E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Ikeda Begegnung am Fudschijama
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30763-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Dialog
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-293-30763-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
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Daisaku Ikeda (1928-2023) war Philosoph, Theologe und Schriftsteller und gehörte zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Japans. Ab 1960 war er Stiftungsvorstand der internationalen Vereinigung »Soka Gakkai«, die 1937 zur Erneuerung des Buddhismus gegründet wurde und in 115 Ländern wirkt. 1983 wurde er mit dem Friedenspreis der Vereinten Nationen geehrt.
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Rückkehr zu geistigem Halt
Wir beide gehören dem Jahrgang 1928 an. Geburt und Erziehung sind zwar von unterschiedlichen Bedingungen und einem jeweils anderen sozialen Milieu geprägt, wir haben jedoch etwas gemeinsam: Wir gehören der »darbenden Generation« an, die in ihrer Jugend die schweren Jahre des Zweiten Weltkrieges mitmachte und in der Epoche lebte, die beträchtlichen Schwankungen der Wertvorstellungen ausgesetzt war. Zweifellos möchte der Mensch nicht nur leben, sondern gut leben, wie Sokrates sagte. Je größer das Chaos bei den Ansichten über die echten Werte, desto stärker das Bedürfnis nach Idealen.
Als Ihr Zeitgenosse möchte ich fragen, was Ihnen in der Jugend, als Sie Ihre subjektiven Beziehungen zur Gesellschaft abzutasten begannen, den geistigen Halt gegeben hat?
Mein geistiger Halt war der Buddhismus, der Umgang mit dem »Lehrer des Lebens«, mit Josei Toda, dem zweiten Präsidenten der Gesellschaft Soka Gakkai.
So früh dachte ich über meine subjektiven Beziehungen zur Gesellschaft kaum nach. Eine viel zu harte, gegenüber dem Menschen erbarmungslose Zeit herrschte im Land. Das totalitäre Regime, in dem wir aufwuchsen und dem wir uns widerspruchslos unterordneten, sah nicht vor, über die gesellschaftlichen Probleme von einer individuellen Position her nachzudenken, jedenfalls nicht offen und öffentlich. Im Gegenteil wurde das stahlharte Postulat der totalen Unterordnung des Menschen unter das Diktat des Staates und der Macht von den meisten als normale Ordnung akzeptiert, ja noch viel mehr – als revolutionäre Errungenschaft gepriesen. Das Postulat lautete: Kein Mensch ist unersetzbar. Darauf beruhte unsere Tragödie, die nicht hinterfragt wurde. Die Persönlichkeit hatte einwandfrei zu funktionieren und diente lediglich als Mittel zur Durchsetzung ideologischer und politischer Ziele. Alles Übrige – geistige und sittliche Traditionen, Moral und sogar verwandtschaftliche Beziehungen – wurde verworfen, falls es nicht den sogenannten Klasseninteressen entsprach; verworfen als Überbleibsel der Vergangenheit und unerlaubter Allüren des bürgerlichen Individualismus. Wer beispielsweise einen Verstorbenen traditionell bestattete, musste damit rechnen, dass diese jahrhundertealte Sitte als politische Unreife angesehen und Menschen dafür verfolgt wurden. Unter solchen Bedingungen bezeichnete sich die herrschende Partei, die über eine unbefristete Monopolmacht verfügte, als Verstand, Gewissen und Ehre der Epoche, zugleich war sie die strafende Macht. Den Lehrer, den Sie, verehrter Ikeda, im Auge haben, kann es unter solchen Bedingungen nicht geben.
Wir lebten in Übereinstimmung mit Prinzipien, die gewaltsam erdacht und uns aufgezwungen wurden, ein in der Geschichte der Neuzeit einmaliger Vorgang. Ich erwähne das, weil ich keinen Lehrmeister nennen könnte, der wie Ihr Josei Toda meine geistige Stütze gewesen wäre. Dennoch möchte ich einige Personen, die in meinen jungen Jahren eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung der Gesellschaft und ihren geistigen Bestrebungen spielten, beim Namen nennen: Nikita Chruschtschow und Alexander Twardowskij, Chefredakteur der Zeitschrift Novyj Mir, der mir den für jene Zeit nicht so leichten Weg in die große Literatur ebnete. Unter den mittelasiatischen Kulturschaffenden erinnere ich mich dankbar an den Klassiker der kasachischen Literatur, an Muchtar Auesow, der an meiner literarischen Bildung unmittelbar Anteil nahm.
Natürlich hat es auch in jenen Zeiten Menschen gegeben, die allein durch ihre Lebensweise Ehre, Edelmut und Zivilcourage personifizierten. Bis heute wundere ich mich, wie sie, unter den unmenschlichen Bedingungen des totalen Einheitsdenkens und des Untertanenrummels, diese Eigenschaften bewahren und überleben konnten. Die brutale Logik der Zeit verlangte, sie wie Unkraut auszurotten – der Kult des Denunzierens wurde ja auch gegenüber Familienangehörigen gefördert. Ein Sohn, der den Vater bei den Machthabern als zweifelhaften Menschen anzeigte, wurde Held und Vorbild. Straßen, Jugendgruppen und Lehranstalten wurden nach ihm benannt, den Vater erschoss man. In der sowjetischen Literatur ist meine Generation von dieser Tragödie besonders schmerzhaft berührt. Der belorussische Schriftsteller Vasil Bykau hat das Thema in einer eindrücklichen Novelle mit dem Titel Die Treibjagd dargestellt. Ich erwähnte bereits meine erste Novelle – Aug in Auge –, die damit zu tun hat. Das war unsere Lektion, die wir nicht verschweigen dürfen, sondern erzählen müssen, welchen Preis der Mensch für diese furchtbare Tragödie zu bezahlen hatte.
Eine furchtbar traurige Geschichte, die die ganze Grausamkeit und Unmenschlichkeit totalitärer Ideologie zeigt.
Letzten Endes zählen der gesunde Menschenverstand und das von ihm geleitete sittliche Empfinden. Um welche Philosophie oder Ideologie es sich auch handeln mag, Verletzungen des gesunden Menschenverstands dürfen nie zugelassen werden. Der Philosoph ist dazu berufen, den gesunden Menschenverstand – die geistige Basis für Gesellschaft und Volk – zu kultivieren.
Auch unser Land hat, wohl nicht in dem Ausmaß wie in der UdSSR, eine Periode durchgemacht, als der Zyklop einseitiger und unduldsamer Ideologie, vor allem auf dem Gebiet der Presse und des Erziehungswesens, wütete. Selbst unter solchen Bedingungen hört aber der gesunde Menschenverstand nicht auf zu existieren. Menschen, die ihr Gewissen bewahrten, beackerten unauffällig, aber beharrlich das Feld des gesunden Menschenverstands. Solange einer Mensch bleibt, werden alle fanatischen Ideologien an ihm abprallen und früher oder später ihr wahres Wesen offenbaren.
Zu meinem Glück begegnete ich in früher Kindheit Menschen, die den Ideen des Totalitarismus innerlich trotzten. Sie beschenkten mich mit ihrem Mut, lehrten mich, trotz alledem stets Mensch zu bleiben und die Würde des Menschen über alles zu achten.
Nie vergesse ich den Dorfschullehrer, der einmal die strengen Worte an mich richtete: »Blicke niemals zu Boden, wenn der Name deines Vaters fällt!« Torekul Aitmatow, mein Vater, war der Repression zum Opfer gefallen. Er wurde 1937 hingerichtet, danach musste sich unsere Familie in einem abgeschiedenen Ail verstecken.
Man kann sich heute einen Menschen wie diesen Lehrer kaum vorstellen: Nur schon daran zu denken, war unheimlich, aber er brach sogar das Schweigen, um mir zu sagen, ich könne auf meinen Vater stolz sein. Jetzt verstehe ich den Sinn seiner Worte, damals habe ich ihn nur verspürt.
Die Lehre ist mir unvergesslich. Es gab auch andere Beispiele der Unerschrockenheit. Meist ohne Worte. Die Weisheit des kleinen Mannes, durch seine Arbeit und Person, ohne zu ahnen, dass er ein Vorbild abgibt.
Ich hatte also meine »Lehrmeister des Lebens«. Integre, ja heilige Menschen meiner Heimat, vor denen ich mich verneige! Sie sind mir bis heute ein geistiger Halt. Man kann und darf nie vergessen, woher man stammt und was man den Menschen, die einen lieb hatten, verdankt, gerade dann nicht, wenn man Augenblicke des Glückes, des Erfolgs und, verzeihen Sie, auch des Ruhmes erlebt.
Viele Angehörige meiner Generation haben am eigenen Leib verspürt, wie unwahrscheinlich schwierig und qualvoll es war, zur echten Kultur und zum geistigen Ursprung des Guten zu finden. Ein schreckliches Gift war in unseren Kreislauf eingedrungen. Hätten wir auf unserem Weg keine solchen »Lehrmeister des Lebens« gehabt, wäre es wohl unmöglich gewesen, sich davon zu befreien. Ich persönlich konnte darauf mein ganzes Leben bauen und bin glücklich, dass ich immer wieder Menschen begegnete, die mir zu leben halfen. Viele meiner Altersgenossen haben ja nicht aus den ideologischen Schatten der Stalin-Ära heraustreten können und klammern sich hartnäckig an überlebte Dogmen.
Meinerseits möchte ich nach Kräften den jungen Menschen von heute helfen, in unserer komplizierten und widersprüchlichen Welt einen richtigen Weg zu finden. Sogar durch meine Fehler. War es nicht Bismarck, der gesagt hat, die Dummen lernen aus eigenen, die Klugen aus fremden Fehlern?
Meinem Lehrer Toda begegnete ich im Alter von neunzehn Jahren zum ersten Mal und stellte ihm drei Fragen: »Was heißt für den Menschen, richtig zu leben? Was ist ein echter Patriot? Was halten Sie vom Kaiser?« Diese Fragen gaben die für einen jungen Menschen unvermeidlichen Zweifel wieder, dessen Jugend von Militarismus und Faschismus zertreten wurde. Aber denkt man genauer nach, ergibt sich schon aus der ersten Frage das schwierigste Problem in der Menschheitsgeschichte. Meine Fragen waren intuitiv gestellt. Noch heute erinnere ich mich deutlich an die Worte des verehrten Lehrers, der ohne Zögern erwiderte: »Das ist eine schwierige Frage.« Was er konkret ausführte, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe noch sein Lächeln vor mir und erinnere mich, dass er seine frei fließende Rede gerne mit Scherzen ausstattete, keine komplizierten philosophischen Begriffe verwendete und nie in den Ton des Moralisierens fiel … Dieser Mensch konnte mit einfachen, jedermann verständlichen Wörtern der Umgangssprache die profundeste Philosophie ausdrücken und dabei den Zuhörer mit unerschütterlicher Überzeugungskraft bestärken. Dem war kaum zu widerstehen, und ich habe damals intuitiv gespürt, dass man diesem Menschen folgen kann. Was ich empfunden habe, wurde in den folgenden Jahren, als ich meinen Lebensweg an der Seite dieses Lehrers...