E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Kampa Salon
Hohler / Siblewski Das Jahr, das bis heute andauert
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-311-70396-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Gespräch mit Klaus Siblewski
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Kampa Salon
ISBN: 978-3-311-70396-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franz Hohler, 1943 in Biel geboren und aufgewachsen in Olten, zählt zu den bedeutendsten Erzählern der Schweiz. Für sein Schaffen als Liedermacher und Kabarettist, als Autor von Kinderbüchern, Theaterstücken, Romanen, Erzählungen und Gedichten ist er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, etwa mit dem Salzburger Ehrenstier für sein Lebenswerk (2008), mit dem Solothurner Literaturpreis (2013), mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2014) sowie zuletzt mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur (2021). Hohler lebt in Zürich-Oerlikon.
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»An Scheitern habe ich nicht gedacht«
Herkommen
Lass uns mit deiner Familie beginnen, mit deinem Vater, der Mutter. Wer waren sie?
Mein Vater war Lehrer, meine Mutter war Lehrerin. Sie haben sich im Solothurner Lehrerseminar kennengelernt. Es muss die große Liebe gewesen sein. Beim Aufräumen nach dem Tod der beiden habe ich ihre Liebesbriefe gefunden. Die habe ich aber schnell wieder weggelegt. Ich kam mir wie ein Voyeur vor, selbst bei flüchtigem Lesen.
Diese Briefe haben die Eltern sich wann geschrieben?
Nach dem Lehrerseminar, in dem sie sich kennengelernt hatten. Dann beendeten sie ihre Ausbildung als frischgebackene Lehrkräfte, verließen das Seminar und waren an verschiedenen Orten tätig. Meine Mutter war auf dem Brunnersberg, sie hatte dort eine Stelle gefunden. Mein Vater hatte keine feste Stelle.
Wurden Lehrpersonen damals nicht gebraucht?
Doch, aber es war eine schwierige Zeit, die Jahre um 1935, das war die Zeit der Arbeitslosigkeit. Mein Vater bewarb sich für ein Stipendium, erhielt es und konnte mit dem Geld für ein halbes Jahr nach Paris gehen. Die Hälfte des Stipendiums musste er zurückzahlen. Er hatte es von der Firma Bally in Schönenwerd erhalten, dort, wo er aufgewachsen war. Bally war der König in diesem Dorf. Das ganze Dorf Schönenwerd hatte bei Bally gearbeitet, schon der Vater meines Vaters war Webermeister in der Bandfabrik Bally gewesen.
Und in dieser Zeit schrieben sich deine Eltern also Liebesbriefe?
Ja, aber weniger Briefe, vor allem viele Postkarten. Das war billiger, und geschrieben haben sie diese Postkarten meistens in Stenografie, damit der Postbote sie nicht lesen konnte – wie sie annahmen. Da ich der Stenografie mächtig bin, konnte ich sie lesen, habe aber dieses Lesen nicht lange durchgehalten.
Dein Vater kam aus Paris zurück, und die Zeit des getrennten Lebens deiner Eltern endete, richtig?
Ja. Mein Vater bekam eine Stelle in Seewen im Kanton Solothurn. Meine Eltern zogen dorthin, der Krieg war damals schon ausgebrochen. Mein Vater musste dann ins Militär. Er wurde eingezogen, später jedoch als andere Soldaten. Er war wegen einer Krankheit zuerst für dienstuntauglich erklärt worden, wurde dann doch eingezogen und erhielt eine schnelle Ausbildung bei den Flak-Soldaten. Während Vaters Zeit beim Militär hat meine Mutter für ihn seine Lehrerstelle in Seewen übernommen – als seine Stellvertreterin. Sie haben beide gerne und engagiert unterrichtet.
Du bist aber in Olten und nicht in Seewen groß geworden.
Das stimmt nicht ganz. Erst nach dem Krieg fand mein Vater eine Stelle in Olten. Ich habe von 1943, bis ich vier Jahre alt war, in Seewen gelebt, erst danach in Olten. Aber wirklich groß geworden bin ich in Olten.
Wie war Olten damals?
Olten war eine Kleinstadt und ist es heute noch, aber eine Kleinstadt mit Theater, Kino, einem Orchester – wenn auch einem Laienorchester. Es gab eine Dramatische Gesellschaft in Olten. Und was wichtig für mich war: Ich kam mit urbaner Kultur in Berührung.
Kam Kultur auch in deinem Elternhaus vor, oder gab es das nur in der Stadt?
Mein Elternhaus war für mich immer ein Ort, in dem Kultur gelebt wurde. Mein Vater war aktives Mitglied der Dramatischen Gesellschaft und spielte viele Jahre lang Theater. Er war auch jahrzehntelang Redaktor der Theaterzeitung. Darin hat er über Gastspiele am Oltner Theater geschrieben, die ursprünglich im Städtebundtheater Solothurn-Biel oder in den Stadttheatern von Bern oder Basel gezeigt wurden. Die Bürgergemeinde gab zu all diesen Aufführungen ein Heft heraus, in dem die Stücke beschrieben wurden. Auch zu den Konzerten des Stadtorchesters oder der Orchester, die nach Olten eingeladen wurden, entstand jeweils ein Heft. Für diese Hefte schrieb und redigierte er. Er war in einem Sinne aktiv, wie das frühere Lehrergenerationen waren. Dazu gehörte auch, dass er sich beispielsweise in der »Liga gegen Tuberkulose« engagierte. Es gab damals noch mehr Lungenerkrankungen als heute, und mein Vater war eine Zeit lang Präsident dieser Liga. Einige Jahre präsidierte er auch die christkatholische Kirchgemeinde in Olten.
Bisher hast du hauptsächlich von deinem Vater gesprochen. Wie hast du deine Mutter erlebt?
Meine Mutter hat sehr gut Geige gespielt. Sie war Mitglied des Stadtorchesters in Olten und spielte jahrzehntelang in diesem Orchester. Ich habe als Gymnasiast auch in diesem Orchester gespielt. Sie war genauso aktiv wie mein Vater. Sie hat sehr viel Unterricht gegeben. Und das in einer Zeit, als es alles andere als selbstverständlich war, dass Frauen vor Klassen standen.
Welche Art von Stellen hat sie übernommen?
Sie übernahm mehrmals sogenannte Verweserstellen, das heißt, sie vertrat ein ganzes Jahr lang einen Lehrer, der sich weiterbildete oder seinen Militärdienst leistete. Dessen Stelle hatte sie dann auf Zeit inne. Ich ging einmal selbst ein halbes Jahr zu ihr in die Schule. Beim Aufräumen fand ich übrigens einen geharnischten Brief von ihr, den sie an die Erziehungsdirektion geschickt hatte, die ihr für eine Vertretung einen zu niedrigen Lohn angeboten hatte.
Und du, warst du tagsüber alleine und bist ohne Eltern groß geworden, oder sind deine Eltern jeweils zur gleichen Zeit wie du aus der Schule nach Hause gekommen?
Ich habe einen Bruder, der zwei Jahre älter ist als ich. Wir kamen meistens zusammen von der Schule zurück, und wenn wir nach Hause kamen, waren die Eltern oft noch nicht da. Das war aber nicht weiter schlimm. Zu Hause mussten wir als Erstes den Herd mit dem Dampfkochtopf anschalten. Der passende Satz dazu lautete: »Wenn’s pfüüst, Deckel drauf und kleinstellen.« (»Pfüüst« ist ein Mundartausdruck und meint dieses zischende Geräusch, wenn beim Topf der Dampf entweicht.) Bei diesen Töpfen musste man früher noch ein Deckelchen herunterdrücken.
War es für dich und deinen Bruder schlimm, dass ihr euch selber versorgen musstet?
Nein, das war für uns selbstverständlich, wir waren geübt darin, das Essen fertig zu kochen. Das konnten wir gut akzeptieren. Wir verstanden auch, dass die Eltern Musik machen und an Sitzungen oder Theaterproben teilnehmen wollten. Kultur gehörte zu ihrem Leben. Und mein Bruder und ich haben ebenfalls sehr früh begonnen, ein Musikinstrument zu erlernen. Mein Bruder Geige, ich Cello.
Habt ihr euch dagegen zur Wehr gesetzt, neben der Schule ein Instrument erlernen zu müssen?
Nein, überhaupt nicht. Wir sahen es bei unseren Eltern: Sie unterrichteten, musizierten, und wir haben es als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, es wie sie zu machen und ebenfalls ein Musikinstrument zu erlernen. Schon bald konnten wir als Familie Streichquartett spielen. Meine Mutter erste Geige, mein Bruder zweite, mein Vater Bratsche und ich Cello. Wir haben es bis zur »Kleinen Nachtmusik« von Mozart gebracht.
Und du, hast du als Kind gleich mit Cello begonnen? Du hast ein halbes Cello für Kinder bekommen, nehme ich an.
In der zweiten Primarschulklasse hatten wir obligatorisch Blockflötenunterricht. Das hat mir gefallen, Blockflöte spiele ich bis heute sehr gerne. Dann fragten mich meine Eltern, welches Instrument ich lernen wolle. Bei uns zu Hause gab es ein Klavier und ein Cello – das meines Großvaters. Als mir diese Frage gestellt wurde, war ich zehn Jahre alt. Ohne zu zögern, habe ich gesagt: »Cello.«
Die Geschichte dieses Cellos hast du doch einmal erzählt.
Ja, im Prosastück »Der Vater meiner Mutter« im Buch . Mein Großvater hatte es nach einer harten Jugend als Verdingkind geschafft, einen Beruf zu erlernen und auszuüben und eine Familie zu gründen. Und als er 42 Jahre alt war, wollte er sich einen Wunsch erfüllen und Cello spielen lernen. Er ließ sich von einem angesehenen Geigenbauer ein Cello anfertigen, ging damit zu einem Cello-Lehrer und erfuhr von diesem, seine Hände seien zu klein für das Cello. Immer wenn er mir das erzählte, zeigte er mir jeweils, dass er den kleinen Finger nicht weit genug spreizen konnte. Er ging dann in einen Mandolinenklub, das Cello aber musste er noch jahrelang abzahlen. Drei Jahrzehnte lang hat es auf mich gewartet. Ich begann auf einem Dreiviertel-Instrument, aber schon bald waren meine Hände samt meinem kleinen Finger groß genug, sodass ich auf das Cello meines Großvaters wechseln konnte. Auf diesem Cello spiele ich noch heute. Und wenn ich meine Chansons sang, begleitete ich mich damit.
Wann wurden deine Eltern geboren, welche Fächer haben sie unterrichtet, und an welcher Art von Schule haben sie gearbeitet?
Beide wurden 1915 geboren, beide haben in der Grundschule, die in der Schweiz Primarschule heißt, unterrichtet. Mein Vater hat sich später zum Sekundarlehrer weitergebildet. Und ihre Entscheidung, das Lehrerseminar zu besuchen und keine weiterführende Ausbildung, ein Studium zum Beispiel, anzustreben, hatte mit der damaligen Zeit zu tun. Es waren die Jahre zwischen 1930 und 1935, als sie diese Ausbildung machten. In diesen Jahren war die Schweiz ein armes Land.
Heute, mit weniger ökonomischem Druck, hätten deine Eltern eine Ausbildung zu Gymnasiallehrern angestrebt, verstehe ich das richtig?
Ja, in der heutigen Zeit wären sie vielleicht an die Universität gegangen und hätten sich dort für ein Studium eingeschrieben. Meine Mutter hätte vielleicht Musik studiert und mein Vater etwas mit Sprachen, auch Germanistik möglicherweise. Er war ein...




