Dänzer | Der Schlüssel zur Tragödie | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 247 Seiten

Dänzer Der Schlüssel zur Tragödie

Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8233-0235-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk

E-Book, Deutsch, 247 Seiten

ISBN: 978-3-8233-0235-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
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Der Jesuit Jakob Balde (1604-1668), der 'deutsche Horaz', ist als einer der bedeutendsten Lyriker der Frühen Neuzeit bekannt. Wenig Beachtung hat man hingegen seinem vielfältigen dramatischen Werk geschenkt, dem sich der vorliegende Band widmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein Kernelement der dramatischen Technik Baldes: Der tragische Chor. Baldes Chor entsteht aus der selbstbewussten intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Chor der senecanischen Tragödien, für dessen Funktion eine Neubestimmung vorgeschlagen wird. Damit bietet der Band grundlegende Einsichten in das dramatische Schaffen zweier unterschätzter Tragiker: Seneca und Balde.

Caroline Dänzer ist Lehrbeauftragte an der Universität Würzburg.

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2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder
Trotz manifester Probleme und ihrer noch immer strittigen Funktionsweise werden die Chorlieder in aktueller Forschungsliteratur oft einfach übergangen. So fehlen Untersuchungen zum Chor sowohl im aktuellen Brill’s Companion to Roman Tragedy1 als auch im Cambridge Companion to Seneca..2 Die wichtigsten Deutungsrichtungen seien an dieser Stelle exemplarisch umrissen. Leos Stigmatisierung der Lieder als Zwischenaktspiele3 und damit die Degradierung hin zu reinen ?µß???µa wird inzwischen von der Forschung weitgehend abgelehnt. Ein Handlungsbezug wird vor allem auf der Ebene einer inhaltlich-thematischen Beziehung gesucht.4 Hierbei lassen sich verschiedene Kategorien klassifizieren, die Hand in Hand mit den Deutungsversuchen der Tragödien insgesamt gehen: Besonders häufig werden die Chorlieder als Ausdrucksmittel von philosophischen Haltungen gesehen.5 Ferner werden politische Elemente herausgearbeitet, um die Annahme zu stützen, die Tragödien seien dazu bestimmt, die „politische pravitas“6 aufzuzeigen. Neben diesen inhaltlichen Zuordnungen finden sich Interpreten, die im senecanischen Chor vor allem ein technisches Element sehen wollten, das beispielsweise Zeit für Kostümwechsel ermögliche7 oder der reinen Unterhaltung diene.8 Einige Analysen konzentrieren sich auf die Metrik, die jedoch sehr mechanisch und wenig auf ihre Bedeutung untersucht wird.9 Bisweilen werden die Chorpassagen als Redeteile gesehen und tragen somit der Meinung Rechnung, die Tragödien hätten vor allem rhetorischen Charakter.10 Dass politische und philosophische Ebenen in die Chorlieder eingebettet und nicht einfach voneinander zu trennen sind, ist inzwischen hinreichend erwiesen.11 Strittiger ist, in welchem konkreten Zusammenhang die Chorlieder zur Aussage der gesamten Tragödie stehen und nach welchem System sie funktionieren. Als problematisch wird hier vor allem die Tatsache bewertet, dass der Inhalt der Chorlieder oft widersprüchlich erscheint, sei es, dass einzelne Lieder konträre Positionen verträten oder dass sich diese nicht mit der dramatischen Handlung vereinbaren ließen. Zwierlein sieht diese Inkonsequenzen gar als Beweis für eine Nichtaufführbarkeit der Stücke.12 Ein Erklärungsansatz hierfür beruht auf der Methode, die Lieder als selbstständige Einheit und losgelöst von der dramatischen Handlung zu betrachten. Töchterle nimmt die Konzeption der Chorlieder schon bei den griechischen Tragikern als „stock of songs“ an, also als thematischen Fundus, aus dem sich der Autor bedienen konnte, um passende Chorlieder später für die jeweilige Tragödie auszuwählen.13 Als losgelöst von der Handlung betrachtet auch Haywood die Chöre und klassifiziert sie als „individual pieces of lyric poetry.“14 Auch Cattin erwägt die Möglichkeit, die Chorlieder seien ganz ohne Bezug zu einem bestimmten Stück geschrieben worden.15 Cattin ordnet die Lieder bzw. sogar einzelne Verse verschiedenen thematischen Untergruppen zu („Les thèmes philosophiques, pathétiques, pittoresques“), wobei ein Mehrwert auf interpretativer Ebene jedoch nicht erreicht wird.16 Davis sieht einen engeren Bezug zwischen Chor und Handlung. Ein wichtiger Schritt in seiner Arbeit ist das Aufzeigen von Parallelen einzelner Junkturen in Chorliedern und Sprechpartien der jeweiligen Tragödie, was der „stock of songs“-These deutlich widerspricht. Er kommt zu dem Schluss, hervorzuheben sei die „significance of choral odes for interpretation of the plays.“17 Dabei müsse man jedoch scharf unterscheiden zwischen Seneca dem Philosophen und Seneca dem Dramatiker. Der philosophische Inhalt der Chorlieder sei lediglich zu dramaturgischen Zwecken gebraucht, um beispielsweise zu vertiefen, wie eine Figur denke oder fühle.18 Dies erscheint oberflächlich. Dass viele Lieder tiefgehenden philosophischen Gehalt haben, ist schwer von der Hand zu weisen. Deren sinnhafter Zusammenhang wird freilich zerstört, wenn man die Chorpartien, wie es in der Untersuchung von Davis geschieht, ebenfalls aus ihrem Kontext löst und nur die Bezüge zur Handlung zulässt, die in das Interpretationsschema passen. So klassifiziert Davis die Lieder in die Unterkategorien mythology, philosophy und prayer und nutzt somit die Ergebnisse, die er über die Verknüpfung von Akt und Chorlied gewonnen hatte, kaum. Auch Mazzoli stellt den Zusammenhang zur Handlung in der Zuordnung der Chorlieder zu verschiedenen Kategorien her, die in jeweils unterschiedlichem Beziehungsgrad zum Aktgeschehen stünden. So unterscheidet er Kategorie K (kairós) als realen Bezug zur dramatischen Handlung, G (gnomé) für allgemeine Sinnsprüche und M (mythos), für mythische Beispiele und Verweise.19 Zwar lassen sich die Lieder leicht nach diesem Schema klassifizieren, jedoch führt diese Zuteilung auf inhaltlich-interpretativer Ebene nicht weiter. Die Ablösung der Chorlieder von der Handlung und deren Neuordnung nach Untergruppen trägt keinesfalls dem ursprünglichen Kompositionsprinzip Rechnung, da der Chor so aus dem dichten Geflecht gerissen wird, in dem er eigentlich geschaffen wurde. Dass die Chorpassagen offensichtlich als integraler Bestandteil eines bestimmten Theaterstückes konzipiert und nicht als separates Liederbuch komponiert worden sind, beweisen manifeste Bezüge und Einbettungen in den ganz spezifischen Kontext sowie in einen festgeschriebenen Gedankenverlauf. Gil betrachtet zwar die Lieder noch als losgelöst von der restlichen Tragödie, hält den Chor jedoch immerhin für ein Hilfsmittel zum Verständnis der Stücke. Problematisch ist dabei seine Auffassung, der Chor gebe „Hinweise, die dem Leser genügen, um die Handlung stoisch zu beurteilen.“20 Dies lässt sich nur auf einige wenige Lieder anwenden, denn eine große Anzahl ist gerade nicht stoischen Inhalts und scheint eher Verwirrung als Klarheit zu stiften. Gil unterteilt deshalb in Lieder mit und ohne Handlungsbezug.21 Stevens kommt zu dem Schluss, der Chor sei ein „completely ignorant observer whose impressions create ambiguity and tempt the audience to misunderstand the action.“22 Dieser Ansatz sieht den tragischen Chor als Kontrastfolie zum Aktgeschehen. Der Chor sei ein „uninformed informer“, der naiv die Geschehnisse auf der Bühne interpretiere und die Entscheidung, welche seiner Sichtweisen zu übernehmen oder zu verwerfen seien, dem Urteil des Rezipienten überlasse.23 Diese scheinbare Naivität des Chores deutet Stevens als ironische Umkehrung des allwissenden griechischen Chores.24 Eng an diese Deutung schließt sich Fischer an, die im Chor einen Widerhall von „populärphilosophische[n] Meinungen“25 und damit keinen Vermittler von ernstzunehmenden Aussagen des Stückes sieht.26 Das Problem an Stevens und Fischers Auffassung des Chores ist, dass diese Erklärung nur für die Lieder Gültigkeit beanspruchen kann, in denen tatsächlich Widersprüche zur Handlung nachzuweisen sind. Oftmals entsprechen die Chorpartien jedoch dem senecanischen Weltbild. Weiter greift der Ansatz von Kirichenko: Er nimmt zunächst an, dass der senecanische Chor „nur die Rolle eines klassischen tragischen Chors spielt.“27 Der Chor verfügt somit über eine gewisse Distanz und präsentiere sowohl Wahres als auch Falsches, erzeuge aber gerade durch die Vermengung zwischen Fiktion und Wahrheit eine emotionale Erschütterung beim Leser, die diesem den Weg zu einer intellektuellen Erkenntnis eröffne.28 Gerade in der Widersprüchlichkeit der Aussagen des Chores liege somit dessen Funktion als ‚lehrreiches Trugbild‘: „Die auf den ersten Blick zerrissene, sich selbst widersprechende Stimme des Chors erweist sich somit paradoxerweise als diejenige Instanz, die den disparaten, verwirrenden Sinneseindrücken, denen wir in Senecas Tragödien ausgesetzt sind, eine einheitliche Bedeutung verleihen kann. Es handelt sich dabei natürlich nicht um den – einzig richtigen – Sinn der jeweiligen Tragödie […], sondern um einen anhand des Bühnengeschehens erzielten Sinnesentwurf.“29 Kirichenko betont hier zurecht die Konzeption der senecanischen Tragödien als Pool von Möglichkeiten, die sich für die Interpretation eröffnen. Genauso wenig bleiben die Chorlieder auf eine einzige Deutungsrichtung beschränkt. Allerdings ist es wichtig festzuhalten, dass die Chorlieder nicht einfach willkürlich Übereinstimmungen oder Widersprüche in sich und zur Handlung aufweisen, sondern dass sie sich auf ein geordnetes System zurückführen lassen. Bishops Arbeiten zum Chor betonen diese strukturierte Komposition der Chorlieder. Er nimmt an, dass sich die Tragödie in zwei Stränge unterteilen lasse, die dramatic line, also die Bühnenhandlung, und die odic line, die Handlung in den Chorliedern.30 Diese beiden Ebenen verliefen zwar parallel zueinander und seien vielfältig miteinander verzahnt, doch für sich genommen autark.31 Dennoch ergebe sich der volle Sinn der beiden Komponenten erst durch ihr Zusammenspiel: „The odic line is only an interesting series of poems unless the dramatic line is there to work out the...



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