Kapitel 2: Das Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung – noch ein deutscher Sonderweg?
1 Die institutionelle Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung
Die deutsche Besonderheit
Während in anderen europäischen Ländern – z.B. in Frankreich – im Laufe des 19. Jahrhunderts neben der allgemein bildenden Pflichtschule und der allgemein bildenden hochschulvorbereitenden höheren Schule auch beruflich-technisch orientierte Schulen ins Leben gerufen wurden, die Fachkräfte auf mittlerem und höherem Niveau im Rahmen der Schule ausbilden sollte, wurde ein solcher Versuch in Deutschland aufgrund der von Humboldt postulierten strikten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung nie ernsthaft unternommen. So kommt es, dass heute beispielsweise in Österreich die Mehrheit der Maturanden (Abiturienten) aus den sog. Berufsbildenden Höheren Schulen kommt. Analog dazu hat in Frankreich die Hälfte der Abiturienten ein technisches oder ein berufliches baccalauréat erworben. In beiden Fällen ist damit eine berufliche Qualifikation oberhalb des Facharbeiters verbunden. In Deutschland dagegen spielen berufliche Gymnasien (Fachgymnasien) als Ausbildungsstätten für Abiturienten statistisch bis heute nur eine geringe Rolle und vermitteln vor allem keine berufliche Qualifikation, sondern allenfalls eine Vororientierung hinsichtlich eines späteren Berufsprofils.
Die Realschule als Zwischentyp ?
Die im 18./19. Jahrhundert im Ausland oft als vorbildlich gerühmten Realschulen hatten zwar eine auf das reale Leben bezogene Komponente (und standen dadurch im Gegensatz zu den sprachlich dominierten Gymnasien), aber auch sie boten im wesentlichen nur Varianten von Allgemeinbildung an, sie hatten keine wirklichen berufsqualifizierenden Komponenten. Deshalb ist es interessant zu beobachten, dass sie sich in ihrem Bestreben zur Anschlussfähigkeit an die höhere Bildung über Zwischenstufen wie die Oberrealschule und das Realgymnasium zum neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasialtyp entwickelten, also zu Varianten des allgemein bildenden Gymnasiums neben dem klassisch-humanistischen Zweig, dem sie zudem von dem Augenblick an relativ nahe kamen, wo sie als Zeichen ihrer erworbenen Ebenbürtigkeit einen Lateinzug anbieten konnten. Hierin unterscheidet sich die Entwicklung in Deutschland erneut von der Entwicklung in Frankreich oder Österreich, wo die berufsbildenden Anstalten, die ja nicht weniger nach gesellschaftlicher Aufwertung durch Anschluss an die Vergabe der Hochschulreife strebten, mit der Matura bzw. dem baccalauréat zugleich |26? ?27| eine arbeitsmarktfähige berufliche Qualifikation vergaben (doppeltqualifizierende Ausbildung).
Hat sich Humboldt durchgesetzt ?
Es mag erstaunen, dass sich die Humboldtsche Konzeption der Trennung der beruflichen von der allgemeinen Bildung so konsequent in der Realität des deutschen (nicht nur des preußischen!) Schulwesens durchgesetzt hat, während andere Elemente seiner Bildungsvision, wie sich gezeigt hat, eher deformiert wurden. Allerdings geht die Implementation des bildungstheoretischen Trennungsmodells zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung zusammen mit der Entwicklung eines „deutschen Sonderwegs“ in der Organisation der Berufsausbildung – ein Autor (Greinert 1998) nennt das betriebsgestützte „duale System“ der beruflichen Bildung geradezu das „deutsche System der Berufsbildung“!
2 Die betriebliche Berufsausbildung
Von der handwerklichen Lehrlingsausbildung …
Was bedeutet das? Während in anderen Ländern – und wiederum gerade in Frankreich – nach der Zerschlagung der Zünfte im Zeitalter der Französischen Revolution die von den Zünften getragene Lehrlingsausbildung ebenfalls zusammenbrach, entstanden in Deutschland nach dem Zunftverbot relativ schnell wieder neue Berufsverbände (Innungen), die als Träger der betrieblichen Berufsausbildung in Frage kamen. Dadurch war es möglich, das praxisnahe Modell der betrieblichen Handwerkslehre auch in den Bereich der expandierenden Industrie zu übertragen. Durch die Neukonstitution von Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft war es möglich, dass diese zu Kontrollinstanzen der betrieblichen Ausbildung werden konnten. Auf diese Weise konnten sie den Egoismus der einzelnen Betriebe unter Kontrolle halten und die Qualität der Ausbildung im Interesse der gesamten Branche überwachen und garantieren. Es entstand so ein leistungsfähiger betrieblicher Ausbildungssektor nicht nur im Handwerk, sondern auch im zunehmend bedeutenderen Sektor der industriellen Fertigung.
Diese betriebliche Ausbildung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergänzt durch die von Georg Kerschensteiner (1854-1932) konzipierte Fortbildungsschule als Ergänzung der Allgemeinbildung in den Bereichen, in denen die Volkschule die nötigen Grundlagen für eine betriebliche Berufsausbildung noch nicht gelegt hat.
Georg Kerscheinsteiner (1854-1932), ab 1895 Stadtschulrat in München, war einer der profiliertesten deutschen Reformpädagogen. Er war der geistige Vater der auf manueller Tätigkeit beruhenden Arbeitsschule, die er im Dienst staatsbürgerlicher Erziehung sah, und der Fortbildungsschule als Ergänzung zur Volksschule, aus der die Teilzeitberufsschule der Lehrlingsausbildung (der schulische Teil des „dualen Systems“) wurde.
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Aus dieser Fortbildungsschule entwickelte sich die heutige Teilzeitberufsschule als zweite Komponente des „dualen Systems“ der deutschen Berufsbildung. Die Qualität dieser Ausbildung war bei den Abnehmern bis in die jüngere Vergangenheit unumstritten, so dass man deshalb keine Veranlassung sah, das bewährte, praxisnahe Modell zu ändern: Alle Welt schien Deutschland doch darum zu beneiden. Ernsthafte Zweifel kamen erst mit dem Eindringen der Informatik in alle Bereiche der Wirtschaft auf. So schreibt ein moderner Beobachter:
„Als problematisch lässt sich der Wegfall traditionaler Strukturen orten, die Anfang der 70er Jahre vom sozio-ökonomischen Modernisierungsprozeß aufgesogen waren und nicht weiter das überkommene Bildungs- und Berufswahlverhalten großer Bevölkerungsgruppen stabilisierten. Das duale System befindet sich heute in einem merkwürdigen Schwebezustand: einerseits erfreut es sich einer nie dagewesenen öffentlichen und internationalen Wertschätzung, was vor allem auf die hohen Jahrgangsquoten zurückzuführen ist, die von ihm erfasst werden, aber auch auf seine Praxisnähe und Kostengünstigkeit. (…) Andererseits sind jedoch die Zeichen der Erosion nicht zu übersehen. Das duale System der Berufsausbildung steckt heute sowohl in einer Konjunktur- wie Strukturkrise, eine Kombination, die z.T. paradoxe Effekte hervorbringt. (…) Am bedrohlichsten für die weitere Funktionsfähigkeit des dualen Ausbildungssystems erscheint jedoch der anhaltende Rückzug der Industrie aus diesem Qualifikationsmodell, eine Tendenz, die den Anfang vom Ende des „deutschen Systems“ der Berufsausbildung markieren könnte“ (Greinert 1998: 29).
Die Beharrlichkeit der Humboldtschen Antinomie, d.h. des Gegensatzes zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung ist umso erstaunlicher, als gerade in Deutschland sowohl auf der Ebene der Bildungstheorie als auch der bildungspolitischen Realisierung der Versuch gemacht wurde, diese Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung auch konzeptionell zu überwinden. Diese Versuche werden Gegenstand der folgenden Darstellung sein.
3 Der Synthese-Versuch Sprangers
Eduard Spranger (1882-1963) hat als einer der ersten in respektvoller Relativierung der Gedankengänge Humboldts versucht, einen Begriff von Bildung zu prägen, der die Humboldtsche Antinomie von allgemeiner Bildung und beruflicher Bildung überwindet. Der Gedanke taucht zum ersten Mal in einem Vortrag im Jahr 1918 (Spranger 1918/1969) auf und wird noch 40 Jahre später ebenfalls in einem Vortrag wiederholt (Spranger 1958/1973b). Spranger ist also diesem Gedanken sein Leben lang treu geblieben. Auch wenn dieser Entwurf auf den ersten Blick wenig Einfluss auf die Schulwirklichkeit hatte, ist er aus systematischen Gründen hier von Bedeutung.
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Eduard Spranger (1882-1963), Schüler von Dilthey und Paulsen, Professor für Philosophie und Pädagogik in Leipzig, Berlin und Tübingen, Bildungstheoretiker der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (Begriffserklärung dazu siehe Kapitel 4).
Sprangers Bildungsbegriff
Spranger geht von einem Begriff von Bildung aus, der Bildung – nicht unähnlich unserer im Anschluss an Adorno gewonnenen eigenen Definition (siehe Kapitel 1) – als durch Kulturwerte geformte Individualität versteht. Betrachtet man Bildung als Ergebnis, so lautet Sprangers Definition:
„Bildung ist die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensformung des Individuums, die es zu objektiv wertvollen Kulturleistungen befähigt und für objektive Kulturwerte erlebnisfähig (einsichtig) macht“ (Spranger1923 /1973a: 276).
Als Prozess formuliert, lautet die Definition:
„Bildung ist die lebendig wachsende Aufnahme aller...