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Demand / Knörer MERKUR 9/2025, Jg.79

Nr. 916, Heft 09, September 2025
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12444-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Nr. 916, Heft 09, September 2025

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches

ISBN: 978-3-608-12444-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Wir leben in einer Erbengesellschaft', stellt Andreas Reckwitz gleich zu Beginn seines Essays 'Vom Erben' fest - und erklärt dann, in welchen Hinsichten davon die Rede sein kann. Von vielen Seiten wird das postkoloniale Denken in den letzten Jahren attackiert. Sebastian Conrad sondiert die Lage und betont dessen Verdienste. Daniel Ehrmann und Erika Thomalla mischen sich in die Debatte, die Gerhard Lauers Essay zur 'neuen literarischen Öffentlichkeit' aus dem Märzheft des Merkur ausgelöst hat. In der dritten Folge seiner Reihe zur 'sozialen Farbe' macht Timon Beyes vielfältig blau.   Hanna Engelmeier liest in ihrer neuen Literaturkolumne Sachbücher und Literarisches zum Thema Menopause und Midlife-Crisis. Ernst-Wilhelm Händler fragt:  Was leistet die Literatur, was kann sie leisten im Vergleich mit ihren medialen Rivalen aus den Bereichen Streaming und Pop? Und Christian Wiebe begibt sich auf die doppelte Spur von Hedwig Thun und Engelbert Kämpfer.    Der Versuch, seinen Kindern die von ihm nicht mehr mühelos beherrschte eigene Muttersprache Vietnamesisch beizubringen, konfrontiert Trung Hoàng Lê mit seinem eigenen Verhältnis zu dem Land, aus dem seine Familie stammt. In einem Vorabdruck aus Ozan Zakariya Keskink?l?çs Roman Hundesohn träumt der Ich-Erzähler unter der Überschrift 'Dede Issues' von seinem Großvater und der Türkei. In ihrer Schlusskolumne kann nicht nur Anke Stelling nicht wissen, was 'Im Innern von Andern' so alles vorgeht.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
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Weitere Infos & Material


ESSAY

Andreas Reckwitz

Vom Erben

Sebastian Conrad

Postkoloniale Theorie und Antisemitismus

Daniel Ehrmann/Erika Thomalla

Die alte populäre Öffentlichkeit.

Die kulturellen Hierarchien eines sich wandelnden Buchmarkts

Timon Beyes

Soziale Farbe (III).

Blau machen

KRITIK

Hanna Engelmeier

Literaturkolumne.

Neues über die Mitte des Lebens.

Ernst-Wilhelm Händler

Warum Olivia, Taylor und Euphoria mega sind, und was das für die Literatur bedeutet

Christian Wiebe

„Verstrickt in das Netz der eigenen Linien“

Hedwig Thuns Roman über Engelbert Kämpfer

MARGINALIEN

Trung Hoàng Lê

Sprachverlust und Migration

Ozan Zakariya Keskinkiliç

Dede Issues

Anke Stelling

Im Innern von Andern


Beiträge


DOI 10.21706/mr-79-9-5

Andreas Reckwitz

Vom Erben


Wir leben in einer Erbengesellschaft. Dies gilt bereits für den einfachsten, den vordergründigen Fall: Seit den 2000er Jahren vererben in Deutschland die wohlhabenden Nachkriegsgenerationen an ihre Kinder und andere Verwandte jedes Jahr Vermögenswerte in Höhe von etwa 250 Milliarden Euro.1 Die Konsequenz ist einschneidend: Der soziale Status, den man im Laufe des Lebens erreicht, hängt für die Generationen, die nach 1970 geboren sind, der Tendenz nach immer weniger vom selbst erarbeiteten Einkommen und immer mehr davon ab, ob man erbt oder nicht. Das familiäre Erbe entscheidet so in erheblichem Maße über den Lebenserfolg – mit allen sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsproblemen.

Die Erbengesellschaft der Gegenwart erschöpft sich jedoch nicht in Vermögensfragen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich in der Spätmoderne auf verschiedenen Ebenen generell das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärft, mit Erbschaften vergangener Generationen konfrontiert zu sein. Man betrachtet sich und andere unter dem Aspekt, dass man als Individuum, als soziale Gruppe, als Nationalgesellschaft, ja als Spezies Homo sapiens in der Gegenwart aus der Vergangenheit etwas erbt oder in der Zukunft etwas vererben wird. Dabei kann es sich um ein positives und erfreuliches, um ein negatives und desaströses oder ein von vornherein ambivalentes Vermächtnis handeln. Es gilt: Man kann nicht nicht erben.

Jacques Derrida argumentiert 1993 in seiner Schrift Marx’ Gespenster, richtig zu leben bedeute stets, mit der Gegenwärtigkeit der Toten zu leben.2 Die Toten seien niemals vollständig tot, sie seien wie Gespenster notwendig weiterhin anwesend. Die Gegenwart werde vom Erbe der Vergangenheit heimgesucht. Derrida formuliert eine allgemeine philosophische Position, aber kommentiert damit zugleich einen Zusammenhang, der seit den 1990er Jahren immer deutlicher wird: Die westlichen Gesellschaften sind mit einer Vergangenheit konfrontiert, die nicht vergehen will. Insbesondere die Gewaltgeschichte Europas und Nordamerikas, die bis in die Gegenwart hinein ihre Spuren hinterlässt, ist zu einem prominenten Gegenstand der spätmodernen Erinnerungskultur geworden.

Allerdings lässt sich das Erbe, mit dem die Gesellschaft als Ganze umgeht, keinesfalls ausschließlich auf eine belastende Hypothek reduzieren. Es ist bezeichnend, dass zeitgleich zur gesteigerten Sensibilität für das moderne Gewalterbe auch der Sinn für das gewachsen ist, was man das kulturelle Erbe der Vergangenheit, das cultural heritage, nennt. In institutionalisierter Weise wird es von der UNESCO in ihrem immer weiter expandierenden Programm des Weltkulturerbes verwaltet. Ihr Ausgangspunkt lautet, dass die Geschichte ihre eigenen, auch heute noch wertvollen Güter hervorgebracht hat, die als »Erbe der Menschheit« anhaltend eines Schutzes vor Zerstörung bedürfen.

Aber auch damit ist die Präsenz des Erbes in der Gegenwartskultur noch nicht erschöpft. Mir geht es um ein Panorama der auf den ersten Blick disparaten Kontexte, in denen in der zeitgenössischen Kultur das Erbe verhandelt wird, und um einen Problemaufriss der Perspektivverschiebung, die damit verbunden ist. Die Relevanz des Erbes in der Gegenwartsgesellschaft festzustellen ist nämlich kein nebensächlicher Befund. Vielmehr wird damit ein grundsätzlicher struktureller und kultureller Wandel deutlich, der einige der leitenden Kategorien dessen, was die gesellschaftliche Moderne klassischerweise ausmachte, außer Kraft setzt: In der Transformation von der klassischen Moderne zur Spätmoderne, wie sie sich seit den 1970er und achtziger Jahren vollzieht, wird eine Rekonfiguration des Verhältnisses der Gesellschaft und ihrer Subjekte zu Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit sichtbar. Das Phänomen des Erbes spielt für diese Rekonfiguration eine zentrale Rolle.


Spätestens seit Reinhart Kosellecks Studien zur historischen Semantik gilt als Konsens, dass die historische Außergewöhnlichkeit der modernen Gesellschaft, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert mit Aufklärungsphilosophie, Industrialisierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Individualisierung entwickelt hat, in ihrer exzeptionellen Zukunftsorientierung wurzelt.3 Für die Modernen bricht die Kontinuität zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auf. Die Zukunft, so lautet ihr Credo, werde ganz anders sein – und zwar besser. Zukunftsorientierung geht so mit Fortschrittsgewissheit einher. In diesem klassisch-modernen Zeitregime, wie es das 19. und 20. Jahrhundert beherrschte, büßt die Vergangenheit entsprechend ihren Stellenwert als Bezugspunkt für die Orientierung der Gegenwart ein. Sie erscheint vielmehr als ein überholter Zustand, den man glücklicherweise hinter sich gelassen hat.

Was den Stellenwert eines etwaigen Erbes angeht, hat diese Zeitstruktur eine einschneidende Konsequenz: Das Erbe steht in der Moderne unter Verdacht.4 In der Filiation von Erbschaften, von Erblassern und Erben zu denken und diese zuzulassen, erscheint nun als ein vormodernes, ein traditionales, ja illegitimes Relikt. Die Kontinuität des Erbe(n)s will die Moderne in ihrem Diskontinuitätsanspruch ein für alle Mal kappen. Sie suggeriert, dass es grundsätzlich nicht nur wünschenswert, sondern überhaupt möglich ist, das Erbe, mit dem die Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt, hinter sich zu lassen. Dies ist die doppelte Voraussetzung des modernen Fortschrittsversprechens: Man kann das Erbe überwinden, und man sollte es überwinden.

Dies gilt für die Individuen wie für die Gesellschaft als Ganze. Den Prinzipien der modernen Leistungsgesellschaft entsprechend sollen der soziale Status und die Identität des Individuums ganz aus seinem eigenen, selbstverantwortlichen Handeln resultieren. Mit Talcott Parsons gesprochen, schaltet die moderne im Verhältnis zur traditionalen Gesellschaft von »ascribed« auf »achieved« Identitäten um:5 Die Identität eines Individuums wird idealerweise nicht mehr durch Herkunft und Stand sozial zugeschrieben, sondern durch individuell zurechenbare Leistungen erarbeitet. Dazu passt, dass der juristische Diskurs um das Erbrecht, der um 1800 in Frankreich, Deutschland und den USA einsetzt, die Legitimität von materiellen Erbschaften in der Familie, das Risiko der Willkür der Erblasser sowie das Verhältnis zwischen Erbe und dem meritokratischen Selbstverständnis der Gesellschaft problematisiert.6

Die moderne Erbskepsis gilt jedoch auch für die Gesellschaft als Ganze: Der institutionalisierte Fortschrittsimperativ setzt darauf, mit dem Erbe der Vergangenheit zu brechen und dieses in einer endlosen Kette von Innovationen immer wieder neu zu überbieten – gleich, ob es sich um Wissenschaft und Technik, Ökonomie, Politik oder den soziokulturellen Wertewandel handelt. Am Erbe zu hängen, erscheint reaktionär. Nichts ist älter als die Neuheit von gestern, die es immer wieder durch »kreative Zerstörung« (Schumpeter) in Richtung einer offenen Zukunft zu überwinden gelte. In der Moderne erweisen sich so die jüngeren Generationen mit ihrer auf Erneuerung und Revolution geeichten Zukunftsorientierung gegenüber den älteren Generationen als »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« (Sloterdijk), die sich vom Erbe ihrer Väter und Mütter lossagen.7 Oder mit Thomas Jefferson gesprochen: »the earth belongs in usufruct to the living […] the dead have neither powers nor rights over it«.8

Vor dem Hintergrund dieser Distanzierungsbewegung verweist das spätmoderne Erbenbewusstsein, das sich seit den 1980er Jahren herausbildet, auf einen markanten Bruch. Aus der spätmodernen ...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.



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