E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Gailey Tiefer Winter
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910918-23-8
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-910918-23-8
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Samuel W. Gailey wuchs in einer Kleinstadt im Nordosten Pennsylvanias auf und lebt heute auf der abgelegenen Orcas Island. Seine Bücher wurden mit Steinbeck und Cormac McCarthy verglichen und von der NY Times, Publisher's Weekly, Kirkus, Esquire und anderen gelobt. Seine Geschichten sind faszinierende Studien der menschlichen Schicksale.
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Danny
Wie immer wachte Danny vor Sonnenaufgang auf. Er hätte gern länger geschlafen, aber es klappte nicht. Kurz bevor die Sonne über die Hügelkette der Endless Mountains im Norden der Stadt spitzte, öffneten sich seine Augen, und dann konnte er nicht wieder einschlafen, sosehr er sich auch anstrengte. Dabei war er viel lieber in seinen Träumen als dort, wo er jetzt war. In seinen Träumen war er sicher und glücklich, und die Leute darin behandelten ihn wie jeden anderen. An die meisten Träume erinnerte er sich kaum, aber die von dieser Nacht hatte er noch deutlich im Kopf. Er war noch klein, vielleicht fünf oder sechs, seine beiden oberen Schneidezähne fehlten, und weil er Geburtstag hatte, trug er einen roten Papierhut mit weißen Punkten. Er blies ganz fest die Backen auf, um die Kerzen auf dem großen Schokoladenkuchen auszupusten. Schoko mochte er am liebsten. Von den Kerzen mit den winzigen orangen Flammen tropfte heißes Wachs auf die Glasur. Seine Eltern waren da und sahen ihm breit lächelnd zu. Um ihn herum saßen ein Dutzend Kinder am Küchentisch und klatschten und lachten und beäugten den Schokokuchen mit den drei Schichten. Auf dem großen Tisch stapelten sich die Geschenke, die in schönes Geschenkpapier mit bunten Schleifen gewickelt waren. Die Geschenke waren alle für ihn. Sie waren von Freunden, die er nicht einmal kannte. Nachdem er alle Kerzen ausgepustet hatte, wachte er auf.
Ein paar Minuten lang lag er auf seiner dünnen Matratze, die Füße über den Bettrand ragend, und wünschte sich zurück in den Traum, damit er die Geschenke auspacken und sehen konnte, welche Spielzeuge es waren. Stattdessen schlug er in dem morgendlichen Dämmerlicht die Augen auf und sah die Baumschatten wie Marionetten über seine Zimmerdecke huschen und tanzen.
Danny überlegte, dass er genauso gut aufstehen könnte. Heute war ein großer Tag. Er stand auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und streckte sich ausgiebig, dann warf er einen Blick aus dem Fenster im ersten Stock. Er sah das träge dahinfließende dunkle Wasser des Susquehanna River, das sich über großen moosbedeckten Felsen kräuselte und am Ufer leckte. Es gefiel ihm, so nah am Fluss zu wohnen und sein Rauschen zu hören, aber er ging nicht ins Wasser. Nein, er ging nie ins Wasser.
Bald würde die Sonne aufgehen. Beim Anblick des hübschen rosa Himmels, der sich glitzernd in dem dahinfließenden Wasser spiegelte, lächelte Danny. Er konnte das Wort Susquehanna zwar nicht richtig aussprechen, aber sein Papa hatte ihm gesagt, dass es ein indianischer Name war, weil hier nämlich amerikanische Ureinwohner gelebt hatten, bevor die Siedler gekommen waren. Wyalusing hatte einmal M’chwihilusing geheißen, sagte sein Vater, was Danny ziemlich lustig fand. Seine Eltern hatten ihm eine Menge beigebracht, weil sie Lehrer waren und ziemlich schlau. Immerzu hatten sie dicke Bücher gelesen.
Danny tastete sich durch das Zimmer und knipste die Lampe an. Schwaches Licht erfüllte den kleinen Raum, in dem außer einem schmalen Bett, einem Schrank und einer Kommode vom Flohmarkt nicht viel stand. Die Wände waren nackt, und die Farbe war in großen Placken abgeblättert. Beinah stieß Danny mit dem Kopf an die niedrige Decke. Wenn eine Glühbirne durchbrannte, musste er sich nicht auf einen Stuhl stellen, um sie auszuwechseln.
Als er seine übliche grüne Arbeitshose und das grüne Flanellhemd, das über seinem Bauch spannte, anzog, fiel sein Blick in den Spiegel über der Kommode. Er hatte einen Stiernacken und breitere Schultern als die meisten Leute in der Stadt, aber Muskeln hatte er nicht. Er war dick und wabbelig, und die Kinder nannten ihn »Fettmops«. Sein dicker Bauch hing über den Hosenbund und machte es ihm schwer, die abgelatschten Arbeitsstiefel zuzuschnüren. Bei seinem letzten Besuch bei Doc Pete hatte ihm die Arzthelferin gesagt, dass er knapp hundertzwanzig Kilo wiege. Sie sagte, dass das zu viel sei und dass er mehr Obst und Gemüse essen und jeden Tag Sport machen solle. Er hatte genickt und gesagt, ja, klar, aber er aß nun mal gerne, und Sport machte er nicht gerne. Er wusste, dass man nicht lügen durfte, dachte aber, das sei weniger schlimm, als die Arzthelferin zu enttäuschen.
Nachdem er mit Mühe seine Stiefel geschnürt und einen Doppelknoten gemacht hatte, betrachtete Danny seine Sammlung handgeschnitzter Holztiere, die einen Ehrenplatz auf der Kommode hatte. Es waren vor allem unterschiedliche Vogelarten – Blauhäher, Spechte, Eulen, Spatzen –, aber es befanden sich auch zwei Eichhörnchen, zwei Schnecken, drei Hasen und eine Schildkröte darunter. Die Schildkröte mochte Danny am liebsten. Sie hatte den Kopf halb aus dem Panzer gestreckt, als würde sie nach Anzeichen von Gefahr Ausschau halten. Danny hatte ein kleines Lächeln auf das Gesicht der Schildkröte gemalt, obwohl er wusste, dass Schildkröten nicht lächelten. Sie hieß Rudy. Alle seine Tiere hatten Namen. Abgesehen von Mindy waren sie seine einzigen Freunde, und er sprach mit ihnen und tat so, als würden sie mit ihm sprechen, so wie Freunde es machten.
Danny trat an das zerkratzte Waschbecken mit dem rostigen Abfluss und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Seine hellroten Haare waren kurz geschnitten. Wie immer. Für drei Dollar verpasste ihm Mr. Colgrove alle drei Monate einen Bürstenschnitt und verteilte einen Spritzer Vitalis-Haarwasser darauf. Danny mochte den Geruch nicht, aber Mr. Colgrove sagte, es sei gut für seine Haare und außerdem würde er dadurch männlich riechen. Danny duschte oder badete nicht, weil er keine Badewanne hatte. Aber das machte nichts. Badewannen machten ihm sowieso Angst. Dafür wusch er sich jeden Abend mit einem Waschlappen, und wenn er es nicht vergaß, wusch er sich einmal in der Woche die Haare im Waschbecken.
Wie jeden Morgen seifte Danny sein Gesicht mit einem Rasierpinsel ein. Der Rasierpinsel und das Rasiermesser hatten einmal seinem Papa gehört und davor seinem Granddaddy. Granddaddy war in den Himmel gekommen, als Danny noch in den Windeln gesteckt hatte. Danny hatte keine Familienfotos und erinnerte sich nicht, wie sein Granddaddy ausgesehen hatte. Wie sein Papa ausgesehen hatte, wusste er dagegen noch. Er hatte ihm immer zugesehen, wie er sich frühmorgens im Badezimmer rasierte. Wie er sein Gesicht mit dem Rasierpinsel einseifte und den Kopf zuerst nach links und dann rechts neigte, während er mit dem Rasiermesser über die Haut fuhr, bis sie so weich wie ein Babypopo war. Der Rasierpinsel und das Rasiermesser waren das Einzige, was er von seinem Papa hatte. Alles andere hatte Onkel Brett in den Müll geworfen. Danny seifte sich schön dick ein und stellte sich vor, er sei der Weihnachtsmann, der sich nach Weihnachten den Bart abrasierte. Er nahm das Rasiermesser und fuhr sich damit über die Wangen, so wie sein Papa es gemacht hatte. An den Seiten passte er besonders auf – er mochte keine Koteletten. Sie kitzelten und juckten.
Dann setzte er sich auf das ungemachte Bett und zog eine Schuhschachtel darunter hervor. Er öffnete den Deckel und holte sein Schnitzwerkzeug heraus. Zwei Schnitzmesser, unterschiedlich große Meißel und mehrere Stücke benutztes Sandpapier, das er in Farley’s Haushaltswarengeschäft gekauft hatte. Das alles breitete er neben sich aus, dann nahm er ein Stück Fichtenholz, das schon grob die Form eines Vogels hatte. Kopf und Schnabel waren fertig, aber am Rumpf und an den Flügeln musste er noch arbeiten.
Mit seinen dicken Fingern, deren Nägel bis zu den Fingerspitzen abgekaut waren, strich Danny über das Holz und schnitzte und schliff geschickt daran herum. Die feinen Späne pustete er weg und fuhr vorsichtig über die Flügelflächen. Stemmte und schliff noch ein wenig weg und schuf so nach und nach die Federn. Die zarte Vogelgestalt trat immer deutlicher hervor und sah in Dannys Pranken winzig und zerbrechlich aus, so als hielte er ein aus dem Nest gefallenes Küken.
Wie immer vergaß er beim Schnitzen die Zeit. Gedankenverloren arbeitete er an seinen hölzernen Tierfreunden und dachte nicht mehr daran, wer und was er war. Die winzigen Wesen machten sich nie über ihn lustig oder lachten ihn aus, weil er so seltsam sprach. Sie nannten ihn nie fett und blöd. Sie fanden ihn nett und würden niemals etwas Gemeines über ihn sagen.
Den Vogel, an dem er gerade werkelte, würde er Mindy nennen. Mindy das Rotkehlchen. Danny schnitzte das Rotkehlchen Mindy für seine Freundin Mindy zum Geburtstag, weil Rotkehlchen schlau waren und ein bisschen vorwitzig. Genau wie Mindy.
Sein Magen knurrte, aber das Frühstück musste warten. Erst musste er noch etwas erledigen. Danny legte den unfertigen Vogel zurück in die Schuhschachtel und schob sie unters Bett, dann schlurfte er aus seinem kleinen Zimmer.
Danny stapfte die schmale Treppe hinunter und knipste die Neonröhren im Wash ’N Dry Laundromat an. Nach kurzem Flackern brannte das Licht gleichmäßig und ließ den polierten Linoleumboden schimmern. Ein Dutzend quietschgrüne Waschmaschinen und Trockner reihten sich an der Wand des Waschsalons aneinander, dazu ein Getränkeautomat und ein Waschmittelspender, der neben der kleinen Toilette stand.
Danny holte einen Eimer aus der Toilette, ließ kochend heißes Wasser hineinlaufen und goss ein wenig Reinigungsmittel dazu, das den Raum richtig frisch und sauber riechen lassen würde. So wie Mr. Bennett es ihm gezeigt hatte, wischte er den Boden langsam und gründlich. Mr. Bennett hatte Danny mehrmals vormachen müssen, wie man den Waschsalon auf- und zuschloss, bis Danny es heraushatte. Nachdem er den Boden gewischt hatte, sah er in jede Waschmaschine und jeden Trockner, um sich zu vergewissern, dass...




