gebrauch, um damit eine neu erfundene Art von Wetten zu bezeichnen, bei der die vor dem Rathaus ungeduldig wartenden Zuschauer Geldwetten darauf abschlossen, wer bei der turnusmäßigen Auslosung der städtischen Ratsherren unter den Angehörigen der tonangebenden Familien zum Zuge kommen würde. Aus dieser Art Zweitnutzung der Ratsherrenauslosungen entwickelte sich das heute weltweit verbreitete Zahlenlotto. Von seinem politischen und republikanischen Ursprung trat das Wort über die französische ›loterie‹ seinen Siegeszug in die meisten anderen europäischen Sprachen an; bezüglich der deutschen Sprache ist der Import von ›Lotterie‹ sogar noch um eine Drehung verwickelter.

Doch ich will auf das etymologische Hin und Her, das sich in den einschlägigen Lexika genauer nachlesen lässt, nicht weiter eingehen. Es wurde nur erwähnt, weil die wechselvolle Wortgeschichte ein anschauliches Präludium zu dem verwickelten Los des Loses in der Politik liefert. Denn auf Auslosungen stoßen wir in der Geschichte politischer Ordnungssysteme nicht nur in der Antike, sondern auch mehrfach danach und in sehr unterschiedlichen praktischen Handhabungen. Mindestens genauso vielfältig wie seine technischen Varianten waren auch die Funktionen, die das Losverfahren im Rahmen verschiedener politischer Systeme ausübte. Diese funktionale Vielfalt herauszuarbeiten, sie vergleichend zu analysieren und mit Blick auf Anknüpfungspunkte für heute anstehende Demokratiereformen zu betrachten, gehört zu den Zielen dieses Buches.

Ein weiteres Anliegen des Buches ist, einen systematischen Überblick über die seit einigen Jahren in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen neu aufgenommenen Debatten über den Sinn oder Unsinn von Losverfahren zu geben. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dabei vor allem die Frage, ob und welche Schlussfolgerungen sich aus diesen Debatten für den Gebrauch von Losverfahren in modernen Demokratien ziehen lassen. Kontroversen über Losverfahren haben zwar eine lang zurückreichende Tradition in der Politischen Ideengeschichte; zwischenzeitlich war das Interesse am Thema Los im 19. und 20. Jahrhundert allerdings nicht nur in der Politischen Theorie, sondern in sämtlichen Zweigen der Politikwissenschaft und auch in ihren Nachbardisziplinen nahezu vollständig erloschen. Zu einem ernsthaft diskutierten Thema ist das Losen erst wieder in den vergangenen vier Dekaden im Zuge der Einführung von Auslosungen für die Jurymitglieder in US-amerikanischen Geschworenengerichten geworden. Seitdem sind verschiedene Arbeiten, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Lotterien beschäftigen, erschienen. In der Philosophie und in der Rechtstheorie entspann sich eine Debatte über Losverfahren und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Als zweiter disziplinärer Strang entwickelte sich die ökonomisch orientierte Entscheidungstheorie, deren Beiträge von Jon Elster und Fredrick Engelstad in Studien über das Rationalitätspotential von Lotterien zusammengeführt wurden. Einen dritten Strang markieren neuere Arbeiten von James Fishkin, Yves Sintomer und anderen Politikwissenschaftlern, die sich mit praktischen Versuchen beschäftigen, politische Beratungssituationen mit der Zufallsauswahl von Bürgern zu verbinden. Zuletzt hat das Losverfahren in Studien von Bernard Manin und Oliver Dowlen auch das Interesse der Politischen Ideengeschichte gefunden.

Meine Überlegungen bauen auf diesen und anderen Arbeiten auf und verdanken ihnen viel. Doch so scharfsinnig die Beiträge von Jon Elster zum Losverfahren in analytischer Hinsicht sind, so unentschlossen ist er, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob dem Los in modernen Demokratien ein Platz eingeräumt werden soll oder nicht. Bernard Manin, dem das Verdienst zukommt, die erste größere ideengeschichtliche Aufarbeitung zu Auslosungen vorgelegt zu haben, zeigt an diesem Punkt klarere Konturen. Er deutet die Lotterie als ein radikaldemokratisches Verfahren der griechischen Antike, das in der modernen Demokratie unserer Tage keinen Platz mehr hat und haben soll; demgegenüber möchte ich aufzeigen, dass moderne Demokratien von geschickten Einbauten des Lotteriegedankens profitieren könnten. In zentralen Punkten weiche ich also von beiden Autoren ab, und zwar sowohl was die historische und ideengeschichtliche Deutung von Losverfahren betrifft als auch was die Chancen und Möglichkeiten des zukünftigen Einsatzes von Lotterien in modernen Demokratien angeht.

Der Argumentationsgang und die damit verbundene demokratiepolitische Stoßrichtung des Buches lassen sich in fünf Schritten zusammenfassen:

1. Den Beginn macht eine Genealogie politischer Lotterien. Dabei setze ich mich mit der heute vielfach anzutreffenden Deutung auseinander, nach der das Losverfahren ideengeschichtlich mit der Demokratie und die Wahl mit der Aristokratie identifiziert werden. Unlängst hat Jacques Rancière in einer einflussreichen Kritik an der westlichen Demokratie einmal mehr den verlorenen demokratischen Geist von Losverfahren im antiken Athen zelebriert und im selben Atemzug den Vorwurf an die moderne westliche Demokratie gerichtet, sie wäre bestenfalls eine Aristokratie. Solche Sätze mögen in manchen Ohren erfrischend provokant und radikal klingen; zu einem Verständnis der vielfältigen politischen Funktionen von Lotterien in der langen Geschichte politischer Institutionen tragen sie jedoch wenig bei. Noch ärgerlicher ist, dass eine derartige Vereinnahmung der antiken Lotterie durch rhetorische Radikaldemokraten den Horizont der Antworten auf die Frage, ob und wie moderne politische Systeme vom Einsatz des Loses profitieren könnten, in unnötiger Weise verengt. Dagegen möchte ich die Vielfalt der politischen Funktionen von Lotterien nicht nur im antiken Athen und im republikanischen Rom, sondern auch in den späteren oberitalienischen Stadtrepubliken in Florenz und Venedig und ihren späteren Nachklängen herausarbeiten. Durch diese - streckenweise auch historische Detailfragen berührenden - Analysen soll in den ersten Kapiteln des Buches der Blick für die Formenvielfalt und die Multifunktionalität, die Lotterien in der Vergangenheit hatten, geschärft werden. Auch wenn das Losverfahren dadurch an gegenwärtigem radikaldemokratischem Appeal verliert, hat die differenzierte Deutung insofern einen eigenen reformpolitischen Charme, als sie den Blick für potentielle Funktionen von Lotterien in modernen politischen Systemen schärft.

2. In den dann folgenden Kapiteln wird versucht, die disparaten neueren Diskussionsstränge zum Thema Lotterie so aufeinander zu beziehen, dass sie den Hintergrund für eine demokratiepolitische Reformagenda bilden, die nicht mehr nur von einer einzigen Funktion des Losens zehrt, sondern mehrere Funktionen ihrer breiten funktionalen Palette zur Geltung kommen lässt. Wichtig für ein derartiges Vorhaben ist es, Einwänden entgegentreten zu können, die das Losen mit purer ›Irrationalität‹ assoziieren. Ich unterscheide zu diesem Zweck verschiedene ›Logiken des Losens‹ und sammle aus der einschlägigen Literatur eine Reihe an Entscheidungssituationen zusammen, in denen auch heute der Rückgriff auf Losverfahren wohlbegründet ist. Häufig lassen sich die positiven funktionalen Effekte von Lotterien allerdings weniger in ihrer puren Anwendung, sondern erst in der Kombination mit anderen Bestellungs- und Allokationsmethoden zur Geltung bringen. Übertragen auf den Bereich politischer Verfahren bedeutet dies beispielsweise für das Verhältnis von Losverfahren und Wahlen, es nicht als ein Nullsummenspiel zu betrachten, sondern nach Wegen zu suchen, beide produktiv miteinander zu verbinden.

3. In Anknüpfung an die Rolle des ›Zufälligen‹ im Werk von John Rawls wird dann ausführlicher der gerechtigkeitstheoretische Status von Losverfahren diskutiert. Die Kritik von Rawls am universalen Gerechtigkeitsanspruch von Lotterien lautet zusammengefasst, dass in allen Verteilungskonstellationen, in denen ein strikter Egalitarismus nicht gerecht ist, Verlosungen ungerecht wären. Rawls zieht aus seiner Kritik am moralischen Universalitätsanspruch des Losens die Schlussfolgerung, dem Los auch im institutionellen Aufbau liberaler Demokratien keinen Platz einzuräumen. Diese Konsequenz - so meine These - ist so voreilig wie unplausibel und lässt das funktionale Potential von Losverfahren brachliegen.

4. Im weiteren Argumentationsgang umreiße ich dann die Konturen einer ›aleatorischen Demokratietheorie‹, die innerhalb des Lagers der deliberativen Demokratietheorie die Stärken ihrer gegenwärtig miteinander konkurrierenden voluntaristischen und epistemischen Stränge kombiniert, ohne sich zugleich auch deren jeweilige Schwächen einzuhandeln. Eine empirische Rückendeckung erhalten diese Überlegungen von Projektberichten und Evaluationen einer ganzen Reihe praktisch durchgeführter ›Deliberative Opinion Polls‹, ›Bürgerforen‹ oder ›Konsensus-Konferenzen‹, deren Teilnehmer zuvor per Losverfahren ermittelt wurden.

5. Zusätzlich lässt sich eine ganze Reihe weiterer Einsatzmöglichkeiten von Lotterien in modernen Demokratien vorstellen, die jeweils mit spezifischen Funktionen operieren. Mittlerweile gibt es einen bunten Pool voll mit Ideen, mittels des Loses zu Lösungen für ganz unterschiedliche Probleme moderner Demokratien zu gelangen; doch so originell und anregend viele dieser Vorschläge sind, für konkrete Reformvorhaben sind sie erst dann geeignet, wenn sich ihre funktionalen Effekte präzise in den Rahmen bestehender institutioneller Designs einpassen lassen. An diesem Punkt setzt abschließend ein Reformvorschlag für das Regierungssystem der Europäischen Union an. Plädiert wird für den gezielten Einbau von Losverfahren an drei Stellen im politischen System der EU. Konkret wird die Verteilung der Sitze in einer verkleinerten Europäischen Kommission auf die Mitgliedsstaaten durch eine gewichtete Lotterie, die Auslosung der Mitglieder, Vorsitzenden und Berichterstatter der Ausschüsse des Europäischen Parlaments sowie die Einführung einer zweiten, gelosten Kammer des Parlaments vorgeschlagen.


Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald.


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